16. Mai 2023
Praxishinweise zum Arbeitskampf
Praxishinweise zum Arbeitskampf

Praxishinweise zum Arbeitskampf – Übersicht und Einführung

Mit unserer aktuellen Blog-Serie geben wir einen umfassenden Überblick über das Streikrecht.

Das Recht der Gewerkschaften, zur Regelung von Arbeitsbedingungen Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen, ist verfassungsrechtlich in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) verankert. Das Streikrecht und seine Ausprägungen beruhen weitestgehend auf Richterrecht. Mit unserer Blog-Reihe „Praxishinweise zum Arbeitskampf“ geben wir einen Überblick über das Streikrecht, die Voraussetzungen und Folgen eines Streiks sowie die Reaktionsmöglichkeiten der Arbeitgeber aus Praktikersicht.

Streikrecht als verfassungsrechtlich geschütztes Gut – weitestgehendes Fehlen gesetzlicher Regelungen zu Arbeitskampfmaßnahmen

Auf die Festlegung der Arbeitsbedingungen durch Tarifvertrag ist gesetzlich an vielen Stellen Bezug genommen: So enthält allen voran das Tarifvertragsgesetz (TVG) die Grundlagen zur Geltung tariflich vereinbarter Arbeitsbedingungen. 

Gesetzliche Regelungen unmittelbar zur Streikteilnahme finden sich etwa in § 11 Abs. 5 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG): Danach dürfen Leiharbeitnehmer* nicht eingesetzt werden, um die Tätigkeiten Streikender für diese oder die Tätigkeit von deren Vertretern zu übernehmen. Ein Entleiher darf Leiharbeitnehmer nicht tätig werden lassen, wenn sein Betrieb unmittelbar durch Arbeitskampf betroffen ist.

Weitere gesetzliche Regelungen finden sich im BetrVG und betreffen die Neutralität der Betriebsratsmitglieder: Nach § 74 Abs. 2 BetrVG sind Arbeitskampfmaßnahmen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat unzulässig (sog. Neutralitätsgebot). Vergleichbare Regelungen finden sich im Personalvertretungsrecht. 

Nicht gesetzlich geregelt ist hingegen, wie die Tarifvertragsparteien, d.h. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (bzw. im Fall eines Firmentarifvertrags: Gewerkschaften und Arbeitgeber), zu einer Einigung über die tariflichen Arbeitsbedingungen gelangen. Grundlage ist die positive wie die negative Koalitionsfreiheit, d.h. das Recht, Gewerkschaften (und Arbeitgeberverbände) zu gründen, diesen beizutreten oder diesen eben auch fernzubleiben. Die Koalitionsfreiheit ist im Grundgesetz – Art. 9 Abs. 3 GG – als Grundrecht geschützt. Gesetzliche Vorgaben dazu, wie Tarifabschlüsse herbeizuführen sind, fehlen hingegen. Vielmehr ist das sog. Arbeitskampfrecht, d.h. das Recht, Streikmaßnahmen zu ergreifen, um ein Tarifergebnis zu erzielen, „nur“ durch arbeits- und verfassungsgerichtliche Entscheidungen definiert (wobei das Bundesverfassungsgericht das Streikrecht erst 1991 ausdrücklich als Rechtsgut mit Verfassungsrang anerkannt hat, BVerfG, Urteil v. 26. Juni 1991 – 1 BvR 779/85).

Europäisches Ziel: Organisationsgrad von 80 % 

Im internationalen Vergleich bewegt sich Deutschland mit der Anzahl der Streiktage im unteren Mittelfeld (vgl. hierzu die Arbeitskampfbilanz des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts [WSI] – „Streiks als normales Instrument der Konfliktregulierung – Etwa jede*r 6. Beschäftigte in Deutschland mit Streikerfahrung“ Hans-Böckler-Stiftung [boeckler.de]). Auch bei einer im Vergleich überschaubaren Anzahl streikbedingter Ausfalltage bleiben Arbeitskampfmaßnahmen für Arbeitgeber- wie für Arbeitnehmerseite ein Ausnahmezustand – dies gilt umso mehr für die (je nach Branche) betroffenen Dritten – bedenkt man die Auswirkungen von Streiks etwa in Krankenhäusern, bei der Bahn, bei der Fluggastsicherung an Flughäfen, in Kitas und bei der Müllabfuhr. 

Die Relevanz von Streikmaßnahmen wird voraussichtlich zunehmen. Denn mit der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne ([EU] 2022/2041), veröffentlicht am 25. Oktober 2022, hat die EU den Mitgliedsstaaten mit einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von weniger als 80 % auferlegt, einen Aktionsplan zu schaffen, um den Organisationsgrad fortlaufend zu stärken. Hierzu sollen die Sozialpartner einbezogen werden. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) ist der Organisationsgrad, d.h. der Anteil der Beschäftigten, die Mitglied in einer Gewerkschaft sind, seit der Wiedervereinigung in Deutschland auf 23 % gesunken. 

Streikformen

Unter Arbeitskampfmaßnahmen werden Maßnahmen gefasst, die den sozialen Gegenspieler zielgerichtet an den Verhandlungstisch und zur Akzeptanz bestimmter Tarifforderungen bringen sollen. Typisches Kampfmittel auf Arbeitnehmerseite ist der (rechtmäßige) Streik, d.h. die kollektive Arbeitsniederlegung bzw. Nichterbringung der Arbeitsleistung, unter der Führung einer Gewerkschaft, gerichtet auf den Abschluss eines Tarifvertrags. Fehlt es an der Verantwortungsübernahme durch eine Gewerkschaft, ist der Streik rechtswidrig – den streikenden Beschäftigten kann wegen Arbeitsverweigerung gekündigt werden (vgl. zum „wilden Streik“ der Kurierfahrer des Lieferdienstes Gorillas ArbG Berlin, Urteil v. 6. April 2022 – 20 Ca 10257/2120 Ca 10258/2120 Ca 10259/21 –, das Arbeitsgericht hat die Kündigungen wegen Teilnahme am wilden Streik bestätigt). Die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Streik erläutern wir in unserem nächsten Blog-Beitrag „Praxishinweise zum Arbeitskampf – Anforderungen auf Gewerkschaftsseite an die Durchführung eines Streiks“. 

Die Arbeitsniederlegung ist in einer Vielzahl von Gestaltungsformen denkbar: So ist das Bestreiken ganzer Regionen zur Erreichung eines Tarifabschlusses einer Branche in einem bestimmten Bereich (Flächenstreik zum Abschluss eines Flächentarifvertrags) ein gängiges Mittel. Für die Gewerkschaft kostengünstiger sind Schwerpunktstreiks, die nur in ganz bestimmten, ausgewählten Betrieben einer speziellen Region durchgeführt werden – gleichwohl können diese darauf gerichtet sein, einen Flächentarifvertrag abzuschließen (vgl. hierzu BAG, Urteil v. 10. Juni 1980 – 1 AZR 822/79). Solch kleinere Streikaktionen sind deshalb kostengünstiger, da für die streikenden Gewerkschaftsmitglieder eine Milderung der Einkommensverluste durch Gewähr von Geldern aus der Streikkasse erfolgt. 

Denkbar und von der Rechtsprechung als zulässig bestätigt sind auch Unterstützungsstreiks, bei denen in Betrieben, die nicht unmittelbar betroffen sind, die Arbeit niedergelegt wird, um Tarifforderungen in anderen Bereichen durchzusetzen (grundlegend BAG, Urteil v. 19. Juni 2007 – 1 AZR 396/06). Mit Warnstreiks, d.h. Streikmaßnahmen von i.d.R. nur kurzer Dauer, soll der Arbeitgeberseite die Bereitschaft der Belegschaft(en) aufgezeigt werden, Streikmaßnahmen auch tatsächlich durchzuführen (vgl. BAG, Urteil v. 21. Juni 1988 – 1 AZR 651/86). Als zulässig erachtet werden inzwischen auch sog. (streikbegleitende) Flashmob-Aktionen im Einzelhandel (BAG, Urteil v. 22. September 2009 – 1 AZR 972/08).

In der Regel unzulässig sind hingegen Betriebsblockaden und Boykotts (BAG, Urteil v. 8. November 1988 – 1 AZR 417/86).

Reaktionsmöglichkeiten des Arbeitgebers

Auf Arbeitgeberseite besteht – im Rahmen der Verhältnismäßigkeit – einerseits die Möglichkeit der Aussperrung, d.h. des Verweises auch der arbeitswilligen, nicht streikenden Arbeitnehmer von ihrem Arbeitsplatz (BAG, Urteil v. 27. Juni 1995 – 1 AZR 1016/94). Andererseits kann er durch Streikbruchprämien diejenigen Mitarbeitenden besonders honorieren, die nicht streiken (BAG, Urteil v. 14. August 2018 – 1 AZR 287/17). Auch die Stilllegung des Betriebes ist möglich, wenn die Aufrechterhaltung auf Grund der Streikmaßnahmen nicht mehr als sinnvoll erachtet wird. Eine weitere Option ist, gegenüber arbeitswilligen Arbeitnehmern Überstunden anzuordnen oder Arbeitnehmer aus anderen Bereichen auf die Arbeitsplätze der Streikenden zu versetzen. Eine Beteiligung des Betriebsrats ist hierzu nicht erforderlich, da die Beteiligungsrechte während des Arbeitskampfes, bezogen auf die durch den Arbeitskampf erforderlich werdenden Maßnahmen, ausgesetzt sind (z.B. im Hinblick auf die Anordnung von Überstunden BAG, Urteil v. 20. März 2018 – 1 ABR 70/16).

(Unzulässiger) Aufruf zu Streikmaßnahmen, digitales Zugangsrecht der Gewerkschaften

Zunehmend relevant wird die Diskussion um ein „digitales Zugangsrecht der Gewerkschaften“. Das Arbeitsgericht Bonn (Urteil v. 11. Mai 2022 – 2 Ca 93/22) hat letztes Jahr die Forderung einer nicht tarifschließenden Vereinigung abgelehnt. Diese hatte von einem Arbeitgeber die Versendung von E-Mails mit einem von der Arbeitnehmervereinigung gestalteten Inhalt an alle bei ihm Beschäftigten verlangt. Andererseits können die Gewerkschaften nach der Rechtsprechung des BAG zu Werbezwecken auch ohne Einwilligung des Arbeitgebers oder Aufforderung durch den Arbeitnehmer E-Mails an die betrieblichen E-Mail-Adressen ihrer Mitglieder versenden (BAG, Urteil v. 20. Januar 2009 – 1 AZR 515/08). Der Arbeitgeber habe diese Art der Nutzung der Betriebsmittel zu dulden. Ob die Gewerkschaft auch Nichtmitglieder anschreiben darf, hat der Senat dabei jedoch bislang offengelassen.

Die Nutzung der IT-Infrastruktur des Arbeitgebers zu Arbeitskampfmaßnahmen muss der Arbeitgeber allerdings grds. nicht dulden. Unzulässig ist daher ein Streikaufruf eines Arbeitnehmers (noch dazu Betriebsratsmitglied) über das Firmenintranet des Arbeitgebers oder via Firmen-E-Mail-Account (BAG, Urteil v. 15. Oktober 2013 – 1 ABR 31/12). Zulässig sein kann hingegen die Streikmobilisierung der Arbeitnehmer durch die Gewerkschaft auf dem Firmenparkplatz des Arbeitgebers. Dies kann jedenfalls dann gelten, wenn keine andere (örtliche) Möglichkeit für die Gewerkschaft besteht, zu den arbeitswilligen Arbeitnehmern Kontakt aufzunehmen. (BAG, Urteil v. 20. November 2018 – 1 AZR 189/17).

Bleiben Sie informiert: Unsere Blog-Reihe und Podcasts

Als Fazit lässt sich festhalten, dass das Arbeitskampfrecht durch eine Vielzahl gerichtlicher Entscheidungen geprägt ist. Diese können im Einzelfall Aufschluss auch über neue Entwicklungen geben: Wie sind z.B. Aktionstage der Gewerkschaft mit gesamtpolitischen Forderungen nach Klima- und Umweltschutz einzuordnen? Wie kann sich der Arbeitgeber auf Arbeitskampfmaßnahmen vorbereiten? Welche zulässigen Maßnahmen können ergriffen werden? 

In unserer Blog-Reihe greifen wir eine Vielzahl der für die Praxis relevanten Themen zu Streikmaßnahmen auf. Folgende Beiträge können Sie in naher Zukunft erwarten:

  • Praxishinweise zum Arbeitskampf – Anforderungen auf Gewerkschaftsseite bei Durchführung eines Streiks 
  • Praxishinweise zum Arbeitskampf – Vorbereitung auf und Verhalten bei Arbeitskampfmaßnahmen: Kommunikation und Strategie, Notdienstvereinbarung, mittelbare Betroffenheit, Handlungsmöglichkeiten sowie Kommunikation
  • Praxishinweise zum Arbeitskampf – Folgen eines Streiks, insbesondere für die Vergütungs- und Beschäftigungspflicht sowie Vergütung, Rechte und Pflichten
  • Praxishinweise zum Arbeitskampf – Streikleitung, Streikposten und Streikausschreitungen
  • Praxishinweise zum Arbeitskampf – Folgen der Teilnahme an rechtswidrigen Arbeitskampfmaßnahmen
  • Praxishinweise zum Arbeitskampf – Besonderheiten mehrerer Gewerkschaften
  • Praxishinweise zum Arbeitskampf – Besonderheit Haustarifvertrag

Ergänzend hierzu greifen wir in unserem Podcast einzelne Aspekte auf, die aus unserer Sicht besonders praxisrelevant sind. Hören Sie doch mal rein 

Sprechen Sie uns an – wir freuen uns auf den Austausch. 

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Arbeitskampfmaßnahme Arbeitsrecht Praxishinweise zum Arbeitskampf