OLG Hamburg: Wer ein (Folge-)Rezept über das Internet ohne vorherigen persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt anbietet, handelt wettbewerbswidrig.
Das Landgericht Hamburg hat mit Urteil vom 6. September 2022 – 406 HKO 14/22 – einen wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruch gegen die Betreiberin einer Softwareplattform bejaht, die einen besonderen „Rezeptservice“ angeboten hatte:
Über eine von der Beklagten betriebene Internetseite konnten Internetnutzer Rezepte für verschreibungspflichtige Arzneimittel von Ärzten* erhalten, die die Nutzer zuvor noch nicht behandelt hatten. Betroffen war auch das Medikament „C.“, das gegen Bluthochdruck und bei einem chronischen Krankheitsverlauf eingesetzt wird. Um die Verordnung zu erhalten, mussten die Nutzer auf der Seite die Option „Folgerezept“ auswählen. Das Landgericht Hamburg hat in dem „Rezeptservice“ einen Wettbewerbsverstoß gesehen und die Beklagte zur Unterlassung verurteilt.
Die Betreiberin der Softwareplattform ist in Berufung gegangen – ohne Erfolg:
In einem jüngst veröffentlichten Hinweisbeschluss hält das OLG Hamburg am Kurs des Landgerichts fest: Ein solcher „Rezeptservice“ sei wettbewerbswidrig und verstoße sowohl gegen §§ 8, 3a UWG i.V.m. § 7 Abs. 3 der Berufsordnung für Ärzte in Hamburg als auch gegen §§ 8, 3a UWG, 9 HWG.
„Rezeptservice“ als Verstoß gegen ärztliche Berufspflichten
Das OLG Hamburg wertet den „Rezeptservice“ als Verstoß gegen § 3a UWG i.V.m. § 7 Abs. 3 der Berufsordnung für Ärzte in Hamburg: Die Berufsordnung sieht vor, dass Ärzte Patienten im persönlichen Kontakt beraten und behandeln. Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.
Die Erteilung eines „Folgerezeptes“ für das verschreibungspflichtige Medikament „C.“ verstoße gegen die ärztliche Sorgfalt, weil nicht sichergestellt sei, dass der Zweck der Verschreibungspflicht gewahrt werde. Die Verschreibungspflicht diene gerade dazu, eine Selbstmedikation des Patienten zu verhindern und die medizinisch sachgerechte Behandlung des Patienten mit diesen Arzneimitteln durch den Arzt sicherzustellen.
Es sei zwar anerkannt, dass bei Folgerezepten auch eine telefonische Rezeptanforderung ausreichen könne, bei der Arzt und Patient ebenfalls nur über ein Kommunikationsmedium in Kontakt träten. Voraussetzung dafür sei aber, dass der das Rezept ausstellende Arzt den Patienten bereits zuvor behandelt habe. Er kenne bei der Folgeverordnung den Gesundheitszustand und die Notwendigkeit der Verordnung des Arzneimittels. Der Arzt müsse außerdem bei Folgeverordnungen in gewissen Abständen bestimmte Untersuchungen des Patienten veranlassen. Das gelte auch im Fall des antragsgegenständlichen Medikaments „C.“, nämlich Blutdruckmessungen.
Plattformbetreiberin ist für Einhaltung der ärztlichen Berufsregeln verantwortlich
Das OLG Hamburg stellt klar: Unerheblich ist, dass die Beklagte als Betreiberin der Softwareplattform den Arztberuf nicht selbst ausübt. Im Hinblick auf den wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruch sei sie unmittelbar verantwortlich, weil sie das Geschäftsmodell über ihre Internetpräsenz angeboten habe. Denn auch, wer selbst nicht Normadressat sei, aber gesetzesunterworfene Dritte dabei unterstütze, gegen Marktverhaltensregelungen zu verstoßen, handele unlauter.
Hier liege auch eine Marktverhaltensregelung i.S.v. § 3a UWG vor, da sich der Arzt nicht allein von medizinischen Erwägungen mit Blick auf das Patientenwohl, sondern von sachfremden wirtschaftlichen Eigeninteressen leiten lasse, so die Hamburger Richter. Regelungen, die dieser Gefahr vorbeugen, seien Marktverhaltensregelungen im Interesse der Verbraucher.
Zudem: Verstoß gegen das Werbeverbot für Fernbehandlungen nach § 9 HWG
Der angebotene „Rezeptservice“ verstoße auch gegen das Werbeverbot für Fernbehandlungen nach § 9 HWG. Insbesondere greife der Ausnahmetatbestand von § 9 Satz 2 HWG nicht ein, so das OLG.
Nach § 9 Satz 1 HWG ist eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden unzulässig, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen beruht (Fernbehandlung). Die Erteilung von Folgerezepten über das Internet ist eine Fernbehandlung ohne persönliche Wahrnehmung durch den behandelnden Arzt i.S.v. § 9 Satz 1 HWG.
Gem. § 9 Satz 2 HWG gilt das Verbot nicht für die Werbung für Fernbehandlungen, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist.
Nach Ansicht der Beklagten waren die Voraussetzungen des § 9 Satz 2 HWG hier gegeben: Der Begriff der „allgemein anerkannten fachlichen Standards“ i.S.v. § 9 Satz 2 HWG sei unter Rückgriff auf den entsprechenden Begriff in § 630a Abs. 2 BGB auszulegen. Das Mittel „C.“, das zur Blutdrucksenkung eingesetzt werde, habe die Beklagte aus dem Programm genommen und ihr Angebot auf solche Krankheitsbilder eingegrenzt, die in einer Vielzahl auftreten und daher als „Alltagskrankheiten“ gelten.
Das OLG Hamburg hat auch dieser Argumentation der Plattformbetreiberin eine Absage erteilt: Die Beklagte habe zum einen schon nicht dargetan, dass die Ausstellung eines Folgerezepts für das hier allein antragsgegenständliche Medikament „C.“ dem allgemeinen fachlichen Standard i.S.v. § 630a BGB entspreche. Die Ausführungen zu „Alltagskrankheiten“ seien für den vorliegenden Rechtsstreit ohne Relevanz.
Zum anderen führe der Umstand, dass die Beklagte „C.“ aus dem Programm genommen hat, nicht zu einem Wegfall der Wiederholungsgefahr. Zur Beseitigung der Wiederholungsgefahr genügten weder der bloße Wegfall der Störung noch die Zusage des Verletzers, von Wiederholungen künftig Abstand zu nehmen. Ausreichend sei die Möglichkeit, dass die Beklagte einen entsprechenden Rezeptservice jederzeit wieder anbieten könnte.
Fazit: Aktuelle Rechtsprechung als wichtiger Einflussfaktor für das Geschäftsmodell Telemedizin
Die Telemedizin entwickelt sich auch in Deutschland kontinuierlich weiter Dabei werden die Grenzen des Fernbehandlungsverbots und des Verbots der Werbung für Fernbehandlungen weiterhin entscheidend durch die Rechtsprechung vorgegeben.
Anbieter digitaler Gesundheitsangebote sind gut beraten, vor allem die wettbewerbsrechtliche Rechtsprechung zur Fernbehandlung im Auge zu behalten. Denn ein Blick in die Praxis zeigt: Häufig sind es neben Konkurrenten vor allem Verbraucherschutzvereine, die neue telemedizinische Angebote am Markt unter die Lupe nehmen und über das Wettbewerbsrecht angreifen.
Der Kläger im hiesigen Verfahren war ebenfalls in die beim Bundesamt für die Justiz geführte Liste der qualifizierten Wirtschaftsverbände eingetragen und hat nicht nur dieses Verfahren angestoßen, sondern vor einiger Zeit auch die Unterlassung eines weiteren telemedizinischen Angebots über das Wettbewerbsrecht erwirkt: Die Beklagte hatte ursprünglich nämlich auch die Erteilung von Prüfungsunfähigkeitsbescheinigungen und Krankschreibungen/Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen per WhatsApp angeboten.
Das Gericht hielt seinerzeit das Geschäftsmodell für unzulässig, bei dem „Tele-Ärzte“ auf Basis schriftlicher Angaben der Patienten AU-Bescheinigungen per WhatsApp ausstellen, weil die Ärzte zu keinem Zeitpunkt mit dem Patienten in Kontakt treten und sich somit auch keinen Eindruck vom Gesundheitszustand des Patienten verschaffen können. Das Gericht betonte, dass Fernbehandlungen als solche nicht ausgeschlossen werden sollen; es sei lediglich eine Prüfung des konkreten Einzelfalls hinsichtlich der medizinischen Vertretbarkeit einer ausschließlichen Fernbehandlung vorzunehmen (OLG Hamburg, Urteil v. 5. November 2020 – 5 U 175/19).
Telemedizinische Angebote sind also nicht nur medizinisch sinnvoll, sondern auch rechtlich in vielerlei Ausgestaltung zulässig – man sollte die Anforderungen der Rechtsprechung aber genau kennen.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.