Der neue Jahresbericht des Bundeskartellamts zeigt: Kartelle werden nach kurzer Pandemie-Pause wieder verstärkt verfolgt. Anlass für eine 10-Jahres-Analyse.
Am 11. Juli 2023 legte das Bundeskartellamt seinen Jahresbericht 2022/23 vor. Der Bericht führt u.a. wichtige Verfahren sowie Daten und Fakten zur Durchsetzungspraxis des Amtes auf. Nach der erschwerten Kartellverfolgung während der Corona-Pandemie scheint das Bundeskartellamt wieder durchzustarten: 2022/23 erreichte die Zahl der Durchsuchungen den Höchststand seit 2015. Unternehmen sollten entsprechend vorbeugen.
Jahresbericht des Bundeskartellamts 2023: Die Key Facts
Die wichtigsten Daten aus dem Jahresbericht auf einen Blick:
- Die verhängten Bußgelder im Jahr 2022 beliefen sich auf insgesamt EUR 24 Mio. Sie entfielen in vier Verfahren auf insgesamt 20 Unternehmen und Verbände und sieben natürliche Personen. Auffällig: Alle Verfahren betrafen die Bauindustrie (dort Brückendehnfugen, Industriebau und Straßenbau).
- Beim Amt gingen 13 Kronzeugenanträge ein.
- Die Bonner Wettbewerbshüter führten 18 Durchsuchungen bei insgesamt 76 Unternehmen und Verbänden und in 12 Privatwohnungen durch.
Bußgelder auf dem Tiefstand
Die Gesamtsumme der verhängten Bußgelder erscheint – besonders verglichen mit den Bußgeldern der vergangenen Jahre – sehr gering. Erklären lässt sich dieser niedrige Wert u.a. mit den Charakteristika der Kartelle (Nischenprodukte, lokale Auswirkungen oder kleinere Unternehmen) und der Kooperationsbereitschaft der Unternehmen (in zwei Verfahren gab es ein sog. Settlement).
Hinzu kommen die v.a. corona-bedingt wenigen Durchsuchungen der letzten Jahre (2019 fünf Durchsuchungen; 2020 und 2021 jeweils nur zwei Durchsuchungen). Ohne Durchsuchungen hat das Amt weniger Beweismittel als Grundlage einer rechtssicheren Entscheidung. Insofern ist aufgrund des Höchststands an Durchsuchungen in 2022 (dazu sogleich) wieder ein Anstieg der Entscheidungen und damit der Gesamtbußgelder für die nächsten Jahre zu erwarten.
Durchsuchungen zur Beweissicherung von Kartellverstößen auf höchstem Stand seit 2015
Während der Corona-Pandemie sei das Bundeskartellamt laut seinem Präsidenten Andreas Mundt bei der Kartellverfolgung ein wenig „ausgebremst“ worden. Es sei nicht einfach, unter Pandemiebedingungen Verfahren voranzutreiben, die auf Durchsuchungen von Geschäfts- und Privaträumen zur Beweissicherung angewiesen sind. Mit 18 Durchsuchungen verzeichneten die Bonner Wettbewerbshüter nun aber den höchsten Wert seit 2015.
Kronzeugenanträge von Kartellanten gehen zurück – zu unattraktiv?
Kronzeugenanträge können zu einem Erlass oder einer Reduktion des Bußgelds führen. Die §§ 81h bis 81n GWB regeln detailliert das sog. Kronzeugenprogramm. Ein Kartellant, der als Erster Beweismittel vorlegt, die das Bundeskartellamt zu dem Zeitpunkt, zu dem es den Antrag auf Kronzeugenbehandlung erhält, erstmals in die Lage versetzen, einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken, erhält unter weiteren Voraussetzungen einen Bußgelderlass (§ 81k Abs. 1 GWB). Um immerhin noch eine Ermäßigung zu erlangen, müssen Kartellanten u.a. Beweismittel vorlegen, die im Hinblick auf den Nachweis der Tat gegenüber den Informationen und Beweismitteln, die dem Bundeskartellamt bereits vorliegen, einen erheblichen Mehrwert aufweisen (§ 81l Abs. 1 GWB). Dabei richtet sich der Umfang der Ermäßigung insbesondere nach dem Nutzen der Informationen und Beweismittel sowie nach dem Zeitpunkt der Kronzeugenanträge (§ 81l Abs. 2 GWB). Häufig entwickeln sich nach oder schon im Laufe von Durchsuchungen regelrechte „Windhundrennen“ um den besten Rang nach dem initialen Whistleblower. Das GWB sieht mittlerweile auch die Möglichkeit eines sog. Markers vor, der zunächst nur die Bereitschaft zur Zusammenarbeit erklärt, aber rangsichernd wirkt (§ 81m GWB).
Trotz des (vermeintlich) attraktiven Kronzeugenprogramms verzeichnete das Bundeskartellamt in den vergangenen Jahren einen Rückgang an Kronzeugenanträgen. Während die Zahl der Anträge von 2010 (10 Anträge) bis 2015 anstieg (76 Anträge), waren es 2022 nur noch 13 Kronzeugenanträge.
Die stark rückläufige Anzahl an Kronzeugenanträgen wirft die Frage auf: Gab es in den letzten Jahren wegen funktionierender Compliance-Programme insgesamt weniger Kartelle, die überhaupt durch einen Kronzeugenantrag hätten aufgedeckt werden können? Oder gibt es andere Gründe für die tendenziell sinkenden Kronzeugenanträge?
Die Monopolkommission hat das Problem ebenfalls erkannt (siehe ihr XXIV. Hauptgutachten „Wettbewerb 2022“; das Gutachten zeigt, dass es sich sogar um einen weltweit zu beobachtenden Trend handelt). Danach könnte der Rücklauf von Kronzeugenanträgen ein Indiz dafür sein, dass das Kronzeugenprogramm ohnehin schon fragile Kartelle noch weiter destabilisiert und daher präventiv gegen die Bildung von Kartellen wirkt. Weiter lässt sich die rückläufige Zahl der Anträge auch darauf zurückzuführen, dass potenzielle Kronzeugen bei Aufdeckung des Kartells zwar einen Bußgelderlass erhalten, ihnen aber Nachteile im Kartellschadensersatzverfahren drohen. Zu berücksichtigen ist schließlich der Rückgang an Durchsuchungen in den vergangenen Jahren. Wie die obigen Grafiken verdeutlichen, verhält sich die Entwicklung der Kronzeugenanträge weitgehend parallel zu der der Durchsuchungen – wenngleich 2022 insoweit eine Ausnahme darstellt. Der Hintergrund mag sein, dass viele Unternehmen einen Kronzeugenantrag erst während oder nach einer Durchsuchung stellen.
Um die Attraktivität des Kronzeugenantrags und damit die Durchsetzung des Kartellrechts zu steigern, schlägt die Monopolkommission im privaten Schadensersatzverfahren eine nur nachrangige Haftung des Kronzeugen, dem ein vollständiger Erlass der Geldbuße gewährt wurde, vor. Er soll erst dann zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein, wenn von den übrigen Kartellanten kein vollständiger Ersatz erlangt werden kann (eine Ausnahme soll für marktbeherrschende Kronzeugen gelten, weil sie regelmäßig aufgrund hoher Umsätze und Marktanteile sowie ihrer besonderen Rolle im Markt eine große relative Verantwortung für den Schaden tragen sollen). Die derzeit gültige Sonderregelung des § 33e GWB geht bislang noch nicht so weit: Nach dessen Abs. 1 S. 1 ist der Kronzeuge nur zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der seinen unmittelbaren und mittelbaren Abnehmern oder Lieferanten aus dem Verstoß entsteht; nur im Übrigen haftet er nachrangig.
Ausblick: „Kein Kartell kann sich sicher fühlen“
Die neue Höchstzahl an Durchsuchungen ist ein deutliches Signal an Kartellanten: Das Bundeskartellamt ist aus seinem Corona-Schlaf erwacht. Andreas Mundt macht im Jahresbericht 2022/23 eine klare Ansage:
Kein Kartell kann sich sicher fühlen. Die Aufdeckung bleibt effektiv.
Handlungsempfehlungen für Unternehmen: Kartellrechts-Compliance etablieren
Für Unternehmen lassen sich daraus v.a. die folgenden Handlungsempfehlungen ableiten:
- Vorsicht ist besser als Nachsicht:
- Unternehmen sollten in eine effektive Kartellrechts-Compliance investieren.
- Zudem sollten sie für den Fall einer Durchsuchung vorbereitet sein. Eine Dawn-Raid-Schulung inkl. Leitfaden ist ein Muss, eine Mock-Dawn-Raid eine sinnvolle Ergänzung.
- Aktiv ist besser als passiv:
- Sollte ein Kartell unternehmensintern bekannt sein/werden, empfiehlt sich vielfach eine Zusammenarbeit mit den Kartellbehörden.
- Ein Kronzeugenantrag bedarf guter Vorbereitung und muss zugleich schnell erfolgen.