19. Dezember 2023
Pflanzenschutzmittel Verfassungsbeschwerde BVL
Gewerblicher Rechtsschutz

Ungewöhnlich: Verfassungsbeschwerde des BVL

Das BVL reicht Verfassungsbeschwerde ein, um zukünftig mehr Ermessen im Rahmen von pflanzenschutzrechtlichen Zulassungsentscheidungen zu haben.

Einem Bericht der Legal Tribune Online zufolge hat das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), das in Deutschland für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zuständig ist, im Nachgang zu einer rechtskräftigen Entscheidung des OVG Lüneburg vom 3. Juli 2023 in einem pflanzenschutzrechtlichen Zulassungsverfahren Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben (Az.: 1 BvR 1523/23). 

Das Bundesverfassungsgericht soll prüfen, ob das OVG Lüneburg zu Recht entschieden hat, dass das BVL nur ein eingeschränktes Ermessen bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln im sog. Verfahren der gegenseitigen Anerkennung hat oder ob die Frage der Reichweite des Ermessens des BVL dem Europäischen Gerichtshof hätte vorgelegt werden müssen. Es ist wohl das erste Mal, dass das BVL als Behörde diesen ungewöhnlichen Weg einer Verfassungsbeschwerde wählt, um die Reichweite des eigenen Ermessens überprüfen zu lassen.

Deutsche Zulassungsbehörde wendet europäische Pflanzenschutzmittelverordnung an

Das BVL ist in Deutschland für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zuständig. Im Zulassungsverfahren werden auch andere Behörden beteiligt, und zwar das Julius-Kühn-Institut, das Bundesamt für Risikobewertung und das Umweltbundesamt. 

Das BVL trifft die Zulassungsentscheidung nach den Vorgaben der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009. Der europäische Gesetzgeber hat die Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 seinerzeit mit dem Gedanken erlassen, zum einen ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt zu gewährleisten und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft der Gemeinschaft sicherzustellen (siehe Erwägungsgrund 8 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009). In der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 sind unionsweit harmonisierte Regelungen für die Genehmigung von Wirkstoffen und für das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln, einschließlich der Regelungen über die gegenseitige Anerkennung der Zulassungen festgelegt (siehe Erwägungsgrund 9 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009). 

Im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung wird Zulassungsentscheidung eines anderen Mitgliedstaats übernommen

Die Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 enthält unter anderem Regelungen, wie Zulassungsentscheidungen anderer Mitgliedstaaten im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung von der nationalen Zulassungsbehörde übernommen werden können. Für den europäischen Gesetzgeber stellt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung eines der Mittel dar, mit denen der freie Warenverkehr innerhalb der Gemeinschaft gewährleistet werden soll. Zur Vermeidung von Doppelarbeit, Verringerung des Verwaltungsaufwands für Industrie und Mitgliedstaaten und Sicherstellung einer einheitlicheren Verfügbarkeit von Pflanzenschutzmitteln soll die von einem Mitgliedstaat erteilte Zulassung von anderen Mitgliedstaaten akzeptiert werden, sofern die landwirtschaftlichen, pflanzengesundheitlichen und ökologischen Bedingungen (einschließlich der klimatischen Bedingungen) vergleichbar sind (siehe Erwägungsgrund 29 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009). Ausnahmen sollen möglich sein, wo dies aufgrund besonderer ökologischer oder landwirtschaftlicher Gegebenheiten gerechtfertigt ist oder wo das in dieser Verordnung vorgeschriebene hohe Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier sowie für die Umwelt nicht erreicht werden kann (siehe ebenfalls Erwägungsgrund 29 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009). 

Das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung ist in den Artikeln 40 und 41 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 geregelt. Nach Artikel 41 Absatz 1 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 erteilt der Mitgliedstaat, dem ein Antrag auf gegenseitige Anerkennung einer Zulassung vorgelegt wird, für das betreffende Pflanzenschutzmittel eine Zulassung unter den gleichen Bedingungen wie der den Antrag prüfende Mitgliedstaat; hiervon ausgenommen sind die Fälle, in denen Artikel 36 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 Anwendung findet. In Artikel 36 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 wird geregelt, dass ein Mitgliedstaat von der Zulassungsentscheidung des erstzulassenden Mitgliedstaates abweichen kann, wenn er angesichts spezifischer ökologischer oder landwirtschaftlicher Bedingungen berechtigten Grund zu der Annahme hat, dass das betreffende Produkt noch immer ein unannehmbares Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt. An den Nachweis solcher spezifischen ökologischen oder landwirtschaftlichen Bedingungen werden hohe Anforderungen gestellt.

VG Braunschweig und OVG Lüneburg sehen eingeschränkten Ermessenspielraum der nationalen Zulassungsbehörden im Rahmen des Verfahrens der gegenseitigen Anerkennung

Nach der Rechtsprechung des VG Braunschweig und des OVG Lüneburg ist der Ermessensspielraum des BVL im Rahmen einer gegenseitigen Anerkennung über den Ausnahmetatbestand von Artikel 36 Absatz 3 Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 hinaus sehr eingeschränkt. Nur wenn es sich aufdrängt, dass der erstzulassende Mitgliedstaat das Zulassungsrecht systematisch verletzt hat, besteht nach Auffassung beider Gerichte im Anerkennungsverfahren Raum für eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der sog. Referenzzulassung durch die nationale Zulassungsbehörde (vgl. VG Braunschweig, Urteil v. 30. November 2016 – 9 A 28/16; dem folgend zum Beispiel VG Braunschweig, Urteil v. 28. Oktober 2022 – 1 A 125/21; OVG Lüneburg, Beschluss v. 3. Juli 2023 – 10 LA 116/22). 

Auslegung des Europarechts klar für das OVG Lüneburg

Gegen die diesbezüglich jüngst ergangene Entscheidung des OVG Lüneburg (Beschluss v. 3. Juli 2023 – 10 LA 116/22) scheint sich das BVL nun mit der Verfassungsbeschwerde zu wehren und strebt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an, dass das OVG Lüneburg ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof hätte einleiten müssen. 

Dabei dürfte das BVL argumentieren, dass sein Recht auf den gesetzlichen Richter aus Artikel 101 Absatz 1 Grundgesetz verletzt worden sei, weil das OVG Lüneburg eine unanfechtbare Entscheidung getroffen habe, statt den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Nach Artikel 267 Absatz 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union sind nationale Gerichte verpflichtet, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, wenn Unklarheiten bei der Auslegung des Europarechts bestehen und Entscheidungen – wie hier – nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können. Daraus, dass das OVG Lüneburg diesen Fall nicht dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt hat, sondern stattdessen in der Sache entschieden hat, wird deutlich, dass es offenbar keine Zweifel an der Auslegung der Vorschriften des Artikel 40 und Artikel 41 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 hatte.

Bundesverfassungsgericht wird entscheiden, ob Auslegung des Europarechts unklar ist

Falls sich das BVL tatsächlich auf die Verletzung von Artikel 101 Absatz 1 Grundgesetz beruft, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Klage tatsächlich zulässig ist. Eigentlich sind Behörden nämlich nicht grundrechtsberechtigt und können daher auch nicht das Bundesverfassungsgericht anrufen. 

Anders ist es aber, wenn – wie wahrscheinlich hier – die Verletzung eines sog. Justizgrundrechts geltend gemacht wird, wozu das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Artikel 101 Absatz 1 Grundgesetz zählt. Dann können auch Behörden Verfassungsbeschwerde erheben. Unterstellt also, dass die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, wird sich das Bundesverfassungsgericht nun im Rahmen der Begründetheitsprüfung damit auseinandersetzen müssen, ob das OVG Lüneburg zu Recht von einer eindeutigen Auslegung der gesetzlichen Vorgaben ausgeht. Nach Ansicht der Verfasserin ist dies der Fall. 

Es gibt allerdings auch andere Stimmen, so hat beispielsweise ein niederländisches Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen zur Reichweite der Ermessensentscheidung nationaler Mitgliedstaaten im Rahmen des zonalen Zulassungsverfahrens beim Europäischen Gerichtshof gestellt, das ähnliche Grundsätze aufstellt. 

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