Der Vorstand kann Hauptversammlungen nicht mehr absagen, die er auf Verlangen einer Minderheit einberufen hat, wenn die Hauptversammlung begonnen hat.
Mit Urteil vom 30. Juni 2015 (Az. II ZR 142/14) hat der BGH entschieden, dass der Vorstand eine auf Verlangen einer Minderheit einberufene, außerordentliche Hauptversammlung nur bis zu deren Beginn absagen kann.
Eine solche Hauptversammlung nach Eröffnung abzusagen ist damit unzulässig. Dies führt zwar nicht zur Nichtigkeit der auf der gleichwohl abgehaltenen Hauptversammlung gefassten Beschlüsse. Sie begründet aber ein Anfechtungsrecht, wenn infolge der Absage diverse Aktionäre im Vertrauen auf die (unzulässige) Absage die Hauptversammlung verlassen haben.
Dieses Anfechtungsrecht steht auch dem Vorstand als „Hüter der Rechte der Aktionäre″ zu, und zwar selbst dann, wenn er den Anfechtungsgrund durch die unzulässige und pflichtwidrige Absage selbst verursacht hat.
Einberufung einer außerordentlichen Hauptversammlung
Die Hauptversammlung ist das wesentliche Forum für Aktionäre, um ihre Rechte auszuüben. Insbesondere Minderheitsaktionäre können praktisch nur hier Informationen verlangen, Aufsichtsratsmitglieder abberufen und neu wählen, den Organen ihr Vertrauen aussprechen oder entziehen, die Untersuchung möglicher Pflichtverletzungen der Organe verlangen und die Gesellschaft anhalten, Schadensersatzansprüche gegen die Organe geltend zu machen.
Aus diesem Grund räumt § 122 AktG den Aktionären das Recht ein, unter bestimmten Umständen vom Vorstand die Einberufung einer außerordentlichen Hauptversammlung zu verlangen. Bei Vorständen stoßen solche Einberufungsverlangen verständlicherweise auf wenig Gegenliebe, stehen sie doch in aller Regel selbst – zu Recht oder zu Unrecht – im Zentrum der Kritik. Eine Politik des Aussitzens hilft jedoch nicht weiter, da die Minderheitsaktionäre sich in diesen Fällen vom Gericht ermächtigen lassen können, die Hauptversammlung selbst einzuberufen. Um dies zu vermeiden, versuchen Vorstände bisweilen, mithilfe „kreativer Lösungen″ die Abhaltung solcher Hauptversammlungen zu verhindern.
Hauptversammlung wurde nach Begrüßung durch Vorstand abgesagt
In dem Fall vor dem BGH hatten verschiedene Minderheitsaktionäre der betroffenen Gesellschaft (eine KGaA) die Einberufung einer außerordentlichen Hauptversammlung verlangt. In dieser sollte das volle Arsenal der Minderheitenrechte gelten gemacht werden, insbesondere eine Neubesetzung des Aufsichtsrats, der Vertrauensentzug des Vorstands, die Einleitung einer Sonderprüfung und die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen die Organmitglieder.
Der Vorstand – bzw. die Geschäftsführung der persönlich haftenden Gesellschafterin – war dem Einberufungsverlangen zunächst nachgekommen, worauf sich am Tag der Hauptversammlung zahlreiche (Kommandit-) Aktionäre eingefunden hatten. Zu deren Überraschung erklärte der Vorstand jedoch nach der Begrüßung der Teilnehmer – und offenbar ohne nähere Begründung – dass er beschlossen habe, die Hauptversammlung abzusagen.
Als der Vorstand anfing, das Equipment abzubauen, verließen diverse Aktionäre die Versammlung. Andere Aktionäre wollten sich diesem eher ungewöhnlichen Vorgehen nicht beugen. Sie wählten aus ihren Reihen kurzerhand einen anderen Versammlungsleiter, hielten die Hauptversammlung ab und fassten die gewünschten Beschlüsse. In der Folgezeit hat der Vorstand die Beschlüsse mit der Begründung angegriffen, dass diese aufgrund der Absage der Hauptversammlung nicht wirksam gefasst worden seien.
Abberufung durch das Einberufungsorgan grundsätzlich möglich
Im Ausgangspunkt teilt der BGH die Auffassung, dass der Vorstand eine von ihm einberufene Hauptversammlung auch wieder absagen kann. Das gilt auch dann, wenn die Einberufung auf Verlangen einer Minderheit erfolgt ist.
In zeitlicher Hinsicht ist das Absagerecht jedoch nicht unbegrenzt. Zwar hat sich der BGH (leider) nicht auf die Festlegung eines konkreten Zeitpunkts eingelassen. Die Absage durch den Vorstand ist aber jedenfalls nicht mehr möglich, wenn sich – wie im entschiedenen Fall – die Aktionäre zu der Einberufungszeit am angegeben Ort und nach Durchlaufen der Einlasskontrollen eingefunden haben.
Hier wäre für eine wirksame Absage ein Vertagungsbeschluss der Hauptversammlung erforderlich gewesen. Damit war die Absage der Hauptversammlung unwirksam. Die Tatsache, dass der Vorstand und einige Aktionäre – Letztere im Vertrauen auf die Wirksamkeit der Absage – daraufhin die Veranstaltung verlassen haben, führt auch nicht zur Nichtigkeit der gefassten Beschlüsse.
Anfechtbarkeit der gefassten Beschlüsse bei unwirksamer Absage
Zu Recht betont der BGH aber, dass der Vorstand mit der kurzfristigen Absage das Teilnahmerecht der Aktionäre verletzt hat, die im Vertrauen auf die Wirksamkeit der Absage die Versammlung verlassen haben. Dieser Verstoß war auch relevant, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Versammlung im Beisein dieser Aktionäre einen anderen Verlauf genommen hätte und die Abstimmungen anders ausgefallen wären.
Zu Recht hat der BGH deshalb die gefassten Beschlüsse für anfechtbar erklärt. Dass die Verletzung des Teilnahmerechts gerade vom Vorstand geltend gemacht wurde, der diese Rechtsverletzungen durch die Spontanabsage überhaupt erst herbeigeführt hat, stellt nach Ansicht des BGH keinen unzulässigen Rechtsmissbrauch dar.
Das mag in der hiesigen Konstellation zwar irritierend wirken, folgt aber der Logik des Gesetzes. Das Anfechtungsrecht des Vorstands folgt daraus, dass der Vorstand für die Rechtmäßigkeit des Handelns der Gesellschaft verantwortlich ist. Das umfasst auch die Einhaltung der Rechte der Aktionäre, hier insbesondere derjenigen, welche die Versammlung aufgrund der Absage verlassen hatten. Deshalb kann der Vorstand – im Interesse der Minderheitsaktionäre – sein Anfechtungsrecht grundsätzlich auch dann ausüben, wenn er den Anfechtungsgrund selbst verursacht hat.
Konsequenterweise gelangt der BGH somit zu dem Ergebnis, dass die von den (Minderheits-)Aktionären gefassten Beschlüsse anfechtbar sind.
Konsequenz: Hauptversammlung nicht ohne triftigen Grund absagen
Die „Freude″ des Vorstands über die Verhinderung der Beschlüsse dürfte gleichwohl nur von kurzer Dauer sein. Was die angefochtenen Beschlüsse angeht können sich die Aktionäre gerichtlich selbst zur Einberufung ermächtigen lassen.
Vorsorglich betont der BGH gleich mit, dass auch eine (erneute) Einberufung durch den Vorstand das Rechtsschutzbedürfnis für einen solchen Antrag nicht entfallen lassen dürfte; jedenfalls, wenn wieder eine kurzfristige Absage zu befürchten steht. Zudem dürfte die kurzfristige Absage ohne nennenswerten Grund auch persönliche Konsequenzen für die Vorstandsmitglieder haben. Die grundlose Absage einer Hauptversammlung ist nämlich – selbst wenn sie wirksam ist – pflichtwidrig. Der Vorstand macht sich deshalb gegenüber der Gesellschaft schadensersatzpflichtig. Daneben kann die grundlose Absage Grundlage eines Vertrauensentzuges durch die Hauptversammlung sein und – in schwerwiegenden Fällen – die Abberufung als Vorstandsmitglied und schlimmstenfalls die Kündigung des Anstellungsvertrages rechtfertigen.
Vorstände sollten sich daher – auch bei unberechtigter Kritik von Seiten der Minderheitsaktionäre – nicht zu dem Versuch hinreißen lassen, deren Rechte durch „juristische Kunstgriffe″ auszuhebeln.