8. Januar 2014
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EuGH: Rechtsprechung des BGH zur negativen Feststellungsklage in CMR-Fällen obsolet

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat kurz vor Weihnachten eine interessante Entscheidung zur Auslegung der EuGVO verkündet. Diese befasst sich mit dem Verhältnis von EuGVO und internationalen Übereinkommen, insbesondere der CMR. Der EuGH erteilt einer etablierten Rechtsprechung des BGH eine Absage und versetzt der (deutschen) Regressbranche im Bereich Transportschäden einen herben Schlag („NIPPONKOA Insurance″, Rs. C-452/12, Urteil vom 19. Dezember 2013).

In der Sache geht es um Folgendes:

Haftung von Frachtführern nach CMR

Die Haftung von Frachtführern ist in der Regel gesetzlich auf bestimmte Höchstbeträge beschränkt. Für internationale Lkw-Transporte (in Europa) sind die entsprechenden Regelungen in einem internationalen Übereinkommen (CMR) kodifiziert, das in seiner Ursprungsfassung bereits aus dem Jahr 1956 stammt.

Eine Haftung jenseits der festgelegten Höchstbeträge ist in den meisten Sparten des Transportrechts nicht gänzlich ausgeschlossen, aber an sehr strenge Voraussetzungen geknüpft. So setzt Art. 29 CMR voraus, dass der Frachtführer oder ein Erfüllungsgehilfe den „Schaden vorsätzlich oder durch ein ihm zur Last fallendes Verschulden verursacht hat, das nach dem Recht des angerufenen Gerichtes dem Vorsatz gleichsteht″.

Nach deutschem Recht liegt ein dem Vorsatz gleichstehendes Verschulden vor, wenn der Schaden leichtfertig und in dem Bewusstsein verursacht wurde, dass ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten werde (vgl. § 435 HGB). Diese Formulierung ist keine Besonderheit deutschen Rechts, sondern findet sich in diversen transportrechtlichen Übereinkommen.

International uneinheitliche Rechtsprechung

Die internationale Harmonisierung der Frachtführerhaftung wurde trotz CMR bisher nur in eingeschränktem Umfang erreicht. Grund hierfür ist das international sehr uneinheitliche „Richterrecht″: In einigen Staaten (etwa Vereinigtes Königreich, Niederlande, Polen) tendieren die Gerichte dazu, die strengen gesetzlichen Voraussetzungen für eine unbeschränkte Haftung ernst zu nehmen. Folglich werden  dort Transportschäden im Anwendungsbereich der CMR meist auf Basis der pauschalierten und der Höhe nach beschränkten CMR-Haftung abgewickelt.

Offenbar wird in diesen Jurisdiktionen der gesamtwirtschaftliche Vorteil gesehen, der mit klaren Haftungslimits einhergeht. Die Transportversicherer können die beschränkten Regressmöglichkeiten bei der Risikobewertung und Prämienfindung berücksichtigen, Regressstreitigkeiten und die daraus resultierenden Kosten werden minimiert.

Andere Jurisdiktionen, allen voran Deutschland, gehen hier einen anderen Weg. Die Schwelle für Leichtfertigkeit ist im Transportrecht bei uns verhältnismäßig niedrig, das Bewusstsein einer Schädigungswahrscheinlichkeit wird in vielen Konstellationen unterstellt. Zudem hat sich eine umfangreiche Rechtsprechung zu sekundären Darlegungslasten (und damit Dokumentationspflichten) entwickelt, deren Nichtbeachtung ebenfalls zu unbeschränkter Haftung führt. Erklären lässt sich dies wohl nur mit dem Streben nach einer – tatsächlichen oder gefühlten – Einzelfallgerechtigkeit, das offenbar wenig Raum für übergeordnete wirtschaftliche Erwägungen lässt. Die deutsche Rechtsprechung zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen im B2B-Bereich würde diese These jedenfalls untermauern.

Die Folgen: Anreiz zum forum shopping

Folge dieser Rechtslage ist eine Flut von frachtrechtlichen Regressstreitigkeiten vor deutschen Gerichten. Immer dann, wenn der vom Transportversicherer regulierte Schaden deutlich über den Haftungshöchstgrenzen liegt, muss ein Frachtführer davon ausgehen, dass er auf dem Regressweg auf den vollen Betrag in Anspruch genommen wird. Nur selten ist die Rechtlage auf den ersten Blick eindeutig. Begünstigt wird dies im Anwendungsbereich der CMR durch mehrere gesetzliche Wahlgerichtsstände (Art. 31 Abs. 1 CMR), die sich vertraglich nicht ausschließen lassen.

Eine weitere Folge der fehlenden Harmonisierung ist das Bemühen zahlreicher Frachtführer, der oben skizzierten deutschen Rechtsprechung zu entkommen: Sie erheben nach einem Schadensfall einfach negative Feststellungsklage in einem Staat, in dem strengere Voraussetzungen für eine unbeschränkte Haftung bestehen. Aufgrund der nicht abdingbaren Gerichtsstände in Art. 31 Abs. 1 CMR findet sich häufig ein geeignetes Forum.

Schutz eines deutschen Regressgerichtsstands durch den BGH

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat den Geltungsbereich seiner einzelfallorientierten, äußerst klägerfreundlichen Rechtsprechung im Bereich der CMR bisher verteidigt. Grundlage hierfür waren die Regelungen zum internationalen Zivilverfahrensrecht in Art. 31 Abs. 2 CMR, wo die Folgen der Rechtshängigkeit und der Anerkennung ausländischer Entscheidungen für den Bereich der CMR geregelt sind.

Eine Leistungsklage in Deutschland und eine ausländische negative Feststellungsklage sollen danach nicht dieselbe Sache betreffen. Daher konnte in Deutschland auch dann Regressklage erhoben werden, wenn der Frachtführer zuvor im Ausland negative Feststellungsklage wegen desselben Schadens erhoben hatte (vgl. BGH, I ZR 294/02, Urteil vom 20. November 2003, BGHZ 157, 66 ff.).

EuGH schneidet deutschen Sonderweg ab

Dem LG Krefeld gelang es, diese Frage vor den EuGH zu bringen, der eigentlich für die Auslegung der CMR nicht zuständig ist (Beschluss vom 10. September 2012, TranspR 2013, 118 ff.). Es fragte nicht nach der richtigen Auslegung von Art. 31 CMR, sondern nach der Auslegung von Art. 71 EuGVO.  Dieser befasst sich unter anderem mit dem Verhältnis der EuGVO zu früheren Übereinkommen der Mitgliedsstaaten, die die Anerkennung oder die Vollstreckung von Entscheidungen regeln. Hierzu hatte der EuGH sich bereits grundlegend geäußert in Sachen „TNT Express Nederland″ (Rs. C-533/08, Urteil vom 4. Mai 2010).

Auf die Vorlage des LG Krefeld hin hat der EuGH nun entschieden, dass die Auslegung des BGH, wonach Leistungsklage in Deutschland und ausländische negative Feststellungsklage nicht dieselbe Sache im Sinne von Art. 31 Abs. 2 CMR betreffen, im Widerspruch zu Art. 71 EuGVO steht.

Mithin ist eine europarechtskonforme Auslegung von Art. 31 Abs. 2 CMR dahingehend geboten, dass die spätere Leistungsklage dieselbe Sache betrifft, wie die frühere negative Feststellungsklage, so dass eine spätere Leistungsklage in der Regel unzulässig sein wird („NIPPONKOA Insurance″, Rs. C-452/12, Urteil vom 19. Dezember 2013).

Folgen der Entscheidung für die Praxis

Damit dürfte die bisherige Rechtsprechung des BGH zu Art. 31 Abs. 2 CMR obsolet sein, zumindest in Fällen, in denen die negative Feststellungsklage in einem Staat anhängig ist, in dem die EuGVO Anwendung findet. Für Verfahren in Drittstaaten dürfte die Entscheidung des EuGH nicht verbindlich sein. Unklar ist dies für Staaten, die dem Lugano-Übereinkommen (LugÜ) angehören, weil Art. 71 EuGVO und Art. 71 LugÜ nicht identisch sind.

Allerdings wäre zu hoffen, dass sich aus dieser beschränkten Bindungswirkung keine uneinheitliche Rechtsprechung in Deutschland entwickeln wird, sondern dass die bisher zu Art. 31 Abs. 2 CMR vertretene Auffassung insgesamt aufgegeben wird.

Man mag – gerade auch aus Sicht der betroffenen Versicherer – bedauern, dass auch diese neue Rechtsprechung die Zahl der Regressstreitigkeiten kaum reduzieren, sondern eher den Wettlauf beim forum shopping intensivieren dürfte. In diesem Punkt würden sich die Dinge wohl erst dann ändern, wenn sich die Rechtsprechung zu Art. 29 CMR international angleichen würde.

Tags: BGH CMR EuGH EuGVO Frachtführerhaftung Haftungslimit negative Feststellungsklage Prozessrecht Regressstreitigkeit Transportschäden unbeschränkte Haftung