Für die Zukunft steht fest, dass die wissenschaftliche Bewertung eines Wirkstoffs durch die EFSA nicht bindend für die EU-Kommission ist.
Die fortlaufende Vermarktung eines Pflanzenschutzmittels hängt in der Regel von einer Verlängerung der Zulassung ab. Eine Zulassung kann aber nur verlängert werden, wenn die Genehmigung der in diesem Pflanzenschutzmittel enthaltenen Wirkstoffe verlängert wird.
Bislang herrschte Unklarheit, inwieweit eine wissenschaftliche Bewertung des Wirkstoffs durch die Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die ihre veröffentlichten Schlussfolgerungen zur Entscheidung über die Erneuerung der Wirkstoffgenehmigung an die Kommission übergibt, für die Kommission bindend ist. Dies hat das Gericht der Europäischen Union (EuG) nun jüngst mit Urteil vom 21. Februar 2024 ausdrücklich abgelehnt, wenn hinreichend nachgewiesen ist, dass die Anforderungen und Bedingungen für eine Wirkstoffgenehmigung durch die Festlegung von Risikominderungsmaßnahmen erfüllt sind.
Hintergrund: Ablauf der Wirkstoffprüfung und Erst- bzw. Erneuerungsgenehmigung auf EU-Ebene
Die Genehmigung von Wirkstoffen für Pflanzenschutzmittel erfolgt auf EU-Ebene. Das Genehmigungsverfahren ist in der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln (nachfolgend: PSM-VO) gesetzlich geregelt. Danach wird (verkürzt dargestellt) ein Wirkstoff auf Antrag des Herstellers* von der EU-Kommission genehmigt, wenn der Wirkstoff die in der Verordnung geregelten Genehmigungskriterien (Art. 4 PSM-VO mit Verweis auf Anhang II der Verordnung) erfüllt.
Der Genehmigung geht ein Gemeinschaftsverfahren voraus, in welchem die Genehmigungsfähigkeit des Wirkstoffs bewertet wird. In diesem Verfahren sind insbesondere die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und die EFSA involviert. Der Antragsteller reicht für die Überprüfung eines Wirkstoffs umfangreiche Informationen zu diesem Wirkstoff in sogenannten Dossiers bei einem Mitgliedstaat ein, der zuständig für die Bewertung des Wirkstoffs ist („berichterstattender Mitgliedstaat“; sog. Rapport Member State, RMS). Dieser Mitgliedstaat erstellt im Rahmen der gemeinschaftlichen Bewertung Bewertungsberichte, die die Grundlage für die anschließende Begutachtung (sog. Peer Review) durch die EFSA in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten bilden. Darüber veröffentlicht die EFSA Schlussfolgerungen und übergibt diese zur Entscheidung über die Genehmigung des Wirkstoffs an die EU-Kommission.
Wird ein Wirkstoff infolgedessen EU-weit von der Kommission genehmigt, wird dieser Wirkstoff in eine Liste der genehmigen Wirkstoffe aufgenommen. Die Wirkstoffgenehmigung ist zugleich zwingende Voraussetzung für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln mit dem jeweiligen Wirkstoff in den Mitgliedstaaten.
Die Erstgenehmigung eines Wirkstoffs gilt höchstens für eine Dauer von zehn Jahren. Vor dem Ablaufdatum einer Wirkstoffgenehmigung wird der Wirkstoff auf Antrag des Herstellers (spätestens drei Jahre vor Ablauf der Genehmigung) neu bewertet (sog. Erneuerungsverfahren; Artt. 14 ff. PSM-VO). Für die Erneuerung einer Wirkstoffgenehmigung wird ein berichterstattender Mitgliedstaat benannt, der in Zusammenarbeit mit einem als Mitberichterstatter (CO-RMS) benannten Mitgliedstaat auf der Grundlage von neuem Datenmaterial eine erste Risikobewertung durchführt und einen Bericht über die Erneuerung der Bewertung erstellt (Anträge im Bereich Pestizide | EFSA (europa.eu)). Dieser Bericht wird dann wiederum von der EFSA in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten umfassend wissenschaftlich begutachtet (Peer Review) und die von der EFSA veröffentlichten Schlussfolgerungen zur Entscheidung über die Erneuerung der Wirkstoffgenehmigung an die EU-Kommission übergeben. Die Genehmigung eines Wirkstoffs wird von der EU-Kommission erneuert, wenn die in der Verordnung geregelten Genehmigungskriterien weiterhin erfüllt sind (vgl. Art. 14 (1) PSM-VO).
Unabhängig davon kann die Kommission die Genehmigung eines Wirkstoffs jederzeit oder auf Antrag eines Mitgliedstaats auf Überprüfung der Genehmigung eines Wirkstoffs überprüfen (vgl. Art. 21 PSM-VO).
Keine zwingende Bindung an EFSA-Schlussfolgerung im Renewal-Verfahren
Bisher war unklar, ob die EU-Kommission in ihrer Entscheidung über die Erneuerung einer Wirkstoffgenehmigung an die Schlussfolgerungen der EFSA gebunden ist. Dies hat das EuG jüngst ausdrücklich abgelehnt. Mit Urteil vom 21. Februar 2024 hat das Gericht in der Rechtssache T-536/22 entschieden, dass die Kommission an die Schlussfolgerungen der EFSA im Rahmen der Erneuerungsentscheidung nicht gebunden ist, wenn hinreichend nachgewiesen ist, dass die Anforderungen und Bedingungen für eine Wirkstoffgenehmigung durch die Festlegung von Risikominderungsmaßnahmen erfüllt sind.Gegenstand des Urteils:
Gegenstand des Urteils war eine Klage der Pesticide Action Network Europe (PAN Europe), mit der diese die Nichtigerklärung der ablehnenden Entscheidung der EU-Kommission im Hinblick auf eine von der Klägerin beantragte Überprüfung der Erneuerungsentscheidung der Genehmigung des Wirkstoffs „Cypermethrin“, begehrte.
Der Klage war ein Antrag der PAN Europe bei der EU-Kommission auf Überprüfung der Entscheidung über die Erneuerung der Genehmigung des Wirkstoffs „Cypermethrin“ nach Art. 10 der Aarhus-Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 vorausgegangen, mit dem Ziel, diese aufzuheben.
Die Genehmigung des Wirkstoffs Cypermethrin wurde mit Entscheidung der Kommission im Jahr 2021 (verbunden mit einer Reihe von Sonderbestimmungen) erneuert. Der Erneuerungsentscheidung war ein langwieriges Erneuerungsverfahren vorausgegangen, in welchem die EFSA im Rahmen ihres wissenschaftlichen Gutachtens mehrere kritische Bereiche ermittelte, die aus Sicht der EFSA Anlass zur Sorge gaben. Die EFSA stellte u.a. ein hohes Risiko für Wasserorganismen und Honigbienen fest. Nachdem die Kommission die EFSA aufforderte, eine Erklärung zu der Möglichkeit von Risikominderungsmaßnahmen für den Wirkstoff Cypermethrin zu veröffentlichen, präzisierte die EFSA die in ihren Schlussfolgerungen vorgenommene Risikobewertung später und bestätigte die Möglichkeit, Risikomanagementmaßnahmen zu ergreifen.
Der Antrag der PAN Europe auf Überprüfung der Erneuerungsentscheidung wurde im Jahr 2022 von der Kommission abgelehnt. PAN Europe erhob daraufhin Klage vor dem EuG mit dem Antrag, die ablehnende Entscheidung der Kommission für nichtig zu erklären.
Die Klägerin stützte ihre Klage auf einen Verstoß gegen das Vorsorgeprinzip und die Verpflichtung der Union, ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und die Umwelt sicherzustellen. Die Kommission sei vor diesem Hintergrund an die Risikobewertung der EFSA gebunden.
Zur Bedeutung des Vorsorgeprinzips
Die Klägerin argumentierte zunächst, dass die Kommission nicht befugt sei, im Rahmen des Risikomanagements Wirkstoffe zuzulassen, wenn eine unabhängige wissenschaftliche Bewertung der EFSA zeige, dass diese Wirkstoffe nicht den Kriterien für die Genehmigung eines Wirkstoffs entsprächen. Mit anderen Worten: Wenn ein mit dem Wirkstoff einhergehendes Risiko mit hinreichender Sicherheit festgestellt werde, könnte sich die Kommission nicht über die Schlussfolgerungen der wissenschaftlichen Bewertung hinwegsetzen, indem sie sich auf ihre Befugnisse als Risikomanagerin beruft. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn die EFSA auf das Vorhandensein eines „hohen Risikos″ des Wirkstoffs hinweise.
Weiter kritisierte die Klägerin, dass eine Berufung der Kommission auf das Vorsorgeprinzip nicht dazu führen dürfe, dass die in der PSM-VO festgelegten Genehmigungskriterien umgangen werden. Wenn die wissenschaftliche Bewertung der EFSA zu der Feststellung führe, dass ein Wirkstoff diese Genehmigungskriterien nicht erfüllt, könnte die Kommission nicht an die Stelle des Gesetzgebers treten, indem sie diesen Wirkstoff aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen dennoch genehmigt.
Das EuG stellte insoweit klar, dass die mit der PSM-VO für Pflanzenschutzmittel und ihre Wirkstoffe eingeführten Zulassungs- und Genehmigungsverfahren eine Ausprägung des Vorsorgeprinzips darstellen. Dieses Prinzip besage, dass in Fällen, in denen hinsichtlich des Bestehens oder des Ausmaßes von Risiken für die Umwelt Unsicherheiten bestehen, Schutzmaßnahmen ergriffen werden können, ohne abwarten zu müssen, bis das tatsächliche Bestehen und die Schwere dieser Risiken vollständig nachgewiesen sind. Das Vorsorgeprinzip könne auch den Erlass einer restriktiven Maßnahme durch das zuständige Organ rechtfertigen, es gebiete dies jedoch nicht unter allen Umständen. Vielmehr sei der Erlass restriktiver Maßnahmen nur dann gerechtfertigt, wenn diese diskriminierungsfrei, objektiv und verhältnismäßig seien.
Keine zwingende Bindung an die wissenschaftliche Beurteilung der EFSA
Weiter machte PAN Europe geltend, dass die Kommission, wenn ein Risiko von der EFSA mit hinreichender Sicherheit festgestellt worden sei, sich nicht über die Schlussfolgerungen der wissenschaftlichen Bewertung hinwegsetzen könne, indem sie sich auf ihre Befugnisse als „Risikomanagerin“ stütze. Die Kommission sei insoweit an die Beurteilung der EFSA gebunden.
Das Gericht hielt die Argumentation der Klägerin nicht für stichhaltig und entschied, dass die Kommission als „Risikomanagerin“ nicht an die wissenschaftliche Beurteilung der EFSA gebunden ist. Die Kommission müsse zwar bei ihrer Entscheidung über die Erneuerung der Genehmigung eines Wirkstoffs u.a. auch die Schlussfolgerungen der EFSA „berücksichtigen“. Eine solche Berücksichtigung könne jedoch nicht als eine Verpflichtung der Kommission ausgelegt werden, den Schlussfolgerungen der EFSA in allen Punkten zu folgen. Gleichwohl bilden diese Schlussfolgerungen den Ausgangspunkt der Risikobewertung und hätten daher ein erhebliches Gewicht.
Das weite Ermessen der Kommission als Risikomanagerin bleibe jedoch durch die notwendige Beachtung der Bestimmungen der PSM-VO, insbesondere der dort gesetzlich verankerten Genehmigungskriterien, sowie durch das Vorsorgeprinzip, das allen Bestimmungen dieser Verordnung zugrunde liegt, eingegrenzt.
Insbesondere dürfe die Kommission nicht von den Ergebnissen einer Risikobewertung der EFSA abweichen, wenn diese Risikobewertung zu der Empfehlung führt, die Genehmigung eines Wirkstoffs nicht zu erneuern. Denn sonst würde das Vorsorgeprinzip missachtet.
Vor diesem Hintergrund dürfe die Kommission die Genehmigung eines Wirkstoffs – entgegen den Schlussfolgerungen der EFSA – also nur dann erneuern, wenn hinreichend nachgewiesen ist, dass ungeachtet der Ermittlung kritischer Problembereiche, Risikominderungsmaßnahmen den Schluss zulassen, dass die in der PSM-VO festgelegten Kriterien für die Genehmigung des Wirkstoffs erfüllt sind. Dieser Nachweis muss indes wissenschaftlich bestätigt sein. Mit anderen Worten ist es für die Kommission nicht ausgeschlossen, unter Beachtung des Vorsorgeprinzips (wissenschaftlich) zu prüfen, ob das von der EFSA identifizierte Risiko eines Wirkstoffs durch die Festlegung bestimmter Risikominderungsmaßnahmen den Kriterien für eine Wirkstoffgenehmigung genügt. Soweit dies der Fall ist, verfügt die Kommission als Risikomanagerin über den Ermessensspielraum, trotz von der EFSA identifizierte Risiken des Wirkstoffs, die Wirkstoffgenehmigung zu erneuern, soweit sie sicherstellt, dass die in der PSM-VO genannten Kriterien für die Genehmigung eines Wirkstoffs durch die Festlegung bestimmter Risikominderungsmaßnahmen erfüllt sind.
Da in dem von dem EuG zu entscheidenden Fall die EFSA auf entsprechende Aufforderung durch die Kommission die Möglichkeit, Risikomanagementmaßnahmen zu ergreifen, bestätigte, durfte die Kommission also – entgegen den Schlussfolgerungen der EFSA – die Genehmigung des Wirkstoffs Cypermethrin erneuern.
Zukünftig werden EFSA-Bewertungen „nur“ noch relevanter Fingerzeig sein
Eine nachteilhafte Bewertung der EFSA hat also nicht zwingend auch eine Ablehnung der Erneuerung der Wirkstoffgenehmigung durch die EU-Kommission zur Folge. Gleichwohl hat die Kommission die wissenschaftliche Beurteilung der EFSA in ihrer Entscheidung zu berücksichtigen. Die im Rahmen eines Erneuerungsverfahrens veröffentlichte Beurteilung der EFSA stellt also weiterhin einen relevanten Fingerzeig auf die folgende Entscheidung der Kommission über die Erneuerung der Genehmigung eines Wirkstoffs für Pflanzenschutzmittel dar – aber eben nicht mehr als das.
Pflanzenschutzmittelhersteller sind daher stets gut beraten, die Erneuerungsverfahren im Hinblick auf die in ihren Pflanzenschutzmitteln enthaltenen Wirkstoffe engmaschig zu beobachten, um im Falle einer sich anbahnenden Aufhebung der Wirkstoffgenehmigung und damit zwangsläufig auch der Nichtverlängerung oder Rücknahme der Zulassung für ein Pflanzenschutzmittel, rechtzeitig reagieren zu können.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.