Was bedeutet der Brexit für die britische Automobilindustrie? Welche Chancen und Risiken birgt der Austritt aus der EU? Erfahren Sie hier mehr.
Am Mittwoch dem 29. März 2017 hat die britische Regierung die lang angekündigte Austrittsmitteilung nach Art. 50 EUV abgegeben. Damit wird das Vereinigte Königreich die EU spätestens Ende März 2019 verlassen. Die Verhandlungen über die Bedingungen des Austritts zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich müssen allerdings aufgrund der in Art. 50 EUV festgelegten Zweijahres-Frist bereits im Spätsommer 2018 abgeschlossen sein. Nur so kann die Ratifizierung dieser Vereinbarungen jedenfalls durch das europäische und das britische Parlament innerhalb dieser Frist ermöglicht werden.
Das Ergebnis dieser Verhandlungen ist offen. Im besten Fall können sich die Parteien auf eine Rahmenvereinbarung einigen, die die Eckpunkte des zukünftigen Verhältnisses festlegt. Auch sollen bis zu einer detaillierten Ausarbeitung einige Übergangsregelungen festlegt werden.
Im schlechtesten Fall können sich die Parteien bis März 2019 nicht einigen. Dann kommt dem Vereinigten Königreich nur noch der Status eines Drittstaates im Verhältnis zur EU zu und die WTO-Regelungen finden Anwendung. Tatsächlich wird diese Option von einigen konservativen Brexit-Unterstützern befürwortet. Nach Meinung einiger Kommentatoren liegt die Chance, dass es zu einem solchen „harten Brexit″ kommt, sogar bei 50 %.
Brexit wird großen Einfluss auf die britische und europäische Automobilindustrie haben
Der Brexit wird auf die Situation der Erstausrüster (OEMs) und Hersteller, die für den britischen Markt produzieren oder dorthin liefern, großen Einfluss haben. Das Vereinigte Königreich ist nach Deutschland der zweitgrößte Automobilmarkt in der EU. Daneben ist es mit 1,5 Millionen hergestellten Fahrzeugen pro Jahr auch der drittgrößte Automobilproduzent der EU. Bis 2020 soll diese Zahl sich nach Angaben der britischen Society of Motor Manufacturers and Traders sogar auf 2 Millionen erhöhen. Ob das möglich ist? Lassen Sie uns die Stärken, Schwächen, Möglichkeiten und Risiken kurz analysieren:
Erfolgsgeschichte der britischen Automobilindustrie
Das Wiedererstarken der britischen Automobilindustrie seit den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts war eine große industrielle Erfolgsgeschichte im Vereinigten Königreich. Mehr als 30 Hersteller bauen mit der Unterstützung von über 2.000 Automobilzulieferern heutzutage mehr als 70 Fahrzeugmodelle. 170.000 Mitarbeiter sind direkt in der Herstellung sowie 800.000 indirekt, also in angrenzenden Bereichen, beschäftigt.
Von den jährlich ca. 1,5 Millionen Fahrzeugen werden nach Angaben der Society of Motor Manufacturers and Traders 80 % exportiert (ca. 12 % des britischen Gesamtexports), davon ca. 50 % in die EU. Andere wichtige Märkte sind die USA, China, Türkei, Australien und Russland. Aber auch hoch spezialisiertes Wissen ist im Vereinigten Königreich angesiedelt. So findet man hier große Forschungszentren, die sich unter anderem auch mit Formel-1-Rennwagen beschäftigen und diese herstellen.
Schwachpunkte Fremdproduktion
Bei all den Stärken der britischen Autoindustrie lassen sich auch einige Schwachpunkte nicht verhehlen. So werden durchschnittlich nur ca. 41 % der Teilkomponenten im eigenen Land hergestellt; bei einigen OEMs beträgt der Anteil nur 20 %. Durch die Abhängigkeit des britischen Autoexportmarktes von der EU ist dieser, insbesondere aufgrund der zu erwartenden Veränderungen bei den Import-/Exportregelungen im Zuge des Brexits, durchaus anfällig.
Auch der Mangel an geeigneten Mitarbeitern könnte durchaus ein Thema werden: In der britischen Automobilindustrie sind aktuell ca. 5.000 Stellen unbesetzt. Um die angepeilte Steigerung von 1,5 auf 2 Millionen produzierte Fahrzeuge jährlich zu erreichen, wären insgesamt ca. 50.000 zusätzliche Mitarbeiter nötig. Einwanderungsbeschränkungen durch den Brexit würden diesen Arbeitskräftemangel wahrscheinlich verstärken.
Chancen aus Sicht der Brexit-Befürworter
Demgegenüber könnte der Ausgang des Referendums aber auch Chancen eröffnen. So hat das britische Pfund seit dem Referendum im Juni 2016 ca. 13 % an Wert verloren. Aktuell sieht es auch nicht so aus, als würde es sich in absehbarer Zeit wieder erholen. Das wird allerdings die im Vereinigten Königreich (günstiger) produzierten Produkte nicht nur in der EU, sondern auch weltweit wieder wettbewerbsfähiger machen. Obwohl die Aussicht für den Sterling auch weiterhin eher negativ ist, bedeutet dies aber nicht, dass es dauerhaft einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Euro oder Dollar hat.
Daneben sehen einige Brexit-Befürworter Möglichkeiten für das Vereinigte Königreich, vorteilhafte Handelsabkommen mit Staaten wie den USA, China und Indien abzuschließen. Das ist allerdings reine Zukunftsmusik und hängt davon ab, wie sich die Verhältnisse mit diesen Ländern gestalten.
Die Verhandlungen dieser Abkommen dürften daneben ebenfalls einige Zeit in Anspruch nehmen. Einige Brexit-Befürworter gehen davon aus, dass die Kombination von Währungsabwertung und Vereinbarungen mit Ländern, mit denen die EU bisher keine Handelsabkommen schließen konnte, die Investition in die Automobilteilindustrie fördern könnte.
Erhebliche Risiken des Brexits für die Automobilindustrie
Die zu erwartenden Entwicklungen rund um den Brexit bergen allerdings auch erhebliche Risiken. So hat sich die britische Automobilindustrie in der Vergangenheit mit der Annahme wieder erholt, dass zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich keine Zollgrenzen bestehen.
Falls nicht anders vereinbart, wird das Vereinigte Königreich ab April 2019 im Verhältnis zur EU den Zollbestimmungen mit all ihren finanziellen und administrativen Herausforderungen unterliegen. Für die Automobilindustrie würde dies einen Zollsatz von 10 % bei Automobilen und 4,5 % bei Automobilteilen bedeuten.
Dies wird Hersteller und Einzelhändler auf beiden Seiten des Kanals betreffen und wahrscheinlich auf beiden Seiten Einfluss auf die Preise und Gewinnmargen haben. Vorausgesetzt, dass weder die Industrie noch der Absatzmarkt bereit sind die zusätzlichen Kosten zu übernehmen.
Auch die bisher unproblematische Zollabfertigung wird in Zukunft mehr Zeit in Anspruch nehmen und die bisherigen schnellen Lieferketten verzögern. Zurzeit haben die britischen Zollbehörden auch gar nicht die notwendigen Ressourcen und die Infrastruktur, um mit dieser massiven Veränderung umzugehen. Auch andere, nicht finanzielle Hürden, wie der EU-Pass für Finanzinstitute oder andere separate Zertifizierungen sind potentielle Bedrohungen für die funktionierende Automobilindustrie.
Veränderung durch Regelungen zur Rules of Origin
Daneben haben die Regelungen zur Rules of Origin, also die Bestimmung, unter welchen Bedingungen ein Produkt einem Erzeugerland zugeordnet werden kann, möglicherweise für die britische Automobilindustrie Veränderungen zur Folge. Üblicherweise werden in Freihandelsabkommen reduzierte oder auch gar keine Zölle für Waren vereinbart, die aus einem der unterzeichnenden Staaten stammen.
Aus welchem Staat ein Produkt stammt, wird meist danach beurteilt, woher 50 – 55 % der Anteile des Produkts stammen. Wie oben dargestellt, bestehen die meisten im Vereinigten Königreich hergestellten Autos aber zu ca. 60 % aus in der EU hergestellten Anteilen. Ohne Änderungen in den bestehenden Lieferbeziehungen wäre das Vereinigte Königreich damit auf signifikante Zugeständnisse ihrer Handelspartner bei der Beurteilung des Herkunftslandes angewiesen. Andernfalls würden die meisten im Vereinigten Königreich gefertigten Autos sich nicht für vereinbarte Zollerleichterungen qualifizieren.
Auch Beschränkungen der jetzt EU-weit garantierten Arbeitnehmerfreizügigkeit würden sich negativ auf die britische Automobilindustrie auswirken. Die Einführung von Arbeitserlaubnissen für EU-Bürger, die im Vereinigten Königreich arbeiten, würde dabei wahrscheinlich das geringste Problem darstellen.
Ein harter Brexit dürfte im Ergebnis kaum zu einem Wachstum der britischen Automobilindustrie führen. Aufgrund dessen bleibt wahrscheinlich auch die erwartete Zahl der zusätzlich notwendigen Mitarbeiter eher unwahrscheinlich. Für hochqualifizierte und hochrangige Mitarbeiter dürften Arbeitserlaubnisse durch einfache Anmeldungen erhältlich sein und maximal zu zeitlichen Unannehmlichkeiten führen.
Das Scheitern rechtzeitiger Einigung würde die Automobilindustrie erschüttern
Die oben dargestellten Zusammenhänge machen deutlich: Die gesamte EU-Automobilindustrie würde sehr davon profitieren, wenn die britische Regierung und die EU sich frühzeitig in den Brexit-Verhandlungen darauf einigen könnten, in diesem Bereich für Stabilität und Kontinuität zu sorgen.
Der Handel mit Automobilen und Automobilteilen sollte zollfrei bleiben und der administrative Aufwand so gering wie möglich gehalten werden. Soweit dies der Status als ehemaliges EU-Mitglied zulässt, müssen hierzu die rechtlichen Rahmenbedingungen – soweit wie möglich – beibehalten werden. Sollte man sich darauf allerdings nicht einigen können, wird dies die Automobilindustrie in der EU nachhaltig erschüttern und insbesondere den Aufschwung der letzten 25 Jahre im Vereinigten Königreich untergraben.
Unsere Beitragsreihe stellt wichtige Aspekte rund um das Thema „M&A Strategien im digitalen Wandel der Automobilindustrie″ dar. Hier zeigen wir Ziele und Konzepte auf, berichten von aktuellen Trends, schildern Herausforderungen und skizzieren die ein oder andere Lösungsidee. Bereits erschienen ist ein Beitrag zu Corporate Venture Capital und digitalen Startups als strategische Partner der Automobilindustrie, zur Gründung von Joint Ventures zum Erwerb digitalen Knowhow und zur russischen Autoindustrie in der Krise sowie zu Smart Mobility in Russland. Zuletzt befassten wir uns mit der Digital Compliance bei M&A in der Automobilindustrie und den Desinvestitionen in der Automobilindustrie.
Allgemeinere rechtliche Aspekte der Digitalisierung sind Gegenstand der Studie „Digital Economy & Recht″, die wir gemeinsam mit dem Bundesverband der Unternehmensjuristen (BUJ) erstellt haben.