Die Bundesregierung will den Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung in den Verwaltungsprozess einführen.
Am 11. September 2020 hat der Deutsche Bundestag erstmals über den Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung von Investitionen (sogenanntes „Investitionsbeschleunigungsgesetz“, BT-Drs. 19/22139) der Bundesregierung debattiert. Durch die darin enthaltenen Änderungen sollen Mittel, die für Investitionen zur Verfügung stehen, schneller eingesetzt werden können sowie die Wirkung vorangegangener Gesetze zur Planungsbeschleunigung erhöht werden. Zu den beschleunigenden Maßnahmen zählen unter anderem Vereinfachungen im Raumordnungsrecht und bei der Genehmigung der Elektrifizierung von Schienenstrecken sowie Maßnahmen zur Beschleunigung der Gerichtsverfahren. Art. 1 des Gesetzentwurfs enthält Änderungen der Verwaltungsgerichtsordnung.
Überblick über die Änderungen der Verwaltungsgerichtsordnung
§ 48 Abs. 1 VwGO enthält einen Katalog von Streitigkeiten, über die im ersten Rechtszug das Oberverwaltungsgericht bzw. der Verwaltungsgerichtshof entscheidet. In diesen Katalog sollen nun auch Streitigkeiten aufgenommen werden, die die Errichtung, den Betrieb und die Änderung von Anlagen zur Nutzung von Windenergie an Land mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 Metern betreffen. § 48 Abs. 1 VwGO soll künftig auch gelten für Streitigkeiten über Planfeststellungsverfahren für den Bau oder die Änderung von Landesstraßen sowie Planfeststellungsverfahren nach § 68 Abs. 1 WHG für die Errichtung, die Erweiterung oder die Änderung von Häfen, die für Wasserfahrzeuge mit mehr als 1350 Tonnen Tragfähigkeit zugänglich sind, sowie für die Erweiterung oder die Änderung von Wasserkraftwerken mit einer elektrischen Nettoleistung von mehr als 100 Megawatt und Planfeststellungsverfahren nach dem Bundesberggesetz.
Zudem sollen nach dem neu zu schaffenden § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3a VwGO Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen Infrastrukturvorhaben von überregionaler Bedeutung grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung mehr haben. Gleiches soll durch eine Änderung des Bundesimmissionsschutzgesetzes für Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die Zulassung einer Windenergieanlage an Land mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 Metern gelten.
Nach dem neu zu schaffenden § 101 Abs. 1 Satz 2 VwGO soll die mündliche Verhandlung so früh wie möglich stattfinden.
Der Gesetzentwurf begründet die Änderungen der Verwaltungsgerichtsordnung damit, dass die Gesamtdauer der verwaltungsgerichtlichen Verfahren durch eine Verkürzung des Instanzenzuges reduziert werden und durch das Gebot einer möglichst frühen Terminierung eine Verfahrensbeschleunigung eintreten solle.
Ob das für § 101 Abs. 1 VwGO geplante Gebot einer möglichst frühen Terminierung der mündlichen Verhandlung vor dem Hintergrund grundlegender Prinzipien des Verwaltungsprozesses mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit vereinbar ist, erscheint jedoch zweifelhaft.
Verfahrensbeschleunigung vs. Amtsermittlungsgrundsatz
Eine mit § 101 Abs. 1 Satz 2 VwGO des Gesetzentwurfs vergleichbare Regelung enthält auch die Zivilprozessordnung. § 272 Abs. 3 ZPO schreibt vor, dass die mündliche Verhandlung so früh wie möglich stattfinden soll. Die damit bezweckte Verfahrensbeschleunigung ist als zivilprozessuales Prinzip anerkannt und spiegelt sich in weiteren prozessualen Mitwirkungspflichten der Parteien bei der Sachverhaltsbeschaffung und bei der Beweisführung im Zivilprozess wider. Insbesondere haben die Parteien im Zivilprozess gemäß § 138 ZPO ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig abzugeben sowie sich über die von dem Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären (Beibringungsgrundsatz). Tatsachen, die nicht ausdrücklich bestritten werden, sind als zugestanden anzusehen, wenn nicht die Absicht, sie bestreiten zu wollen, aus den übrigen Erklärungen der Partei hervorgeht.
Demgegenüber ist der Verwaltungsprozess durch den Untersuchungsgrundsatz gekennzeichnet. Gemäß § 86 Abs. 1 VwGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei lediglich heranzuziehen. An das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist das Gericht nicht gebunden. Dieser Amtsermittlungsgrundsatz verpflichtet das Gericht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts. Maßgeblich für die Sachverhaltsaufklärung sind insbesondere die Sachakten der Behörde zu dem jeweiligen Verfahren. Ein privater Prozessbeteiligter kann seinen Rechtsbehelf meist erst vertieft begründen, nachdem ihm Einsicht in die vollständigen Verfahrensakten der Behörde gewährt worden ist. Von der Begründungstiefe hängen die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs maßgeblich ab.
Zwar sind Behörden gemäß § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Vorlage ihrer Akten an das Gericht verpflichtet. Weigert sich die Behörde aber, das Auskunfts- oder Vorlagebegehren des Gerichts zu erfüllen, stehen dem Gericht keine Zwangsmittel zur Verfügung, um die Vorlage der benötigten behördlichen Sachakten zu erzwingen. Die Vorlage- und Auskunftspflicht der Behörde nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist daher letztlich ein stumpfes Schwert.
Der im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehene neue § 101 Abs. 1 Satz 2 VwGO begünstigt daher in seinen praktischen Auswirkungen stets die Behörde, wenn diese der gerichtlichen Aufforderung zur Übersendung ihrer Verfahrensakten nicht nachkommt, das Gericht aber dennoch, gegebenenfalls bereits unmittelbar nach Eingang der Klage, einen frühen Termin zur mündlichen Verhandlung terminiert. Der private Prozessbeteiligte kann dadurch in die für ihn nachteilige prozessuale Situation kommen, dass er innerhalb kurzer Zeit und ohne Zugang zu den behördlichen Verfahrensakten seinen Rechtsbehelf substantiiert begründen muss. Dies wird ihm regelmäßig nicht möglich sein. Die vom Gesetzentwurf avisierte prozessuale Ausgangssituation steht demnach im Widerspruch zu dem aus Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit, der die Gleichwertigkeit der Stellung der Beteiligten vor dem Richter und gleichwertige Möglichkeiten zur Ausübung ihrer Rechte gewährleistet.
Fazit: Verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip
Die Aufnahme des Gebots einer möglichst frühen Terminierung der mündlichen Verhandlung in die Verwaltungsgerichtsordnung wäre nur dann als sinnvolle gesetzgeberische Maßnahme zu bewerten, wenn sie mit ergänzenden Änderungen der Verwaltungsgerichtsordnung einher ginge, die der Gesetzentwurf bisher aber nicht vorsieht. Dies wäre zum einen die Ermöglichung des Einsatzes von Zwangsmitteln (beispielsweise Zwangsgeld) durch das Gericht zur Durchsetzung der Übersendung der vollständigen Verfahrensakten gegenüber unkooperativen Behörden. Zum anderen müsste aber auch dem privaten Prozessbeteiligten ein subjektives Recht eingeräumt werden, die Durchsetzung seines Akteneinsichtsrechts gegenüber dem Gericht zu erzwingen.
In seiner jetzigen Konzeption jedenfalls wirft § 101 Abs. 1 Satz 2 VwGO des Gesetzentwurfs verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip und den darin verorteten Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit auf, da die Regelung einen strukturellen Nachteil zulasten privater Prozessbeteiligter begründet.