Amnestie ist ein wertvolles Instrument zur Sachverhaltsaufklärung, das – im Unternehmen eingesetzt – zu einem funktionierenden Compliance-System beiträgt.
Amnestie ist ein beliebtes Prinzip an verschiedenen Stellen des wirtschaftlichen und politischen Lebens. Es soll die Rückkehr zur „Gesetzestreue“ oder „Reintegration“ bewirken und bietet dafür den „Erlass“ von Verfolgung begangener Verfehlungen an. Besondere Bekannt- und Beliebtheit – wenn auch hoch umstritten – erlangte dieses Prinzip durch die Steueramnestie bei Selbstanzeige und Rückkehr zur Steuerehrlichkeit.
Es gibt ebenso vielfältige andere Möglichkeiten und Anwendungsbereiche wie etwa Kronzeugenprogramme in Kartellverstoßfällen oder zur Aufklärung von Clankriminalität. Aber auch unterhalb dieses High-Levelbereichs gibt es weitere Anwendungen, etwa im Arbeitsrecht, wenn der Arbeitgeber von Sanktionen wie Abmahnung oder Entlassung abzusehen anbietet, um wichtige, aber unklare Sachverhalte aufzuklären. Denn oft lassen sich solche für Unternehmen oder das Rechtswesen wichtigen Sachverhalte nur durch Insider aufklären; hier gilt das alt bewährte „Zuckerbrot und Peitsche“-Prinzip. Sanktionen sollen von Verstößen abhalten, aber nicht jeder scheut Gesetzesverstöße. Im Nachhinein hilft oftmals nur, Personen, die in Verbrechen oder Verstöße involviert waren, die Hand zu reichen und sie zurück in die Legalität zu holen. Die Angst vor Entdeckung und Bestrafung motiviert die Betroffenen, ein solches Angebot anzunehmen. So kennt das Strafrecht während der Phase des Versuchs einer Straftat noch den straflosen Rücktritt vom Versuch, der verhindert, dass der Rechtsverstoß überhaupt erst eintritt. Der Gesetzgeber baut dem Täter so eine „goldene Brücke″ zurück in die Legalität, um ein höherwertiges Gut zu bewahren – nach diesem Prinzip funktioniert auch die Amnestie.
Aber was hat Amnestie nun mit Compliance oder gar Compliance-Systemen zu tun?
Wie beschrieben soll die Amnestie der Sachverhaltsaufklärung dienen oder aber den Schaden eines Verstoßes beseitigen oder zumindest reduzieren helfen. Im Gegenzug dafür wird eine Strafe oder Sanktion erlassen oder stark abgemildert. So wird etwa „reumütigen“ Unternehmen, die Compliance-Verstöße begangen haben und deshalb von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen würden offeriert, durch „Selbstreinigung“ wieder Zugang zu solchen öffentlichen Aufträgen zu erlangen.
Diese Selbstreinigung erfordert, Verstöße zu erkennen, aufzuklären und erneute Verstöße – etwa wegen Korruption – (zumindest noch besser) zu unterbinden. Das bestehende Compliance System ist also nachzuschärfen oder, soweit ein solches noch fehlt, umgehend und professionell aufzubauen und wirksam auszugestalten. Genau dies ist aber der Unternehmensleitung oft nur möglich, wenn sie Verstöße konkret aufklären, Schuldige des Unternehmens verweisen und die unerwünschte Vorgehensweise zukünftig unterbinden kann. Diese Kenntnisse fehlen jedoch oft und sind regelmäßig nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand ermittelbar.
Hinzu kommt, dass im Zuge der Aufklärung immer die Gefahr erneuter Verstöße gegen Compliance-Vorgaben wie dem Arbeits-, Datenschutz- oder Vorschriften anderer Rechtsgebiete besteht. So geht es auch dem Staat etwa bei Steuerstraftaten oder Kartellverstößen, die wegen der voranschreitenden Digitalisierung zunehmend leichter aufzuklären sind. Aufgrund von Personalnot und Kostenaufwand bei der Ermittlung des Tathergangs lässt sich der Sachverhalt sicherer und effizienter unter Mitwirkung der Täter aufklären. Letztendlich ist es die Aufklärungsquote, die dem Staat erlaubt, Druck auf Täter auszuüben, Taten überhaupt nicht zu begehen oder – wenn schon geschehen – reumütig in die Legalität zurückzukehren, indem sie bei der Aufklärung und Schadenswidergutmachung mitwirken.
Also ist die Aufklärung vermuteter oder festgestellter Gesetzesverstöße in jedem Falle nicht nur im Interesse der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden, sondern auch der Unternehmen und ihrer Führungsebenen, denn nur bei aufgeklärten Sachverhalten kann eine Selbstreinigung erfolgen, Strafmilderung erlangt werden, Führungskräfte vor dem Vorwurf der Mittäterschaft geschützt und damit das Unternehmen insbesondere vor Unternehmensbußen aber auch Einziehungsverfügungen geschützt werden. Aufklärung von Verstößen und deren zukünftige Vermeidung sind ureigene Bestandteile jeden effektiven Compliance-Systems. Folglich müssen systembedingt bereits Prinzipien festgelegt werden, ob und – wenn ja – wie die Mitwirkung an der Aufklärung gefördert werden darf oder soll.
Prinzipien und Grundsätze im Compliance-System mit Blick auf Amnestie-Regelungen
Wer erwarten darf, bei freiwilliger Offenlegung nicht bestraft zu werden, wird eher bereit sein, an der Aufklärung strafbewährter Regelverstöße mitzuwirken. Üblicherweise dürfen Unternehmen Compliance-Verstöße nicht dulden und müssen Maßnahmen zur Sanktionierung begangener Verstöße vorsehen. Dabei spielen arbeitsrechtliche Instrumente wie Abmahnungen und Kündigung eine zentrale Rolle, ebenso aber auch die Frage, ob Schadensersatz gegenüber (früheren) Mitarbeitern geltend gemacht wird. Wie das Unternehmen auf Verstöße seiner Mitarbeiter reagiert, kann für die Beurteilung des CMS als ausreichend und wirksam von entscheidender Bedeutung sein. Oftmals wird eine Zero-Toleranz gefordert. Die Anforderungen an die Toleranzschwelle für Fehlverhalten hängen von vielfältigen äußeren Faktoren ab, wie etwa den Marktbedingungen, der Fachkräftesituation und der Vermeidung von Folgen für das Unternehmen. So wird von der BaFin üblicherweise im Bankenbereich die Entlassung von Mitarbeitern gefordert, die nennenswerte Compliance-Verstöße begangen haben. Wenn Mitglieder der Unternehmensleitung an den Compliance-Verstößen beteiligt sind, darf ihnen wegen der gesteigerten Vorbildfunktion („tone from the top″) regelmäßig keine Amnestie gewährt werden. Rechtsverbindliche Zusagen des Unternehmens (Amnestieerklärungen) können bei Gewährung einer Amnestie folgende Bestandteile umfassen, wobei die einzelnen Maßnahmen rechtlich nicht immer unproblematisch sind und ihrerseits mit Compliance-Verstößen der Geschäftsleitung verbunden sein können:
- Absehen von arbeitsrechtlichen Maßnahmen;
- Absehen von der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen durch das Unternehmen;
- Absehen von Stellen einer Strafanzeige/eines Strafantrags;
- Freistellung von Verfahrenskosten (Anwalts- und Gerichtskosten), wenn es doch zu einem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren kommt;
- Zusicherung der vertraulichen Behandlung der erhaltenen Informationen (Weiterleitung an eingeschränkten Personenkreis).
Ist das Unternehmen sich über das zur Verfügung stehende Instrumentarium bei der Sanktionierung und die eigene Toleranzpolitik im Klaren, stellt sich die weitere Frage, ob es Anreize für die Aufklärung sensibler Sachverhalte setzen soll oder nicht. Anreize können Boni oder andere Vorteile für Mitarbeiter sein, die begangene Verstöße aufklären, etwa als Whistleblower, als Investigatoren oder als Tippgeber.
Ferner ist zu entscheiden, ob Amnestieprogramme angeboten werden sollen. Dies kann entweder generell erfolgen (dann müssen auch die Spielregeln etwa wie im Kartellrecht einheitlich sein für jeden oder abgestuft nach Beitrag zur Aufklärung und/oder zeitlicher Reihenfolge der Aufklärungsbeiträge) oder aber Amnestieprogramme werden jeweils für Einzelfälle entwickelt und ausgelobt (Spezialamnestie). Treibender Faktor ist für das Unternehmen jeweils, dass die Aufklärung der Verstöße ohne Mithilfe aus dem Mitarbeiterkreis nicht gelingt oder einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordert. Darüber hinaus kann oder will das Unternehmen sich vielleicht nicht erlauben, potentiell wichtige Mitarbeiter (Fachkräfte) zu verlieren und möchte zumindest diejenigen, die sich reumütig zeigen, wieder in das Unternehmensgefüge integrieren.
Fazit: Amnestie-Regeln, klar und deutlich kommuniziert, können dem Unternehmen dienlich sein
Amnestie ist ein Modell, dass nicht nur dem Staat, sondern auch Unternehmen im Rahmen des bestehenden Compliance-Systems sehr dienlich sein kann und unbedingt als möglicher Bestandteil des CMS bedacht und geregelt sein sollte, inklusive von Aussagen zur Toleranz bei Verstößen und den drohenden Konsequenzen.
Wenn Amnestieprogramme generell oder im Einzelfall angeboten werden sollen, so ist es ratsam, die Kriterien dezidiert festzulegen und zu kommunizieren, um das erwünschte Ziel auch tatsächlich zu erreichen und zu fördern. Dabei sind vielerlei juristische Hürden mit ins Kalkül einzubeziehen, wie etwa Folgen für öffentliche Vergaben, Arbeitsrecht, Steuer- und Straffolgen der Aufklärung und Entdeckung, Publizität, Datenschutz und weitere mehr.