21. Januar 2011
mutmaßliches Szene-Mitglied
Urheberrecht

Im „Konglomerat kaum als Kleinstädte zu bezeichnender Gebilde″ hat die Pressefreiheit Vorfahrt

Dann und wann lassen die Urteile deutscher Gerichte tief hinter die Fassade des zur Entscheidung anstehenden Sachverhalts und der rechtlichen Begründung blicken. Eine derartige Preziose lieferte jetzt das Amtsgericht Kerpen (Urteil v. 4.11.2010, Az 102 C 108/10). Schon der Tatbestand liest sich wie das Drehbuch zu einem Action-Film: Ein wildes Tier, eine schnelle Maschine, Blaulicht und ein finsteres Unternehmen, das sein Geld mit Unfällen zu verdienen scheint.  Und das alles in der Gegend, die Michael Schumacher seine Heimat nennt.

Aber der Reihe nach:

Der Kläger – Mitglied der „Kerpener Quad-Szene″ – hatte im März 2008 mit seinem Quad einen offenbar schwereren Unfall, als er einem nicht näher bekannten Wildtier ausweichen wollte. Zu jedem Unfall gehört in der heutigen Zeit auch ein anständiger Gaffer Berichterstatter, der das anschließende Bergungsgeschehen in Form einer Videodatei festhielt und im konkreten Fall an ein „Medienunternehmen, das auf seiner Website Unfallereignisse veröffentlicht″ überspielte. Der Kläger ist nach eigenen Angaben von „mehreren Bekannten″ auf das Video angesprochen worden. Er erhob Klage zum Amtsgericht Kerpen auf Zahlung einer angemessenen Geldentschädigung (vulgo, wenngleich unzutreffend: „Schmerzensgeld″). Das Gericht hat – um es nicht unerträglich spannend zu machen – die Klage abgewiesen.

Die Urteilsbegründung, mit der ein Anspruch nach §§ 823, 1004 BGB§ 23 KUG abgelehnt wird, hat es dabei in sich. Das Amtsgericht nimmt zu zentralen Fragen des Bildnisrechts, insbesondere dem Problemfeld der „Erkennbarkeit″ ausführlichst Stellung – und das mit eindrucksvoller Diktion:

Neben der Identifizierbarkeit über das Nummernschild oder die angeblich erkennbare Ehefrau des Klägers auf dem Video lehnt das Gericht eine Erkennbarkeit auch über den anscheinend eindrucksvollen Körper des Klägers ab:

„Auch soweit der Klägervertreter vorgetragen hat, dass sich aufgrund der besonderen Körpermasse des Klägers Erkennbarkeit herstellen lasse, ist dem nicht zu folgen. Auf dem streitgegenständlichen Film lässt sich keine besondere Physiognomie der liegenden Person feststellen; letztlich lässt sich nicht einmal sagen, ob die Konturen durch den Körper der verletzten Person oder durch Rettungsdecken oder andere Rettungsmittel hervorgerufen wurden.″

Auch die Zugehörigkeit des Klägers zur „Kerpener Quad Szene″ (Zitat: „worum immer es sich dabei handeln mag″) sei zur Identifizierung nicht geeignet:

„Maßgebend stellt das Gericht dabei darauf ab, dass es in vielen Fällen der Berichterstattung praktisch unvermeidlich ist, dass ein ganz kleiner Personenkreis aufgrund der Zusammenstellung der berichteten Daten Rückschlüsse ziehen kann. Der zu entscheidende Fall bietet hierfür ein passendes Beispiel. Hätte verhindert werden sollen, dass der Kläger von der „Kerpener Quad Szene″ erkannt wird, hätte es wohl nichts geholfen, wenn die nach dem klägerischen Vortrag zu erkennende Ehefrau und das Nummernschild unkenntlich gemacht worden wären. Dann blieben immer noch die berichteten Tatsachen, dass es sich um einen Unfall im Kerpener Raum handelte, bei dem ein nach üblichen Maßstäben sehr ungewöhnliches Fahrzeug verunglückte. Das Gericht erlaubt sich, hier mit einem Vergleich aufzuwarten: Das klägerische Fahrzeug könnte kaum unauffälliger sein, wäre der Kläger mit einem Einrad über die Landstraße geradelt. […]. „

„Dies hängt damit zusammen, dass einerseits das verunglückte Transportmittel ganz ungewöhnlich ist und sich er Vorfall innerhalb eines überschaubaren Gebietes (ein Konglomerat kaum mehr als Kleinstädte zu bezeichnender Gebilde) ereignet hat, in dem es wenig vergleichbare Fahrzeuge gibt und andererseits eine interessierte ‚Kerpener Quad-Szene‘.″

Hier dürfte trotz der ausführlichen Begründung ein Schwachpunkt in der Argumentation liegen: Das Gericht weist selbst darauf hin, dass das Merkmal der Erkennbarkeit schnell erfüllt sein kann: So kann es genügen, wenn der Betroffene begründeten Anlass hat anzunehmen, er könne erkannt werden (BGH GRUR 1962, 211 – Hochzeitsbild; NJW 1971, 698, 700 – Pariser Liebestropfen). Dafür reicht die Erkennbarkeit innerhalb eines mehr oder minder großen Bekanntenkreises aus (BGH GRUR 1979, 732, 733 – Fußballtor).

Da eine Erkennbarkeit durch das Gericht letztlich nicht geleugnet, aber als notwendige Folge des ungewöhnlichen Vorfalls dargestellt wird, hätte eine ausführliche Abwägung der betroffenen hochrangigen Rechtsgüter und Interessen erfolgen müssen.  Denn wenn eine Person über bei der Berichterstattung im Bild über besonders „ungewöhnliche″ Merkmale erst eindeutig identifizierbar gemacht wird, ist in der Tat zu fragen, ob das Informationsinteresse ausnahmsweise hinter dem Persönlichkeitsrecht zurückzutreten hat. Dabei darf der Persönlichkeitsschutz die Presse- und Informationsfreiheit zum einen nicht auf dem Umweg von § 23 Abs. 2 KUG über Gebühr einschränken, noch darf der Schutz der ohnehin leicht verletzbaren Persönlichkeitsinteressen des Abgebildeten nicht leichtfertig preisgegeben oder gar Leib und Leben des Abgebildeten nicht leichtfertig und ohne Not gefährdet werden.

Aber: Auch wenn die Entscheidung hinterfragt werden kann, sie ist gefallen (zur Rechtskraft ist uns nichts bekannt). Das Gericht hat alles in einem Satz auf den Punkt gebracht, wenn es sagt:

„Wer kann schon wissen, was es in Kerpen so alles gibt und der Unfall das Interesse der lokalen ‚Szene‘ weckt[?]

Tags: 102 C 108/10 Amtsgericht Kerpen Geldentschädigung Kleinstadt Persönlichkeitsrecht Quad-Szene Rechtsprechung Schmerzensgeld Unfall