18. Mai 2022
EU-Vertriebskartellrecht Vertikal-GVO Vertikal-Leitlinien
Kartellrecht

Die 10 wichtigsten Themen des neuen EU-Vertriebskartellrechts (Vertikal-GVO/Vertikal-Leitlinien)

Die Europäische Kommission hat die neue Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (VGVO) und die sie ergänzenden, neuen Vertikal-Leitlinien (VLL) am 10. Mai 2022 veröffentlicht.

Die neue VGVO wird am 1. Juni 2022 in Kraft treten und für die nächsten zwölf Jahre gelten. Die neuen VGVO/VLL sehen mehrere wesentliche Änderungen vor, die das EU-Kartellrecht im Bereich des Vertriebs modernisieren, für mehr Flexibilität sorgen und wichtige Fragen klären. Zugleich betonen die neuen VGVO/VLL, dass bestimmte Geschäftspraktiken verboten sind.

Lieferanten und Händler entlang der Vertriebskette sind daher gut beraten, ihre bestehenden Verträge daraufhin zu überprüfen, ob sie in Einklang mit den neuen Regeln sind, aber auch neue Möglichkeiten zur Geschäftsentwicklung zu finden. Die neuen Vorschriften sehen eine Übergangsfrist von einem Jahr für bestehende Verträge vor. 

1. Der Informationsaustausch im dualen Vertrieb bleibt gruppenfreigestellt

Entgegen früheren Überlegungen der Kommission bleibt der Informationsaustausch in dualen Vertriebsszenarien weitgehend gruppenfreigestellt. Grds. ist es für die Anwendung der VGVO unschädlich, wenn ein Anbieter mit seinem Abnehmer um dessen Kunden konkurriert, sofern der Abnehmer nicht selbst mit dem Anbieter auf der vorgelagerten Marktstufe im Wettbewerb steht (Art. 2 Abs. 4 VGVO, 95 VLL).

Vorbehaltlich der Marktanteilsschwelle von 30 % und bestimmter anderer Voraussetzungen gilt die Freistellung für den Informationsaustausch zwischen Anbietern und Abnehmern, wenn er unmittelbar mit der Durchführung der vertikalen Vereinbarung zusammenhängt und für produktions- oder vertriebsbezogene Effizienzgewinne erforderlich ist (Art. 2 Abs. 5 VGVO, 96 VLL).

2. Klarstellungen zur Preisgestaltung (Preisbindung der zweiten Hand), aber Mindestpreisrichtlinien (MAP) weiterhin verboten

Die neuen VLL behalten zwar die bisherige Bewertung von Preispflegmaßnahmen bei, sehen aber einige Klarstellungen vor. Die Auferlegung von sog. Mindestpreisrichtlinien (Minimum Advertised Prices, MAP), die es dem Händler verbieten, Preise unterhalb eines vom Anbieter festgelegten Betrags zu bewerben, wird als indirektes Mittel zur Anwendung einer Preisbindung der zweiten Hand eingestuft (187 VLL) und ist damit weiterhin verboten. Maßnahmen des Preismonitorings bzw. des Preisreportings als solche werden hingegen nicht als Preisbindung der zweiten Hand betrachtet (191 VLL). 

Die Festsetzung eines Weiterverkaufspreises durch den Anbieter ist dann keine Preisbindung der zweiten Hand, wenn ein Anbieter die Konditionen mit dem Endkunden zuvor ausgehandelt hat und das Unternehmen auswählt, das die vereinbarte Leistung erbringt (sog. Erfüllungsvertrag). Ein Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten darf keinen Fest- oder Mindestweiterverkaufspreis für das von ihm vermittelte Geschäft vorschreiben (194 VLL). In Ausnahmefällen kann ein Abnehmer daran gehindert werden, unter dem Großhandelspreis zu verkaufen (durch einen Mindestverkaufspreis oder MAP), um einen bestimmten Händler daran zu hindern, das Produkt eines Anbieters als Loss Leader zu nutzen (197 VLL). 

3. Mehr Flexibilität für Exklusivvertriebssysteme: Dieselbe „exklusive“ Kundengruppe oder dasselbe Gebiet kann bis zu fünf Abnehmern gleichzeitig „exklusiv“ zugewiesen werden

Möchte ein Anbieter bestimmten Abnehmern Kundengruppen oder Gebiete zuweisen, um sie vor aktiven Verkäufen zu schützen, so kann er nun bis zu fünf Abnehmern gleichzeitig ein und dieselbe Kundengruppe oder ein und dasselbe Gebiet zuweisen (Art. 4 lit. b) Ziff. i) VGVO, 219 VLL). Nach der bisherigen VGVO durfte der Anbieter jede Kundengruppe oder jedes Gebiet nur einem einzigen Abnehmer zuweisen.

4. Verbesserter Schutz von exklusiven Kundengruppen oder Gebieten vor aktiven Verkäufen

Nach der bisherigen VGVO war jede Beschränkung des aktiven Verkaufs an exklusiv zugewiesene oder vorbehaltene Kundengruppen oder Gebiete auf die erste Vertriebsstufe beschränkt. Das heißt, der Anbieter konnte nur seinen direkten Abnehmern verbieten, aktiv an Kunden oder in Gebiete, die einem Abnehmer exklusiv zugewiesen sind oder die sich der Anbieter selbst vorbehalten hat, zu verkaufen.

Nach der neuen VGVO kann der Anbieter von seinen direkten Abnehmern nicht nur verlangen, selbst keine aktiven Verkäufe zu tätigen, sondern auch, dass diese Abnehmer wiederum ihren direkten Kunden untersagen, aktiv in Gebiete oder an Kundengruppen zu verkaufen, die der Anbieter anderen Händlern exklusiv zugewiesen oder sich selbst vorbehalten hat. Die Weiterreichung der aktiven Verkaufsbeschränkungen an Kunden, die in der Vertriebskette noch weiter nachgelagert sind, fällt jedoch nicht unter die Gruppenfreistellung (Art. 4 lit. b) Ziff. i) VGVO, 220 VLL).

5. Verbesserter Schutz der Vertriebssysteme vor Grauimporten aus benachbarten Gebieten

Die neue VGVO erleichtert es einem Anbieter von Produkten, verschiedene Vertriebssysteme in verschiedenen Gebieten innerhalb des EWR einzurichten und diese voreinander zu schützen. Alleinvertriebsgebiete können nun gegen aktive Verkäufe von Händlern in selektiven Vertriebssystemen (Art. 4 lit. c) Ziff. i) 1 VGVO) und im freien Vertrieb (Art. 4 lit. d) Ziff. i) VGVO) geschützt werden. Selektive Vertriebssysteme können gegen aktive und passive Verkäufe von Händlern in Alleinvertriebsgebieten (Art. 4 lit. b) Ziff. ii) VGVO) oder von Händlern im freien Vertrieb (Art. 4 lit. d) Ziff. ii) VGVO) geschützt werden.

6. Stillschweigende Verlängerung von Wettbewerbsverbotsklauseln über 5 Jahre hinaus

Wettbewerbsverbote, die sich stillschweigend über einen Zeitraum von fünf Jahren hinaus verlängern, sind durch die VGVO freigestellt, sofern der Abnehmer die vertikale Vereinbarung, die das Wettbewerbsverbot enthält, mit einer angemessenen Kündigungsfrist und zu angemessenen Kosten wirksam neu aushandeln oder kündigen kann, sodass der Abnehmer nach Ablauf der Fünfjahresfrist seinen Anbieter effektiv wechseln kann (248 VLL).

7. Wichtige Änderungen zur Online-Plattformwirtschaft

Die neue VGVO erkennt an, dass Vereinbarungen über die Erbringung von Online-Vermittlungsdiensten (Online-Marktplätze, App-Stores, Preisvergleichsinstrumente, Social-Media-Dienste usw.) vertikale Vereinbarungen sind und grds. von der Freistellung nach der VGVO profitieren können. Die neuen VLL weisen darauf hin, dass Vereinbarungen zwischen Plattformbetreibern und ihren Kunden i.d.R. nicht die Voraussetzungen für von Art. 101 AEUV freigestellte Handelsvertreterverträge erfüllen (63 VLL).

Bei der Anwendung der VGVO auf Vereinbarungen in der Plattformwirtschaft wird ein Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten in Bezug auf diese Dienste als Anbieter betrachtet und Unternehmen, die diese Dienste nutzen, werden als Abnehmer eingestuft, unabhängig davon, ob sie für die Dienste bezahlen (Art. 1 Abs. 1 lit. d VGVO). 

Dies hat folgende Konsequenzen:

  1. Der Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten kann nicht als Abnehmer der über den Online-Vermittlungsdienst angebotenen Waren angesehen werden;
  2. der Marktanteil des Anbieters von Online-Vermittlungsdiensten für diese Dienste ist für die Marktanteilsschwelle von 30 % relevant;
  3. ein Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten kann Unternehmen, die diese Dienste nutzen, nur innerhalb der Grenzen von Art. 4 VGVO Verkaufsbeschränkungen auferlegen;
  4. ein Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten kann Unternehmen, die den Dienst nutzen, keine plattformübergreifenden Paritätsverpflichtungen auferlegen (Art. 5 Abs. 1 lit. d) VGVO).

Wichtig ist, dass die Freistellung durch die VGVO nicht gilt, wenn der Anbieter der Dienste eine sog. Hybridstellung hat und mit den Unternehmen, die die Vermittlungsdienste nutzen, beim Verkauf der vermittelten Waren oder Dienstleistungen im Wettbewerb steht (Art. 2 Abs. 6 VGVO).

8. Neue Kernbeschränkung für den Online-Vertrieb

Die neue VGVO enthält mit Art. 4 lit. e) erstmals eine ausdrückliche Kernbeschränkung, die sich speziell mit dem Online-Vertrieb befasst: Vereinbarungen, die bezwecken, die effektive Nutzung des Internets für den Vertrieb von Vertragswaren oder -dienstleistungen zu beschränken, sind nicht gruppenfreigestellt. Dies gilt auch unbeschadet der Möglichkeit, dem Händler andere Beschränkungen des Online-Verkaufs oder Beschränkungen der Online-Werbung aufzuerlegen, die nicht darauf abzielen, die Nutzung eines gesamten Werbekanals zu verhindern. Zu solchen Kernbeschränkungen des Online-Vertriebs gehören bspw. vertikale Vereinbarungen, die darauf abzielen, das Gesamtvolumen des Online-Verkaufs der Vertragswaren oder ‑dienstleistungen oder die Möglichkeit für Verbraucher, diese online zu erwerben, erheblich zu verringern.

Zur Beurteilung einer Beschränkung als Kernbeschränkung nach Art. 4 lit. e) VGVO müssen nach Ansicht der Kommission der Inhalt und der Kontext der Beschränkung berücksichtigt werden. Die Beurteilung hänge aber nicht von marktspezifischen Umständen oder individuellen Eigenschaften der beteiligten Unternehmen ab (15, 203 VLL). Als Kernbeschränkung für den Online-Vertrieb wird z.B. das Verbot für den Händler, die Warenzeichen oder den Markennamen des Anbieters auf seiner Website zu verwenden, genannt (206 VLL). Andere Beschränkungen des Online-Verkaufs oder der Online-Werbung könnten durch die VGVO gruppenweise freigestellt werden, z.B. wenn die Beschränkungen der Online-Werbung sich auf den Inhalt der Online-Werbung beziehen oder bestimmte Qualitätsanforderungen festlegen (207, 210 VLL). Im Allgemeinen werden Online-Verkaufs- und -Werbebeschränkungen nicht als Kernbeschränkungen eingestuft, wenn es dem Händler freisteht, seinen eigenen Online-Shop zu betreiben und online zu werben (208 VLL).

9. Doppelpreissysteme für Online-/Offline-Verkauf erlaubt und das Äquivalenzprinzip entfällt

Bisher wurden Doppelpreissysteme als Kernbeschränkung betrachtet, aber nach den Anforderungen der neuen VLL kann derselbe Abnehmer für Produkte, die online verkauft werden, einen anderen (z.B. höheren) Großhandelspreis zahlen als für Produkte, die offline verkauft werden, und somit von der VGVO profitieren (209 VLL). Solche Preisunterschiede dürfen jedoch nicht bezwecken, dass die tatsächliche Nutzung des Internets durch den Abnehmer verhindert wird, um die Vertragswaren oder -dienstleistungen an bestimmte Gebiete oder Kunden zu verkaufen (siehe Art. 4 lit. e) VGVO). Dies wäre der Fall, wenn der Unterschied den Online-Verkauf unrentabel oder finanziell nicht tragbar macht (209 VLL). Als weiteres Beispiel nennen die Leitlinien die Verwendung eines Doppelpreissystems, um die Anzahl der Produkte zu verringern, die dem Abnehmer für den Online-Verkauf zur Verfügung gestellt werden (209 VLL). Generell ist maßgeblich, ob der Preisunterschied auf Großhandelsebene in einem angemessenen Verhältnis zu den unterschiedlichen Investitionen und Kosten steht, die dem Abnehmer für den Verkauf in den einzelnen Vertriebskanälen entstehen (209 VLL).

Die Kommission hat auch den Grundsatz der Gleichwertigkeit (Äquivalenzprinzip) aufgegeben. Nach den neuen VLL müssen die von den Anbietern auferlegten Kriterien in Bezug auf Online-Shops nicht mehr gleichwertig mit den Kriterien sein, die für stationäre Geschäfte gelten, sofern der neue Art. 4 e) gewahrt wird.

10. Weitere Hinweise für das Verbot von Online-Marktplätzen und Preisvergleichsinstrumenten

In Übereinstimmung mit dem EuGH-Urteil in der Rechtssache Coty sehen die VLL vor, dass das Verbot der Nutzung von Online-Marktplätzen grds. durch die VGVO gruppenfreigestellt ist (208 VLL). Dies gelte nicht nur für Totalverbote, sondern auch für andere (begrenztere) Beschränkungen (z.B. Doppelpreissysteme). Ein direktes oder indirektes Totalverbot aller Preisvergleichsinstrumente stufen die Leitlinien im Allgemeinen als Kernbeschränkung ein (203, 347 VLL), so wie es auch der Bundesgerichtshof in der Rechtssache Asics entschieden hat. Die Auferlegung von Qualitätsanforderungen oder das Verbot einiger Preisvergleichsinstrumente bleibt nach Ansicht der Kommission jedoch möglich (349 VLL).

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