9. August 2023
Verschuldenshaftung Kaufrecht
Commercial

BGH: weitgehende Abkehr vom Grundsatz der Verschuldenshaftung im Kaufrecht 

Der VIII. Zivilsenat vertritt ein sehr weites Verständnis des Begriffs „Ein- und Ausbaukosten“ i. S. v. § 439 Abs. 3 BGB.

Seit 2018 sieht § 439 Abs. 3 BGB einen (verschuldensunabhängigen) Ersatzanspruch für 

Aufwendungen für das Entfernen der mangelhaften und den Einbau oder das Anbringen der nachgebesserten oder gelieferten mangelfreien Sache

vor. Dieser Anspruch besteht, wenn der Käufer die mangelhafte Kaufsache gemäß ihrer Art und ihrem Verwendungszweck in eine andere Sache „eingebaut“ oder an eine andere Sache „angebracht“ hatte.

In einer neuen Entscheidung vom 21. Juni 2023 (Az. VIII ZR 105/22) zu einem Handelsgeschäft vertritt der VIII. Zivilsenat die Auffassung, diese Regelung habe einen sehr weiten Anwendungsbereich, losgelöst vom alltäglichen Verständnis der Begriffe „Einbauen“ und „Anbringen“. Über den Umweg des § 439 Abs. 3 BGB schafft der BGH damit eine verschuldensunabhängige Haftung des Verkäufers weit über die vom Wortlaut der Regelung augenscheinlich erfassten Fälle hinaus.

Lieferung von Stahlrohren für Sektionsbau

Der Käufer stellt Rohrleitungssektionen für Kreuzfahrtschiffe her. Diese Sektionen werden nach Fertigstellung im Betrieb des Käufers an die Werft geliefert und dort in Schiffe eingebaut. Der Verkäufer lieferte Stahlrohre, die er von einem indischen Vorlieferanten bezogen hatte. 

Aus diesen Stahlrohren und weiteren Teilen fertigte der Käufer eine Rohrleitungssektion. Nach deren Fertigstellung – aber vor Einbau an Bord des Schiffs – wurden Materialfehler an den Rohren festgestellt. 

Der Verkäufer lieferte mangelfrei Rohre nach. Der Käufer demontierte die von ihm gefertigte Rohrleitungssektion, arbeitete die weiteren Teile (Fittinge und Stutzen) auf, und montierte die Sektion erneut mit den nachgelieferten Rohren und den aufbereiteten Teilen. 

Vom Verkäufer verlangte der Käufer Ersatz für diesen Aufwand. Der Anspruch war weit höher als der für die Rohre gezahlte Kaufpreis.

Mangels Verschulden kein Schadensersatzanspruch

Alle Instanzen versagten dem Käufer einen Schadensersatzanspruch aus § 437 Nr. 3 BGB in Verbindung mit § 280 Abs. 1 BGB

Ein Verschulden des Verkäufers lag nicht vor. Dieser hatte die Mängel nach Lieferung durch seinen Vorlieferanten nicht erkannt (so wie auch der Käufer nach Lieferung an ihn). Der indische Vorlieferant des Verkäufers war diesem nicht als Erfüllungsgehilfe zuzurechnen.

OLG Köln: Wortlaut des § 439 Abs. 3 BGB rechtfertigt keinen Ersatz von Aus- und Einbaukosten im Vorbereitungsstadium

Das Berufungsgericht (OLG Köln, Az. 15 U 82/21) hatte entschieden, dass der Aufwand des Käufers für Demontage, Aufbereitung und erneute Montage nicht nach § 439 Abs. 3 BGB zu ersetzen sei. Denn nach seinem Wortlaut verlangt dieser Tatbestand, dass die mangelhafte Sache

in eine andere Sache eingebaut oder an eine andere Sache angebracht

wurde. Das war vorliegend nicht der Fall: Der Käufer hatte aus den Kaufsachen eine neue Sache (die Rohrleitungssektion) gefertigt.

BGH: Sinn und Zweck des § 439 Abs. 3 BGB rechtfertigt Schadensersatzanspruch, wenn Mangel im Vorfertigungsprozess bekannt wird

Der BGH sprach dem Käufer hingegen einen Anspruch aus § 439 Abs. 3 BGB zu. 

Die Vorfertigung der Rohrleitungssektion sei als ein Bestandteil des Einbauvorgangs in das Schiff anzusehen, auch wenn die Sektion dort noch nicht eingebaut worden war.

Der BGH meint, der Gesetzeszweck fordere die weite Auslegung des Tatbestands über den natürlichen Sprachgebrauch hinaus. § 439 Abs. 3 BGB bezwecke eine Entlastung des Werkunternehmers. Mit diesem Zweck sei es nicht zu vereinbaren, einen Ersatzanspruch zu versagen, wenn die Kaufsache entsprechend ihrer Art und ihrem Verwendungszweck in eine andere Sache eingebaut werden solle, der Mangel jedoch bereits im Rahmen eines Vorfertigungsprozesses vor Abschluss der Endfertigung offenbar werde. 

Anwendungsbereich des Erstattungsanspruchs

Der Senat lässt offen, ob er den Anwendungsbereich der Regelung so verstehen will, wie im Referentenentwurf für den „Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bauvertragsrechts und zur Änderung der kaufrechtlichen Mängelhaftung″ ausdrücklich formuliert: Sie wäre dann immer anwendbar, wenn der Käufer die mangelhafte Sache gemäß ihrer Art und ihrem Verwendungszweck verändert hat. Die Begründung der Entscheidung deutet an, dass mit einer solchen Auslegung zu rechnen ist.  

Eine ausdrückliche Grenze zieht die Entscheidung nur zur untrennbaren Vermengung und Vermischung. Jedenfalls in diesen Fällen ist § 439 Abs. 3 BGB nicht anwendbar. 

Die Begründung nimmt auch Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH zur alten Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (1999/44/EG), obwohl es sich beim Streitfall um ein Handelsgeschäft handelte. Grundlage der EuGH-Rechtsprechung war die Regelung in Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie, wonach einem Verbraucher aufgrund der Nacherfüllung keine erheblichen Unannehmlichkeiten entstehen dürfen. Würde man diese Formulierung als maßgeblich für die Auslegung des § 439 Abs. 3 BGB auch in B2B-Fällen betrachten, könnte aus der gesetzlichen Regelung zum Ersatz von Aus- und Einbaukosten ein nahezu uferloser verschuldensunabhängiger Schadensersatzanspruch werden.

Historie der Regelung zu „Ein- und Ausbaukosten“

Zusammen mit der 2002 in Kraft getretenen Reform des Kaufrechts setzte der deutsche Gesetzgeber auch die alte Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (1999/44/EG) um. Das BGB regelte keinen verschuldensunabhängigen Ersatzanspruch für Aus- und Einbaukosten.

Etwa 10 Jahre später entschied der BGH aufgrund einer Auslegung der Richtlinie durch den EuGH (Sachen C-65/09 u. C-87/09), dass es (nur) beim Verbrauchsgüterkauf infolge richtlinienkonformer Auslegung einen solchen Ersatzanspruch unabhängig von einem Verschulden gebe, was aber nicht auf B2B-Fälle übertragbar sei (gespaltene bzw. hybride Auslegung).

Ab 2018 galt die neue gesetzliche Regelung in § 439 Abs. 3 BGB, seit dem Jahr 2022 in modifizierter Fassung, wobei diese Änderungen nicht erheblich für die hier erörterten Rechtsfragen sein dürften. Der Gesetzgeber regelte den Ersatzanspruch für Aus- und Einbaukosten bewusst im allgemeinen Kaufrecht, nicht als Sonderbestimmung für den Verbrauchsgüterkauf.

Neue Rechtsprechung belastet vor allem Zwischenhändler

Die Begründung des Urteils unterstellt, dass § 439 Abs. 3 BGB jedenfalls dann anwendbar gewesen wäre, wenn die Rohrleitungssektion bereits in das Schiff eingebaut worden wäre. Der BGH meint, der Einbau einer aus der Kaufsache hergestellten neuen Sache sei dasselbe, wie der Einbau der Kaufsache selbst. Ausgehend von diesem sehr weiten Verständnis des Anwendungsbereichs bezeichnet der BGH eine am üblichen Sprachgebrauch orientierte Auslegung als „einschränkend“. Durch diesen Trick kehrt der Senat die Begründungslast um: Eine engere – am üblichen Sprachgebrauch orientierte – Auslegung wäre zu rechtfertigen, nicht etwa die Auslegung des Senats.

Legitimiert werden soll das durch die rechtspolitische Zielsetzung des historischen Gesetzgebers (Schutz von Handwerkern). Dieses abstrakte rechtspolitische Ziel sticht nach Meinung des Senats auch die Gesetzgebungshistorie aus: Denn dem Vorschlag des Referentenentwurfs, die Regelung auf alle Fälle zu erstrecken, in denen der Käufer die Kaufsache verändere, folgte der Gesetzgeber gerade nicht.

Für angemessen hält der Senat diese Auslegung, weil der Gesetzgeber Regressvorschriften in der Lieferkette geschaffen habe, die den Verkäufer schützen. Bei dieser theoretischen Erwägung belässt es der Senat. Die im konkreten Streitfall naheliegende Frage, wie realistisch es ist, derartige Ansprüche bei einem indischen Vorlieferanten durchzusetzen, stellt das Urteil nicht.

Was im theoretischen Gedankengebäude der Urteilsbegründung als gerechter Weg erscheinen mag, um finanzielle Lasten auf den Verursacher des Mangels zu verlagern, dürfte in der Praxis oft zu einer unbilligen und zufälligen finanziellen Belastung von Händlern führen. 

Diese (beschränkte) Produkthaftung des Händlers hat im Zweifel zur Folge, dass Unternehmen auf allen Handelsstufen eine erweiterte Produkthaftpflichtdeckung vorhalten müssen, die auch Ansprüche aus § 439 Abs. 3 BGB einbezieht. Mittelbar zahlt dafür wohl der Käufer, der doch vermeintlich privilegiert werden soll. 

Hinweise aus der Rechtspraxis

Im Rechtsverkehr zwischen Unternehmern könnte man erwarten, dass ein Käufer, dem es (abweichend von bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen) auf eine verschuldensunabhängige Haftung für Schäden infolge von Mängeln ankommt, beispielsweise Beschaffenheitsgarantien verhandelt. Dass eine „Garantie“ die Haftung verschärft, wissen die meisten Kaufleute auch ohne einen Rechtsberater an ihrer Seite. 

Da der deutsche Gesetzgeber und das höchste deutsche Zivilgericht erkennbar wenig Vertrauen in die Parteiautonomie haben, sind Vertragsparteien, die nach deutschem Recht kontrahieren, gezwungen, nicht nur das zu regeln, was kommerziell gelten soll. Vielmehr müssen sie auch wohlmeinenden staatlichen Eingriffen in die Vertragsbeziehung, die nicht ihrem kommerziellen Verständnis entsprechen, vorausbeugend entgegenwirken. Als Rechtsberater mag man dankbar sein für derartige Entwicklungen, Werbung für das deutsche Recht sind sie eher nicht.

Verkäufer, die üblicherweise Vereinbarungen zur Beschränkung ihrer Haftung verhandeln und vereinbaren, sollten darauf achten, in den entsprechenden Vertragspassagen ausdrücklich zu erwähnen, dass diese auch für etwaige Ansprüche aus § 439 Abs. 3 BGB gelten. Das gilt in besonderem Maße für Unternehmen, die mit Materialien oder Komponenten handeln, aus denen mit hohem Aufwand neue Sachen hergestellt werden. Gerade in solchen Fällen kann die finanzielle Belastung auf Basis der Rechtsprechung des BGH auch ohne jedes Verschulden exorbitant sein.

Es ist zweifelhaft, ob es ausreicht, eine solche Beschränkung in allgemeine Geschäftsbedingungen aufzunehmen. Da kommerziell sachgerechte Haftungsbeschränkungen nach deutschem Recht ohnehin nicht durch Vertragsmuster umgesetzt werden können, kommt es in der Praxis vor allem darauf an, die Erwähnung von § 439 Abs. 3 BGB oder zumindest von „Ersatzansprüchen“ bei den Verhandlungen über die „Haftungsklausel“ nicht zu vergessen. Darauf, dass eine Beschränkung der „Haftung“ vor Gericht so ausgelegt wird, dass sie diese Ansprüche umfasst, sollte man sich besser nicht verlassen.  

Tags: Commercial Kaufrecht Verschuldenshaftung