Warum das AGG und Hinweisgeberschutzgesetz in #MeToo-Fällen nicht immer umfassenden Schutz bieten und was Unternehmen hiergegen tun können, erfahren Sie in diesem Beitrag.
Die #MeToo-Bewegung ist längst in der Gesellschaft angekommen und hat uns auch vor Augen geführt, dass sexuelle Belästigung, Sexismus und Stereotype selbst und gerade am Arbeitsplatz bis heute Alltagsphänomene sind, die vielfach ignoriert oder nicht benannt werden. Eindrücklich hat dies schon Jahre vor #MeToo eine Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2015 bestätigt: Darin gab die Hälfte der befragten Beschäftigten an, am Arbeitsplatz eine nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbotene sexuelle Belästigung selbst erlebt zu haben und keine Maßnahmen zu kennen, die im eigenen Unternehmen gegen sexuelle Belästigung ergriffen wurden.
Nach Inkrafttreten des Hinweisgeberschutzgesetzes (HinSchG) am 2. Juli 2023 zeigt sich ein ähnliches Bild: Laut einer dem Spiegel vorliegenden Civey-Umfrage war in Betrieben mit 250 Beschäftigten nur jedem fünften Mitarbeitenden bekannt, welche konkreten Maßnahmen der eigene Arbeitgeber* getroffen hat, um Hinweisgebende zu schützen. Beide Erhebungen deuten darauf hin, dass jedenfalls aus Sicht vieler Beschäftigter der Schutz von Personen vor Belästigung oder Benachteiligungen im betrieblichen Umfeld vielfach noch Luft nach oben hat. Entsprechend gering dürfte daher oftmals auch die Bereitschaft von Beschäftigten sein, Missstände, wie insbesondere Fälle von sexueller Diskriminierung, zu melden.
Mit dem HinSchG gibt es erstmals einen gesetzlichen Rahmen, der sowohl für benachteiligte Mitarbeitende als auch solche, die für andere eine Meldung abgeben wollen, einen (gewissen) Schutz vor Repressalien bietet und den durch das AGG bezweckten Schutz vor Diskriminierung verstärkt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass das AGG und HinSchG nicht aufeinander abgestimmt sind und der gesetzliche Schutz deutliche Lücken aufweist. Dies kann gerade in #MeToo-Fällen bei (betroffenen) Hinweisgebenden große Unsicherheit hervorrufen und letztlich dazu führen, dass diese entweder von einer Meldung absehen oder sich irrigerweise unter dem gesetzlichen Schutz des HinSchG wähnen.
Wo liegen nun aber in #MeToo-Fällen die Schwächen des AGG und des HinSchG und wie können Arbeitgeber hier für einen wirksamen und umfassenden Hinweisgeberschutz sorgen?
Kein ausreichender Schutz durch das AGG auf Verfahrens- und Rechtsfolgenseite
Das bereits seit 2006 geltende AGG verbietet sexuelle Belästigung als eine Form der Diskriminierung am Arbeitsplatz in umfassendem Sinne: Eine sexuelle Belästigung liegt hiernach vor, wenn unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird (§ 3 Abs. 4 AGG). Zu den relevanten Verhaltensweisen zählen insbesondere unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen.
Die daraus resultierenden Pflichten des Arbeitgebers, die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz vor Benachteiligungen zu ergreifen, haben sich aber für Betroffene als zahnloser Tiger erwiesen. Sie geben Unternehmen auch keine klaren Orientierungspunkte im Kampf gegen sexuelle Diskriminierung vor. Zum einen sieht das AGG nämlich keine Bußgeldandrohungen vor, wenn Unternehmen weder vorbeugende (§ 12 Abs. 1 und 2 AGG) noch repressive Maßnahmen (§ 12 Abs. 3 und 4 AGG) zum Schutz vor Benachteiligungen ergreifen. Zum anderen räumt es den Arbeitgebern einen weiten Handlungsspielraum im Hinblick auf die Wahl der Schutzmaßnahmen ein.
Hinzu kommt, dass für die Einrichtung und das Verfahren der Beschwerdestelle nach dem AGG (§ 13 AGG) weder ein striktes Vertraulichkeitsgebot in Bezug auf die Identität der benachteiligten Mitarbeitenden noch eine Meldung von Diskriminierungen durch nichtbenachteiligte Mitarbeitende vorgesehen ist. Betroffene haben unter dem AGG daher stets die Chancen (= Maßnahmen gegen Belästiger, Schadensersatz durch Arbeitgeber) und Risiken (= Repressalien durch Vorgesetze und Kolleg:innen) abzuwägen, die für sie aus dem Bekanntwerden eines gemeldeten Falles erwachsen können. Dies war und ist unter dem AGG ein großes Problem. Schließlich kann gerade in #MeToo-Fällen die Bereitstellung überzeugender Beweise für benachteiligte Mitarbeitende eine große Herausforderung sein. Die Sorge vor Victim Blaiming und Bashing ist also berechtigt.
Nur begrenzter Schutz durch das Hinweisgeberschutzgesetz
Das HinSchG weist zwar nicht die Schwächen des AGG auf Verfahrens- und Rechtsfolgenseite auf. Hinweisgebende können hiernach sowohl benachteiligte als auch nichtbenachteiligte Mitarbeitende sein. Es gilt ein striktes Vertraulichkeitsgebot (§ 8 HinSchG). Nur die Meldestellenbeauftragten dürfen von der Identität der hinweisgebenden Person erfahren und diese nicht einmal der Geschäftsführung mitteilen. Ferner haben Hinweisgebende, die eine Meldung in gutem Glauben abgeben, keinerlei Nachteile (etwa arbeits- oder sonstige rechtliche Konsequenzen) zu befürchten – auch wenn sich der Verdacht später als unzutreffend oder nicht ausreichend aufklärbar herausstellen sollte (§ 33 Abs. 1 Nr. 2 HinSchG). Außerdem gilt: Unternehmen, die es unterlassen, eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Meldestelle einzurichten, müssen mit einem Bußgeld von bis zu EUR 20.000 rechnen. Mitarbeitende, die das für sie geltende Vertraulichkeitsgebot missachten oder Repressalien gegen hinweisgebende Personen richten, können mit einem Bußgeld von bis zu EUR 10.000 (bei fahrlässigem Verhalten) oder EUR 50.000 (bei vorsätzlichem oder leichtfertigem Verhalten) belegt werden. Unternehmen droht überdies ein Bußgeldrisiko von bis zu EUR 100.000 beziehungsweise EUR 500.000, wenn eine Person in leitender Stellung ihre Pflichten aus dem HinSchG in entsprechender Weise verletzt (§ 40 HinSchG).
Lücke im Anwendungsbereich des HinSchG in Fällen verbaler sexueller Belästigung
Allerdings weist das HinSchG im Zusammenhang mit #MeToo-Fällen eine erhebliche Schutzlücke auf. Neben Verstößen gegen geltendes EU-Recht oder Rechtsvorschriften des Bundes- und der Länder in speziell aufgelisteten Sektoren und Rechtsbereichen (hierzu gehört nicht das AGG!) erfasst es generell nur Hinweise auf strafbare Verstöße sowie Verstöße, die bußgeldbewehrt sind, soweit die verletzte Vorschrift dem Schutz von Leben, Leib oder Gesundheit oder dem Schutz der Rechte von Beschäftigten oder ihrer Vertretungsorgane dient (§ 2 HinSchG). Da das AGG keine Bußgeldandrohung vorsieht (s.o.), fällt sexuelle Belästigung also erst dann in den Anwendungsbereich des HinSchG, wenn sie die Schwelle der Strafbarkeit überschreitet. In #MeToo-Fällen relevant sind dabei in der Regel § 177 StGB (sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung), der im Jahr 2016 in das Strafgesetzbuch neu eingefügte § 184i StGB (sexuelle Belästigung) und § 185 StGB (Beleidigung). Daraus ergibt sich: Voraussetzung für die Anwendung (und damit den Schutz) des HinSchG ist eine sexuelle Belästigung mit körperlicher Berührung oder eine sexualbezogene Äußerung, die nicht nur einen Verstoß gegen das AGG darstellt, sondern zugleich zumindest den Straftatbestand der Beleidigung nach § 185 StGB erfüllt.
Die Strafnorm des § 185 StGB wird in #MeToo-Fällen, die nicht schon einen der anderen Tatbestände erfüllen, indes häufig nicht verletzt sein. Denn nach der Rechtsprechung und herrschenden Meinung in der strafrechtlichen Literatur kommt der Norm keine „lückenfüllende Aufgabe“ zu. Sexualbezogene Äußerungen sind nur dann als „Sexualbeleidigung“ strafbar, wenn sie über die Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung hinaus nach ihrem objektiven Sinngehalt den Betroffenen eine negative Qualität zuschreiben. Eine strafbare Ehrverletzung liegt somit nicht schon in jeder anstößigen oder einschüchternden Bemerkung (z.B. zum Dekolleté) oder Aufforderung (z.B. zur Vornahme einer bestimmten sexuellen Handlung), sondern erfordert stets einen davon zu unterscheidenden Ehrangriff (z.B. Bezeichnung einer Kollegin als „Flittchen“ oder „Schlampe“). Entscheidend sind stets die Gesamtumstände des Einzelfalls.
Daraus folgt: Vor allem dann, wenn sexuelle Belästigung auf einer subtilen Ebene stattfindet, wird die Schwelle zur Strafbarkeit häufig nicht erreicht sein. In solchen Fällen ist das HinSchG dann regelmäßig nicht anwendbar, mit der Folge, dass Personen, die Hinweise auf einen #MeToo-Fall geben, gesetzlich nicht geschützt sind.
Konsequenz: Rechtsunsicherheit für Hinweisgebende in #MeToo-Fällen
Die beschriebenen Schwächen des AGG und HinSchG führen im Ergebnis zu Rechtsunsicherheit bei Hinweisgebenden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich Hinweisgebende an die Beschwerdestelle nach dem AGG wenden, in der Erwartung, von deren Mitgliedern in gleicher Weise geschützt zu werden wie von der Meldestelle nach dem HinSchG – insbesondere im Hinblick auf das Vertraulichkeitsgebot und die notwendige Fachkunde für die Fallbearbeitung. Es ist auch denkbar, dass eine Meldung an die Beschwerdestelle nach dem AGG deshalb bevorzugt wird, weil das AGG – anders als das HinSchG – benachteiligten Beschäftigten eine Entschädigung in Geld für den erlittenen immateriellen Schaden zuspricht (§ 15 Abs. 2 AGG). Ebenso scheint es möglich, dass sich Hinweisgebende mit einem Hinweis an die Meldestelle nach dem HinSchG nur deshalb aus der Deckung wagen, weil sie jeden Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des AGG auch nach dem HinSchG für meldefähig halten und – irrigerweise – davon ausgehen, gesetzlich vor Benachteiligungen geschützt zu sein.
Diese gesetzlichen Unzulänglichkeiten können im schlechtesten Fall sogar abschreckende Wirkung auf Hinweisgebende entfalten, wenn Präzedenzfälle bekannt werden, in denen Hinweisgebende „in die Falle getappt“ sind. Gleiches gilt, wenn es kaum möglich erscheint, strafbare „Sexualbeleidigung“ von nicht strafbarer verbaler sexueller Belästigung abzugrenzen.
Verantwortung des Arbeitgebers für umfassenden Hinweisgeberschutz
Die #MeToo-Bewegung hat die Notwendigkeit unterstrichen, sexuelle Diskriminierung am Arbeitsplatz zu bekämpfen. Angesichts des nicht abgestimmten Anwendungsbereichs des AGG und HinSchG liegt es somit in der Verantwortung des Arbeitgebers, (betroffenen) Hinweisgebenden umfassenden Schutz bei der Meldung von sexueller Diskriminierung zu bieten.
Prävention durch Selbstverpflichtung zu umfassendem Hinweisgeberschutz
Die regelmäßig als Best Practice zu empfehlende Maßnahme besteht darin, das Hinweisgebersystem freiwillig auf alle für das Unternehmen relevanten Sachverhalte (allen voran Verstöße gegen den Code of Conduct), also auch auf nicht strafrechtlich relevante #MeToo-Fälle, auszudehnen und auch in solchen Fällen den Hinweisgebenden dasselbe Schutzniveau zu bieten wie bei der Meldung von Verstößen, die dem Anwendungsbereich des HinSchG unterfallen. Dies hat zugleich den Vorteil, dass – bei entsprechender Bekanntmachung gegenüber den Beschäftigten – die Meldestelle nach dem HinSchG grundsätzlich auch die Funktion der Beschwerdestelle nach dem AGG übernehmen kann.
Hinweisgebende müssen dabei nicht fürchten, dass ihre Identität bei einer Selbstverpflichtung des Arbeitgebers zum Hinweisgeberschutz nicht ausreichend geschützt ist. Bereits vor Inkrafttreten des HinSchG entsprach es höchstrichterlicher Rechtsprechung (BGH, Urteil v. 22. Februar 2022 – VI ZR 14/21), dass im Rahmen eines Auskunftsanspruchs nach Art. 15 DSGVO das Geheimhaltungsinteresse des Hinweisgebenden gegenüber dem Auskunftsinteresse Dritter regelmäßig nur dann zurücktritt, wenn der Hinweisgebende wider besseres Wissen oder leichtfertig (= bösgläubig) unrichtige Angaben gemacht hat.
Vorsicht bei der Einrichtung konzernweiter Meldestellen!
Sofern die Aufgaben der internen Meldestelle nach dem HinSchG und der Beschwerdestelle nach dem AGG zusammengelegt werden sollen, ist bei Konzernen allerdings eine Besonderheit zu beachten: Unternehmen, die bei sich nach dem HinSchG eine konzernweite Meldestelle eingerichtet haben, ist es nach dem Wortlaut des AGG und der hierzu vertretenen herrschenden Meinung, insbesondere der Rechtsauffassung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, verboten, eine konzernweite AGG-Beschwerdestelle zu betreiben.
Für ein einheitliches Meldesystem nach dem AGG und HinSchG ist es daher erforderlich, den für die einzelnen Konzernunternehmen erforderlichen lokalen AGG-Beschwerdestellen auch das Verfahren und die Pflichten nach dem HinSchG aufzuerlegen sowie die zuständigen Mitarbeitenden diesbezüglich zu schulen. Sofern die Aufgaben von Beschwerdestelle und Meldestelle getrennt werden sollen, müssten die Beschäftigten darauf hingewiesen werden, dass die Beschwerdestelle nach dem AGG weder für Meldungen von nicht betroffenen Beschäftigten offensteht noch den Schutz des HinSchG bietet.
Dies könnte jedoch die Autorität der Beschwerdestellen nach dem AGG untergraben und diese zu ungenutzten betrieblichen Einrichtungen verkommen lassen.
Fazit: Effektive Bekämpfung von Missständen durch freiwillige Erweiterung des Schutzniveaus
Die unterschiedlichen Anforderungen des AGG und HinSchG machen deutlich: Wer effektiv gegen Missstände vorgehen will, kann sich dabei nicht allein auf die Vorgaben des Gesetzgebers verlassen, sondern sollte freiwillig den Anwendungsbereich des Hinweisgeberverfahrens auch auf Fälle ausdehnen, die nicht in den Anwendungsbereich des HinSchG fallen.
In unserer CMS-Blogserie informieren wir Sie mit Beiträgen über das Phänomen #MeToo im Kontext der Compliance-Beratung.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.