Zum Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshof vom 21. Dezember 2023 (Az. I ZR 17/23).
Die EU-Medizinprodukteverordnung (MDR, Verordnung [EU] 2017/745) regelt den Pflichtenkreis für Händler von Medizinprodukten:
Bevor Händler ein Medizinprodukt (oder Zubehör für ein Medizinprodukt) auf dem Markt bereitstellen, sind sie nach Art. 14 MDR unter anderem verpflichtet, zu überprüfen, ob dieses Produkt die CE-Kennzeichnung trägt und ob der Hersteller eine EU-Konformitätserklärung für das Produkt ausgestellt hat.
Was gilt aber dann, wenn einem Medizinprodukt nur eine Konformitätserklärung des Herstellers beigefügt ist, die sich auf die RL 2006/42/EG über Maschinen bezieht, der Hersteller das Produkt also lediglich als „technisches Gerät“ und nicht als Medizinprodukt in den Verkehr gebracht hat? Darf sich ein Händler von technischen Geräten für die Einordnung und Einhaltung der für das Produkt jeweils vorgeschriebenen rechtlichen Regelungen auf die Angaben des Herstellers verlassen oder muss er anhand der dem Produkt beiliegenden Gebrauchsanweisung selbst prüfen, ob das Produkt eine medizinische Zweckbestimmung hat und damit regulatorisch als Medizinprodukt einzustufen ist?
Und muss der Händler nur formal prüfen, ob ein CE-Kennzeichnen angebracht und eine EU-Konformitätserklärung nach der MDR für das Produkt ausgestellt worden ist? Oder muss er die vom Hersteller beigebrachte EU-Konformitätserklärung einschließlich der Klassifizierung in eine der Risikoklassen auch inhaltlich bewerten und prüfen?
Diese Fragen beantwortet auch der Blue Guide (Bekanntmachung der Europäischen Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2022, ABl. 2022/C 247/01) bislang nicht.
Licht ins Dunkel soll bald der Europäische Gerichtshof bringen, dem der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 21. Dezember 2023 (Az. I ZR 17/23, GRUR 2024, 227) fünf Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat.
Händler verkauft Kompressoren ohne medizinprodukterechtliche CE-Kennzeichnung
Die Klägerin ist eine Herstellerin von Kompressoren zur Erzeugung von Druckluft für die zahnmedizinische Behandlung. Sie verlangt von der Beklagten, einem Händler von eben solchen Kompressoren, den Vertrieb dieser Produkte ohne medizinprodukterechtliche CE-Kennzeichnung und ohne vierstellige Kennnummer einer Benannten Stelle zu unterlassen. Hilfweise verlangt die Klägerin die Unterlassung des Vertriebs dieser Produkte nur ohne medizinprodukterechtliche CE-Kennzeichnung. Sie stützt ihr Begehren auf §§ 8 Abs. 1 S. 1, 3 Abs. 1, 3a UWG i.V.m. Art. 14 Abs. 2 MDR.
Nach dem Inhalt der Gebrauchsanweisung der der Beklagten gelieferten Kompressoren sind diese zur Erzeugung von Druckluft für die zahnmedizinische Behandlung bestimmt. Es handelt sich also um Zubehör für Medizinprodukte der Risikoklasse IIa. Insoweit genügen die Kompressoren nicht den Anforderungen der MDR, weil sie nicht die nach Art. 20 Abs. 1 MDR erforderliche CE-Kennzeichnung tragen, mit der der Hersteller angibt, dass ein Produkt den einschlägigen Anforderungen genügt. Die Kompressoren tragen zwar ein CE-Kennzeichen; dieses bezieht sich aber gemäß der Konformitätserklärung des Herstellers auf die RL 2006/42/EG über Maschinen.
Bei der Beantwortung der Frage, ob die Beklagte als Händlerin gem. Art. 14 Abs. 2 Unterabsatz 3 der MDR tatsächlich „Grund zu der Annahme“ hatte, dass die ihr gelieferten Kompressoren nicht den Anforderungen der MDR entsprechen, kommt es – wie so oft – auf die konkrete Fallgestaltung an.
Einen ersten Testkauf führte die Klägerin im November 2020 durch. Daraufhin hatte sie die Beklagte abgemahnt und ihre Rechtsauffassung hinsichtlich einer falschen CE-Kennzeichnung dargelegt.
Einen zweiten Testkauf führte die Klägerin Anfang des Jahres 2021 durch. Weiter fehlten eine medizinprodukterechtliche CE-Kennzeichnung/EU-Konformitätserklärung. In der Zwischenzeit – mithin nach der ersten Abmahnung – hatte die Beklagte den Hersteller kontaktiert, der bestätigt hatte, dass es sich bei den Kompressoren nicht um Medizinprodukte handelte. Gleichzeitig hatte sie sich mit der Aufsichtsbehörde (Gewerbeaufsichtsamt) in Verbindung gesetzt, die zu dem Schluss kam, dass hoheitliche Maßnahmen nicht erforderlich seien und das Produkt unverändert im Verkehr bleiben könne.
Was gilt also im Fall des zweiten Testkaufs, wenn ein Händler – wie hier – von Wettbewerbern auf eine vermeintlich falsche CE-Kennzeichnung ausdrücklich hingewiesen worden ist? Reicht es in diesem Fall, sich vom jeweiligen Hersteller noch einmal bestätigen zu lassen, dass es sich nicht um ein Medizinprodukt handelt? Oder muss der Händler dies selbstständig prüfen?
Die Instanzgerichte gehen von beschränkten Prüfpflichten der Händler aus
Sowohl das Landgericht Stade (Urteil v. 20. Oktober 2021 – 8 O 19/21, BeckRS 2021, 60043) als auch das Oberlandesgericht Celle (Urteil v. 19. Januar 2023, Az. 13 U 79/21, GRUR-RR 2023, 360) haben beschränkte Prüfpflichten der Händler angenommen und differenzieren wie folgt:
- Händler müssen anhand der jeweiligen Gebrauchsanweisung überprüfen, ob es sich um ein Medizinprodukt (oder um Zubehör für ein Medizinprodukt) handelt.
- Ist dies der Fall, müssen die Händler weiter prüfen, ob das Produkt eine entsprechende CE-Kennzeichnung trägt und ob eine EU-Konformitätserklärung nach der MDR ausgestellt wurde. Ist dies – wie hier – nicht der Fall, dürfen Händler das Produkt nicht am Markt bereitstellen.
- Nicht verpflichtet sind Händler, die Einordnung des Produkts in die jeweilige Risikoklasse auf Richtigkeit zu überprüfen. Sie müssen also nicht der Frage nachgehen, ob das Produkt auch mit der vierstelligen Kennnummer der Benannten Stelle gekennzeichnet werden muss.
Der Bundesgerichtshof stellt dem EuGH fünf Fragen zur Auslegung von Art. 14 MDR
Am 21. Dezember 2023 hat der Bundesgerichtshof (BGH, Beschl. vom 21.12.2023, Az. I ZR 17/23, GRUR 2024, 227) das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH fünf Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Entscheidend sei – so der Bundesgerichtshof – ob die Beklagte gem. Art. 14 Abs. 2, Unterabsatz 3 MDR „Grund zu der Annahme“ gehabt habe, dass die gelieferten Kompressoren nicht den Anforderungen der MDR entsprechen, weil sie keine CE-Kennzeichnung als Medizinprodukt trugen. Dies sei – so der Bundesgerichtshof – abhängig von der Reichweite der jeweiligen Prüfpflichten nach Art. 14 Abs. 1, Abs. 2, Unterabsatz 1, lit. a) MDR.
Der Bundesgerichtshof formuliert fünf Fragen:
1. Ist ein Händler gem. Art. 14 Abs. 1, Abs. 2, Unterabsatz 1, lit. a), Unterabsatz 3 MDR verpflichtet zu prüfen, ob das von ihm bereitgestellte Produkt als Medizinprodukt anzusehen ist und es deshalb eine CE-Kennzeichnung als Medizinprodukt trägt sowie vom Hersteller eine EU-Konformitätserklärung für ein Medizinprodukt ausgestellt worden ist?
2. Ist es für die vorstehende Frage 1 entscheidend, ob das Produkt vom Hersteller
- überhaupt mit einer CE-Kennzeichnung versehen worden ist;
- als Medizinprodukt oder Zubehör eines Medizinprodukts mit einer CE-Kennzeichnung versehen worden ist;
- nicht als Medizinprodukt oder Zubehör eines Medizinprodukts, sondern bezogen auf die RL 2006/42/EG über Maschinen mit einer CE-Kennzeichnung versehen worden ist?
3. Ist ein Händler nach Art. 14 Abs. 2, Unterabsatz 1, lit. a) MDR i.V.m. Art. 14 Abs. 1 MDR auch verpflichtet, zu prüfen, ob das Medizinprodukt in die Risikoklasse IIa einzuordnen ist und deshalb zusätzlich mit einer vierstelligen Kennnummer der Benannten Stelle versehen sein muss?
4. Kommt es für die Beurteilung, ob ein Händler „Grund zu der Annahme“ im Sinne von Art. 14 Abs. 2, Unterabsatz 3 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 MDR hat, dass das Medizinprodukt nicht den Anforderungen der MDR entspricht, drauf an, dass der Händler von einem Wettbewerber durch eine Abmahnung von dessen Rechtsansicht Kenntnis erlangt, das Produkt sei nicht gemäß den Anforderungen der MDR mit der erforderlichen CE-Kennzeichnung sowie einer Kennnummer der Benannten Stelle versehen?
5. Kommt es für die vorstehende Frage 4 darauf an, ob
- die Abmahnung eines Wettbewerbers einen klaren Hinweis auf eine Rechtsverletzung enthält, also so konkret gefasst ist, das der Händler den Rechtsverstoß unschwer und ohne eingehende rechtliche oder tatsächliche Prüfung feststellen kann;
- dem Händler auf seine Nachfrage vom Hersteller oder einer Behörde mitgeteilt worden ist, die mit der Abmahnung erhobenen Beanstandungen seien unbegründet?
BGH hält es für zumutbar, dass Händler mit der gebührenden Sorgfalt prüfen müssen, ob es sich um ein Medizinprodukt handelt
Der Bundesgerichtshof legt die Prüfpflichten von Händlern nach Art. 14 MDR aus.
Händlern könne zugemutet werden, bei der Bereitstellung eines Produkts auf dem Markt im Rahmen ihrer Tätigkeit mit der gebührenden Sorgfalt zu prüfen, ob es sich um ein Medizinprodukt (oder um Zubehör für ein Medizinprodukt) handelt und ob dieses Produkt die danach erforderliche CE-Kennzeichnung trägt.
Zwar bestimme der Wortlaut des Art. 14 Abs. 1 MDR keine uneingeschränkte Prüfpflicht der Händler. So müssten Händler nur die „gebührende Sorgfalt“ walten lassen. Hinzu komme, dass – auch nach der MDR – für eine ordnungsgemäße CE-Kennzeichnung in erster Linie der Hersteller und nicht die Händler verantwortlich sei.
Sinn und Zweck des Art. 14 MDR dürften aber – so der BGH – dafürsprechen, eine Prüfpflicht der Händler auch dann anzunehmen, wenn der Hersteller das jeweilige Produkte nicht als Medizinprodukt (oder Zubehör eines Medizinprodukts) eingestuft hat. Der BGH verweist insoweit auf den Schutzzweck der MDR (Produktsicherheit und Gesundheitsschutz). Diesen Zielen diene auch die Überprüfung der originär dem Hersteller obliegenden CE-Kennzeichnung und EU-Konformitätserklärung. Auch nach dem Blue Guide (Bekanntmachung der Europäischen Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2022, ABl. 2022/C 247/01) komme dem Händler bei der Marktüberwachung eine „Schlüsselrolle“ zu.
Wann Händler im Sinne des Art. 14 Abs. 2 MDR „Grund zu der Annahme“ haben, dass ein Produkt nicht den Anforderungen der MDR entspricht, sei unter Berücksichtigung des Maßstabs der gebührenden Sorgfalt in Art. 14 Abs. 1 MDR auszulegen. Dies solle nach Ansicht des BGH
jeden Gesichtspunkt umfassen, den ein vernünftiger, mit normaler Umsicht handelnder Händler, der unter Berücksichtigung der Umstände angemessene Anstrengungen unternimmt, Schaden von anderen abzuwenden, zum Anlass nehmen wird, die Frage der Kennzeichnung des Produkts gemäß den Anforderungen der Verordnung (EU) 2017/745 zu überprüfen.
Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs hat ein Händler jedenfalls dann „Grund zu der Annahme“, dass ein Produkt nicht den Anforderungen der MDR entspricht, wenn er – etwa in Form einer Abmahnung – einen klaren Hinweis auf eine Rechtsverletzung enthält, der so konkret gefasst ist, dass der Händler den Rechtsverstoß ohne eingehende rechtliche oder tatsächliche Überprüfung feststellen kann.
Hat der Händler nach diesen Maßstäben „Grund zu der Annahme“, dass ein Produkt nicht den Anforderungen der MDR entspricht, könne er sich – so der Bundesgerichtshof – nicht mit Erfolg darauf berufen, ihm sei auf seine Nachfrage vom Hersteller oder einer Behörde mitgeteilt worden, dass die Beanstandungen in der Abmahnung unbegründet seien. Der Händler habe also nicht nur den Hersteller, dessen Bevollmächtigten und den Importeur zu informieren; er darf das Produkt auch nicht auf dem Markt bereitstellen, bevor dessen Konformität hergestellt ist.
Demgegenüber verneint der Bundesgerichtshof – schon nach dem Wortlaut des Art. 14 MDR und nach seinem Sinn und Zweck – eine Pflicht der Händler, zu prüfen, ob die vierstellige Kennnummer der Benannten Stelle angegeben wird.
Die Entscheidung des EuGH wird den Pflichtenkreis der Händler maßgeblich mitbestimmen
Für Händler von Medizinprodukten hat der Umfang der Prüfpflichten nach Art. 14 MDR eine enorme Bedeutung. Schließlich ist es in vielen Fällen eine komplexe Frage, ob ein Produkt „nur“ ein technisches Gerät oder aber ein Medizinprodukt ist. Erst recht gilt die für die Einordnung eines Medizinprodukts in eine bestimmte Risikoklasse.
Vor diesem Hintergrund ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass der Europäische Gerichtshof anlässlich dieses Falls eine ganze Reihe offener Fragen beantworten wird.
Mit besonderer Spannung erwartet werden darf die Antwort auf die Frage, ob Händler auch verpflichtet sind, die vom Hersteller zunächst vorgegebene Risikoklasse der Produkte zu überprüfen. Bejaht der Europäische Gerichtshof eine solche Prüfpflicht, wäre dies eine enorme Erweiterung des Pflichtenkreises von Händlern von Medizinprodukten. Denn – rein praktisch – ist eine solche Prüfung ohne Zugang zu der technischen Dokumentation des Herstellers, die der Klassifizierung jeweils zugrunde liegt, sehr herausfordernd.