19. September 2019
Probearbeit
Sozialversicherungsrecht für Arbeitgeber

Sozialversicherungsrecht für Arbeitgeber: Die Probearbeit

Das Sozialversicherungsrecht spielt im Arbeitsleben eine große Rolle. Unsere Blog-Serie zeigt, was Arbeitgeber beachten müssen, etwa bei der Probearbeit.

Wir beginnen die neue Blog-Serie mit der gesetzlichen Unfallversicherung.

Das Bundessozialgerichts (BSG) hat vor kurzem über einen Fall entschieden, der in der Praxis immer häufiger vorkommt: Ein Arbeitgeber möchte sich von einer Bewerberin oder einem Bewerber* ein umfassendes Bild verschaffen und lädt sie oder ihn deshalb zu einem Tag „Probearbeit″ ein.

„Probearbeit″ ist kein Arbeitsverhältnis

Eine einheitliche Definition von „Probearbeit″ gibt es nicht. Das Bundesarbeitsgericht hat sich mit diesem Phänomen bislang nicht befasst. Es gibt daher nur Rechtsprechung einiger Landesarbeitsgerichte. Sie verwenden überwiegend den Begriff „Einfühlungsverhältnis″, weil der Bewerber in den Betrieb aufgenommen wird, um sich dort „einzufühlen“ (LAG Düsseldorf, Urteil v. 6. Juli 2007 – 9 Sa 598/07).

Der Aufgenommene ist zur Arbeitsleistung nicht verpflichtet und muss insbesondere keine bestimmte Arbeitszeit einhalten. Deshalb unterliegt er auch nicht dem Direktionsrecht des Unternehmers. Vielmehr kann er jederzeit den Betrieb verlassen, ohne sich vertragsbrüchig zu verhalten. Denn ein Arbeitsverhältnis besteht während der „Probearbeit″ noch nicht. Der Unternehmer möchte vielmehr erst entscheiden, ob er dem Bewerber einen Arbeitsvertrag anbietet.

Oft Streit über Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses

Der Teufel steckt hier aber im Detail. Es kommt vor, dass sich Bewerber im Nachhinein auf den Standpunkt stellen, bereits durch die Ableistung der „Probearbeit″ sei ein Arbeitsverhältnis begründet worden. Sie verlangen dann Vergütung für die geleistete Arbeit, mitunter sogar ihre Weiterbeschäftigung.

Die Arbeitsgerichte müssen aufgrund von Indizien beurteilen, ob lediglich ein „Einfühlungsverhältnis″ vorlag oder bereits ein Arbeitsvertrag konkludent geschlossen wurde. Arbeitgeber sollten dieses Risiko von vornherein vermeiden, indem sie in einer schriftlichen Vereinbarung regeln, dass während der „Probearbeit″ keine Arbeitspflicht und umgekehrt auch keine Vergütungspflicht besteht.

Soll – etwa, weil ansonsten keine geeigneten Bewerber gefunden werden – eine Vergütung gezahlt werden, ist die Gefahr groß, dass die Arbeitsgerichte von einem Arbeitsverhältnis ausgehen. In diesem Fall kann es ratsam sein, tatsächlich einen Arbeitsvertrag abzuschließen, ihn aber auf den einen Tag der „Probearbeit″ zu befristen. Hierin liegt womöglich eine sachgrundlose Befristung, die aber wirksam ist, wenn sie schriftlich vereinbart wird (§ 14 Abs. 4 TzBfG) und der Arbeitnehmer bei diesem Arbeitgeber zuvor noch nicht beschäftigt war (§ 14 Abs. 2 TzBfG).

Unfall während der „Probearbeit″

In dem vom BSG entschiedenen Fall (Urteil v. 20. August 2019 – B 2 U 1/18 R) hatte ein Unternehmen, das Lebensmittelabfälle entsorgt, einen Lkw-Fahrer gesucht. Da es bereits mehrmals die Erfahrung gemacht hatte, dass manchen Bewerbern die Arbeit zu anstrengend oder zu schmutzig war, war es dazu übergegangen, Einstellungszusagen nur nach einer erfolgreichen „Probearbeit″ zu erteilen. Deshalb sollte auch der Kläger an einem Tag von 6 bis 16 Uhr Lebensmittelabfälle bei den Kunden abholen. Hierbei stürzte er aus etwa zwei Meter Höhe von der Laderampe eines Lkw und verletzte sich schwer.

Die Berufsgenossenschaft lehnte es ab, den Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen. Das BSG gab ihr in einem Punkt recht: Der Kläger sei noch kein Beschäftigter im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII gewesen, weil er noch nicht auf Dauer in den Betrieb des Entsorgungsunternehmers eingegliedert gewesen sei.

Unfallversicherungsschutz auch für „Wie-Beschäftigte″

In der gesetzlichen Unfallversicherung sind allerdings auch Personen versichert, die wie Beschäftigte tätig werden (§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Dies sind die sogenannten „Wie-Beschäftigten″. Der Gesetzgeber ging nämlich davon aus, dass es Fälle gibt, in denen eine Person für einen Unternehmer, ohne bei ihm beschäftigt zu sein, eine Leistung erbringt, die normalerweise ein Arbeitnehmer erbracht hätte.

Wenn ein solcher „Wie-Beschäftigter“ einen Unfall erleidet, soll er genauso abgesichert sein, wie ein „echter″ Beschäftigter. Denn der Unfall hätte ebenso gut einem „echten″ Beschäftigten zustoßen können. Der gesetzlichen Unfallversicherung soll kein finanzieller Vorteil dadurch entstehen, dass zufälligerweise kein Arbeitnehmer, sondern ein Dritter Verletzungen erlitten hat.

Voraussetzungen der „Wie-Beschäftigung″

Vier Voraussetzungen müssen nach der Rechtsprechung des BSG erfüllt sein, damit eine „Wie-Beschäftigung″ vorliegt:

  1. Die Tätigkeit hat einen wirtschaftlichen Wert und dient dem Unternehmen, ist ihm also nützlich. Ein Eigeninteresse desjenigen, der die Tätigkeit erbringt, darf nicht im Vordergrund stehen.
  2. Die Tätigkeit entspricht dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers.
  3. Die Tätigkeit kann ihrer Art nach von Arbeitnehmern verrichtet werden.
  4. Die Tätigkeit wird unter arbeitnehmerähnlichen Umständen ausgeübt.

Nach diesen Kriterien liegt eine „Wie-Beschäftigung″ beispielsweise vor, wenn ein Nicht-Arbeitnehmer, etwa ein Passant, dem Unternehmer beim Manövrieren eines Lkw-Anhängers hilft (BSG, Urteil v. 28. Mai 1957 – 2 RU 150/55). Auch der Besucher eines Reiterhofs kann ein „Wie-Beschäftigter″ sein, wenn er ein nassgeschwitztes Pferd trockenreitet, für dessen Trocknung andernfalls der Inhaber des Gestüts hätte sorgen müssen (BSG, Urteil v. 30. Juni 1993 – 2 RU 40/92).

„Probearbeit″ ist „Wie-Beschäftigung″

Im vorliegenden Fall kam das BSG (Urteil v. 20. August 2019 – B 2 U 1/18 R) zum Ergebnis, dass auch die „Probearbeit″ eine „Wie-Beschäftigung″ und der Unfall des Bewerbers somit ein Arbeitsunfall sei. Denn die Tätigkeit des von der Lkw-Laderampe gestürzten Klägers habe dem Willen des Unternehmers entsprochen und für ihn auch einen wirtschaftlichen Wert gehabt.

Der wirtschaftliche Wert ergebe sich daraus, dass der Unternehmer für einen Tag einen „kostenlosen″ Mitarbeiter erhalten habe und sich außerdem durch die „Probearbeit″ vor ungeeigneten Bewerbern habe schützen können. Deshalb habe das Eigeninteresse des Klägers, eine dauerhafte Beschäftigung zu erlangen, nicht im Vordergrund gestanden.

Seine Tätigkeit sei auch einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis ähnlich gewesen, weil er wie die „echten″ Arbeitnehmer bei dem Transport der Mülltonnen mit Hand angelegt habe.

Positive Folgen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber: Auch bei der Probearbeit kann Unfallversicherungsschutz bestehen

Die Entscheidung des BSG ist für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen erfreulich. Bewerber, die einen Tag „Probearbeit″ leisten, müssen künftig bei Unfällen, wenn die vom BSG entwickelten Voraussetzungen erfüllt sind, keine rechtliche Auseinandersetzung mit dem Unternehmer oder seinem Haftpflichtversicherer fürchten. Sie können sich unmittelbar an die Berufsgenossenschaft wenden. Diese übernimmt insbesondere die Kosten der Heilbehandlung (§§ 27 ff. SGB VII). Bei schweren Unfallfolgen zahlt sie auch eine Erwerbsminderungsrente (§§ 56 ff. SGB VII).

Arbeitgeber haben nun die Gewissheit, dass sie in aller Regel nicht selbst haften, wenn einem Bewerber bei der „Probearbeit″ etwas zustößt. Denn es gilt der Vorrang der gesetzlichen Unfallversicherung: Wer Opfer eines Arbeitsunfalls geworden ist, kann Schadensersatzansprüche nur gegen den Träger der Unfallversicherung (also in erster Linie gegen die zuständige Berufsgenossenschaft) geltend machen. Der Unternehmer haftet nur ausnahmsweise selbst, etwa wenn er den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat (§ 104 Abs. 1 SGB VII).

Ob und ggf. welche Konsequenzen die Unfallversicherungsträger aus dem neuen Urteil ziehen, ist noch nicht absehbar. Unklar ist insbesondere, ob sie das Risiko, auch für Unfälle während der „Probearbeit″ Leistungen erbringen zu müssen, künftig bei der Beitragsfestsetzung berücksichtigen.

Praxistipp: Anzeige an Berufsgenossenschaft

Wenn es tatsächlich während der „Probearbeit″ zu einem Unfall kommt, hat das Unternehmen ihn binnen drei Tagen dem Unfallversicherungsträger anzuzeigen (§ 193 Abs. 1 und 4 SGB VII). Besteht ein Betriebsrat, muss er die Unfallanzeige mitunterzeichnen (§ 193 Abs. 5 SGB VII). Daneben sollte der Bewerber, der sich verletzt hat, darauf hingewiesen werden, dass es sich (voraussichtlich) um einen Arbeitsunfall handelt. Denn dies hat zur Folge, dass der Verletzte einen Durchgangsarzt aufsuchen muss. Dies sind besondere Ärzte, die von den Berufsgenossenschaften mit der Prüfung beauftragt sind, ob eine Heilbehandlung auf Kosten der Berufsgenossenschaft erforderlich oder eine allgemeine medizinische Versorgung zu Lasten der Krankenkasse ausreichend ist (§ 34 Abs. 3 SGB VII).

*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Arbeitsunfall Berufsgenossenschaft Probearbeit Sozialversicherung Unfallversicherung Wie-Beschäftigter Wie-Beschäftigung