„Populationsbezug“ oder „Individuenbezug“ beim artenschutzrechtlichen Störungsverbot? Diese Frage hat das Bundesverwaltungsgericht endlich geklärt.
Die europäische Vogelschutzrichtlinie und die europäische Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie) schaffen mit den sog. Zugriffsverboten ein strenges Schutzregime für bestimmte besonders geschützte Tierarten. Dazu gehören u.a. alle europäischen Vogelarten. Deutschland hat die Vorgaben der beiden Richtlinien in § 44 Bundesnaturschutzgesetz umgesetzt. Danach ist es insbesondere verboten, Tiere der geschützten Arten absichtlich zu fangen, zu töten, zu stören oder ihre Fortpflanzungs- und Ruhestätten zu beschädigen oder zu zerstören. Problematisch werden diese Verbote vor allem bei größeren Bauvorhaben, für die Flächen freigeräumt werden müssen. Dazu müssen z.B. Baumhöhlen nach Nestern abgesucht, Brut- und Überwinterungszeiten abgewartet und eventuell verbliebene Tiere vergrämt oder umgesiedelt werden.
Zugriffsverbote sind rechtlich unterschiedlich ausgestaltet
Für das artenschutzrechtliche Tötungsverbot gilt der sog. „Individuenbezug“, d.h., es kommt darauf an, ob ein einzelnes Tier einer besonders geschützten Art getötet oder verletzt wird. Eine Störung liegt nach deutschem Recht dagegen nur dann vor, wenn sich der Erhaltungszustand der lokalen Population durch die Störung verschlechtert. Verboten ist also nicht jede Störung – etwa das Aufscheuchen – eines einzelnen Tieres, sondern nur die daraus resultierende Störung einer ganzen lokalen Gruppe.
So sieht es auch der Wortlaut der europäischen FFH-Richtlinie vor. Allerdings hatte der Europäische Gerichtshof im Jahr 2021 Zweifel an diesem wörtlichen Verständnis der FFH-Richtlinie geweckt (Az. C-473/19 und C-474/19 – Föreningen Skydda Skogen). Denn die Entscheidung konnte so interpretiert werden, dass es auch beim Störungsverbot auf das einzelne Tier ankommt. In der Folge hatten Vorhabenträger häufig erheblichen Aufwand betrieben, um ihre artenschutzrechtlichen Prüfungen vorsorglich auf ein solches strenges Verständnis umzustellen.
Eine klare Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
Die entstandenen Zweifel hat das Bundesverwaltungsgericht nun ausgeräumt. In dem jetzt veröffentlichten Urteil des 7. Senats vom 6. Oktober 2022 (Az. 7 C 4/21) ging es um die Zulassung eines bergrechtlichen Rahmenbetriebsplans zur Erweiterung eines Quarzsand- und Kiestagebaus in Hessen. Das Bundesverwaltungsgericht hat die dagegen gerichtete Klage eines Umweltverbandes in letzter Instanz abgewiesen. Dabei hat es klargestellt, dass beim Störungsverbot im Einklang mit der FFH-Richtlinie auf die lokale Population abgestellt werden darf.
Zur Begründung hat das Bundesverwaltungsgericht vor allem auf den Wortlaut der FFH-Richtlinie verwiesen. Aus diesem ergebe sich, dass das Störungsverbot bereits auf europäischer Ebene einen art- bzw. populationsbezogenen Schutzansatz verfolge. Nichts anderes hat nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auch der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil aus dem Jahr 2021 festgestellt. In dieser Entscheidung hat der Gerichtshof nämlich lediglich eine (schwedische) Regelung für unwirksam erklärt, nach der es auf den Erhaltungszustand der betroffenen Art in ganz Schweden ankam. Die deutsche Regelung stellt dagegen auf den Erhaltungszustand der lokalen Population und damit auf eine wesentlich kleinere Gruppe ab, so das Bundesverwaltungsgericht. Belästigungen und geringfügige Störungen, die keine Auswirkungen auf den Fortpflanzungserfolg und damit auch nicht auf die Erhaltung der Art haben können, werden nach Sinn und Zweck der Richtlinie nicht von dem europäischen Verbot erfasst. Zudem sind Störungen einzelner Tiere bei kaum einem Bauvorhaben vermeidbar. Bei einem „Individuenbezug“ des Störungsverbots, so das Bundesverwaltungsgericht, wären künftig alle Vorhaben nur noch mit einer behördlichen Ausnahmegenehmigung genehmigungsfähig.
Eine gute Nachricht für die Praxis
Mit seiner Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht die Verwirrung beseitigt, die der Europäische Gerichtshof im Jahr 2021 gestiftet hatte. Damit steht bis auf Weiteres fest, dass das Störungsverbot – wie es der deutschen Regelung entspricht – nicht „individuenbezogen“, sondern – bezogen auf die lokale Population – „populationsbezogen“ geprüft werden kann. Dies erleichtert die Prüfung des Störungsverbotes für Vorhabenträger und Genehmigungsbehörden erheblich und beseitigt potenzielle Angriffspunkte für Projektgegner.