15. Februar 2023
#metoo Fünf Mythen
Social and Human Rights (ESG)

FÜNF MYTHEN – #MeToo & interne Ermittlungen

#MeToo ist längst in Gesellschaft und Unternehmensrealität angekommen. Die Aufarbeitung von Vorfällen ist oft komplex; zudem stellen sich rechtliche Fragen.

If you’ve been sexually harassed or assaulted write „me too“ as a reply to this tweet.

Als die Schauspielerin Alyssa Milano am 15. Oktober 2017 auf „Twittern“ klickt und dabei den Begriff „me too“ von der Aktivistin Tarana Burke aus dem Jahr 2006 aufgreift, ist sie sich nicht darüber im Klaren, welch weitreichende Debatte über Alltagssexismus und Machtmissbrauch sie damit auslöst. Es folgen eine hitzige und überfällige Debatte in der amerikanischen Öffentlichkeit und Verurteilungen, u.a. des Filmproduzenten Harvey Weinstein und anderer Prominenter wie R. Kelly oder Bill Cosby. 

Hierzulande kommt es trotz Anklage durch die Staatsanwaltschaft München I im Jahr 2021 nicht zum „deutschen Weinstein-Prozess“; der angeklagte Regisseur Dieter Wedel stirbt, noch bevor das Strafgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt. Dass Vorfälle sexueller Belästigung aber nicht nur im Showbusiness vorkommen und durchaus auch gravierende persönliche Konsequenzen nach sich ziehen können, zeigt nicht nur der „Compliance-Fall Julian Reichelt“. Auch in anderen Unternehmen wie z.B. einer bekannten Großbank wurden in den letzten Jahren derartige Vorfälle bekannt. 

Anwälte* werden in diesem Rahmen vor allem bei der Sachverhaltsaufklärung, sog. internen Ermittlungen, tätig. Die Rekonstruktion des tatsächlich Geschehenen ist dabei regelmäßig mit großen Schwierigkeiten verbunden, da die Vorkommnisse oftmals Jahre zurückliegen und opferseitig nicht selten mit Angst und Scham behaftet sind. Von Seiten der Beschuldigten wird oft kritisiert, dass durch die Vorwürfe zu einem Klima der Denunziation beigetragen und durch die Kampagnen und öffentlichen Anschuldigungen ein öffentlicher Pranger errichtet wird, gegen den man sich nicht verteidigen könne. Interne Ermittlungen erfordern neben Kenntnis des rechtlichen Terrains und guten Kommunikationsfähigkeiten auch psychologisches Fingerspitzengefühl und Empathie. Schließlich stehen nicht nur der Schutz der Opfer sowie die Reputation des Unternehmens im Fokus. Auch die Rechte und Interessen der Angeschuldigten sind zu wahren, deren Karriere durch falsche Verdächtigungen schnell irreparabel beschädigt werden kann.

Rechtlich stellen sich viele relevante Fragen: Wo verläuft die Grenze zwischen Meinungsäußerung und sexueller Belästigung? Wie können sich Betroffene wehren? Und welche Pflichten treffen Arbeitgeber, wenn Beschäftigte am Arbeitsplatz oder in ihrem persönlichen Umfeld belästigt werden?

Wir räumen mit fünf Fehlvorstellungen auf. 

1. Unterhalb der Schwelle des Strafrechts gibt es für sexuelle Belästigung keinen rechtlichen Rahmen.

Falsch: Zwar ist es richtig, dass die juristische Aufarbeitung sexueller Belästigungen lange Zeit vor allem dem Bereich des Strafrechts als „schärfstem Schwert des Staates“ vorbehalten war. Allerdings hat sich das Sexualstrafrecht im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte grundlegend geändert: So wurde (zuletzt durch das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung aus dem Jahr 2016) die „Nichteinverständnislösung“ („Nein heißt nein“) in § 177 StGB (Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) implementiert. Zudem hat der Gesetzgeber mit § 184i StGB einen eigenen Straftatbestand „Sexuelle Belästigung“ geschaffen. 

Auch im Zivilrecht, welches das Verhältnis zwischen Privatrechtsubjekten regelt, gibt es schon seit längerem gesetzliche Regelungen zur sexuellen Belästigung. So diente das unter der damaligen Bundesministerin für Frauen und Jugend Angela Merkel 1994 eingeführte und bis 2006 geltende deutsche „Beschäftigtenschutzgesetz“ dem Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Ziel des Gesetzes war die „Wahrung der Würde von Frauen und Männern durch den Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz“. Hierzu sah das Gesetz vor, dass auf Beschwerde von Betroffenen der Tatbestand der sexuellen Belästigung zu prüfen und mit angemessenen arbeitsrechtlichen Maßnahmen wie Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung sowie erforderlichen dienstrechtlichen und personalen Maßnahmen zu reagieren war. 

Das Gesetz wurde 2006 durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) abgelöst, das mehrere europäische Richtlinien umsetzt (u.a. Richtlinie 2002/73/EG, nach deren Art. 2 Abs. 3 sexuelle Belästigung als eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gilt und ausdrücklich verboten ist). Bekannt ist das AGG zwar in erster Linie für den von ihm gewährten Schutz vor und die mit ihm angestrebte Bekämpfung von Diskriminierungen, üblicherweise im Arbeitsleben (als Beispiele seien die Altersdiskriminierung in Tarifverträgen, die Geschlechtsdiskriminierung bei Stellenanzeigen oder aber eine diskriminierende Kündigung genannt). § 12 AGG normiert zudem eine Vielzahl von Arbeitgeberpflichten zum Schutz vor sexueller Belästigung. Hierzu gehören neben der Sanktionierung von belästigenden Beschäftigten (vgl. § 12 Abs. 3 AGG) auch das Angebot von Schulungen und Fortbildungen (vgl. § 12 Abs. 1 AGG) sowie sonstige präventive Maßnahmen (vgl. § 12 Abs. 1 AGG), z.B. das Einrichten von Beschwerdekanälen oder die Benennung von Vertrauenspersonen. Kommt der Arbeitgeber seinen Pflichten nicht nach, sind die betroffenen Beschäftigten § 14 AGG zufolge berechtigt, ihre Tätigkeit ohne Verlust des Arbeitsentgelts einzustellen, soweit dies zu ihrem Schutz erforderlich ist (sog. Leistungsverweigerungsrecht). 

2. Sexuell anzügliche Bemerkungen und „Locker Room Talk“ sind nicht okay, sie sind aber keinesfalls mit physischer sexueller Belästigung gleichzusetzen.  

Falsch: Soweit es den Bereich des Strafrechts betrifft, ist zwar zutreffend, dass eine Strafbarkeit wegen sexueller Belästigung nach § 184i StGB voraussetzt, dass das Opfer „in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt“ wurde. Obszöne Äußerungen oder Gesten werden daher, anders als z.B. der Griff in den Schritt oder anderer unerwünschter Körperkontakt, nicht von der Vorschrift erfasst (eine Strafbarkeit kann sich gleichwohl z.B. aus § 185 Abs. 1 StGB ergeben, der Beleidigungen unter Strafe stellt). 

Anderes gilt hingegen für das Zivilrecht: Hier definiert § 3 Abs. 4 AGG die benachteiligende sexuelle Belästigung als

unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören, [das] bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird.

Kurz und knapp: Eine sexuelle Belästigung liegt vor, wenn durch ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten bezweckt oder bewirkt wird, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, wobei dies ausdrücklich auch durch „Bemerkungen sexuellen Inhalts“ geschehen kann. 

Das kann einerseits zu schwierigen Auslegungsfragen führen. Wo verläuft die Grenze zwischen einem Kompliment und einer sexuellen Bemerkung, die z.B. bei der Bemerkung des FDP-Politikers und ehemaligen Bundesministers Brüderle, die Stern-Journalistin Himmelreich könne „ein Dirndl auch ausfüllen“, überschritten war? Und wie ist zu verfahren, wenn Zweifel an dem genauen Wortlaut einer Jahre zurückliegenden Äußerung bestehen? 

Eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigt andererseits jedoch, dass gerade der umfassende Schutz auch vor verbalen Äußerungen wichtig ist. Ihr zufolge erleben 62 % der Befragten Belästigungen in Form von sexualisierten Kommentaren, 44 % berichteten von unerwünschten Blicken, Gesten oder unerwünschtem Nachpfeifen und 26 % von unerwünschten Berührungen. Gerade verbale, nicht körperliche Belästigungen kommen also besonders häufig vor – und sind in ihrer Wirkung nach dem Bundesarbeitsgericht auch nicht zu unterschätzen. Sie bewegen sich (entgegen der Auffassung des LAG in dem zugrunde liegenden Fall) dem BAG zufolge nicht generell in einem „weniger gravierenden Bereich“ als körperliche Belästigungen, sondern können genauso erniedrigend sein. 

Das oberste Arbeitsgericht sah daher eine außerordentliche Kündigung als gerechtfertigt an, mit welcher der Arbeitgeber darauf reagierte, dass sich ein Produktmanager gegenüber einer Einkaufsassistentin auf eine angebliche „Steilvorlage“ hin äußerst vulgär äußerte (BAG, Urteil v. 9. Juni 2011 − 2 AZR 323/10). Wichtig: Vorsätzliches Verhalten der für dieses Ergebnis objektiv verantwortlichen Person ist lt. BAG ebenso wenig erforderlich wie eine Erniedrigungsabsicht oder dass die betroffene Person ihre ablehnende Einstellung zu den fraglichen Verhaltensweisen aktiv verdeutlicht hat. Maßgeblich ist allein, ob die Unerwünschtheit der Verhaltensweise objektiv erkennbar war (BAG, Urteil v. 9. Juni 2011 − 2 AZR 323/10). 

Ist dies der Fall und ein Verhalten als sexuelle Belästigung zu bewerten, kann es nicht nur den Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung rechtfertigen. Unter gewissen Umständen besteht für Arbeitgeber sogar eine gesetzliche Pflicht, Sanktionsmaßnahmen wie Abmahnungen, Versetzungen oder Kündigungen gegen den belästigenden Arbeitnehmer zu ergreifen (vgl. § 12 Abs. 3 AGG). 

3. Beschäftigte, die andere Mitarbeiter oder Arbeitgeber bewusst falsch verdächtigen, müssen ihrerseits nicht mit Repressalien rechnen.  

Falsch: Von Kritikern wird nicht selten moniert, dass die #MeToo-Bewegung vermeintliche Täter (i.d.R. Männer) unter einen gewissen Generalverdacht stelle, während vermeintliche Opfer (i.d.R. Frauen) risikofrei und ohne Konsequenzen auch (falsche) Vorwürfe ins Blaue hinein erheben könnten. Dies entspricht einerseits nicht der Realität und ist andererseits auch in rechtlicher Hinsicht nicht zutreffend. So kann eine falsche Verdächtigung nach der Rechtsprechung durchaus eine Kündigung aufgrund übler Nachrede (§ 186 StGB) rechtfertigen (vgl. LAG Meck-Pom, Urteil v. 29. April 2008 – 5 Sa 181/07). 

Arbeitgeber befinden sich daher regelmäßig, gerade in der Anfangsphase einer #MeToo-Meldung oder eines entsprechenden Hinweises, in einer schwierigen Situation und müssen besonnen überlegen, welcher Partei sie Glauben schenken und wie sie auf die geäußerten Vorwürfe zeitnah reagieren.

Dies erfordert eine schnelle Aufklärung des Sachverhaltes, die nicht selten anwaltlich begleitet wird. Hält der Arbeitgeber die Vorwürfe für nicht gerechtfertigt oder gar frei erfunden, wird er eine Abmahnung bzw. Kündigung der die Belästigung behauptenden Person in Erwägung ziehen müssen. Sind die Vorwürfe hingegen stichhaltig und sehr gravierend, ist eine Kündigung des belästigenden Arbeitnehmers oft unausweichlich. Ob insbesondere eine außerordentliche Kündigung in jedem Fall angemessen und wirksam ist, ist letztlich eine Frage des Einzelfalls – und damit naturgemäß für Arbeitnehmer wie auch für Arbeitgeber risikobehaftet: Stellt sich die Kündigung als unwirksam heraus, besteht das Risiko, dass Schädiger und Geschädigter weiterhin zusammenarbeiten müssen – sofern die Angelegenheit nicht anderweitig aufgelöst wird. Entscheidet sich der Arbeitgeber hingegen „nur“ für eine Anmahnung, kann dies den Eindruck erwecken, sexuelle Belästigung werde vom Arbeitgeber toleriert oder zumindest nicht konsequent verfolgt. 

4. Wird ein Beschäftigter von einem Mitarbeiter sexuell belästigt, hat er Ansprüche gegen diesen, nicht aber gegen den Arbeitgeber.

Falsch: Zwar trifft es zu, dass sexuelle Belästigungen häufig unter Arbeitskollegen erfolgen und sich die Ansprüche des Betroffenen daher zunächst unmittelbar gegen den belästigenden Kollegen richten. Hier kommen zum einen Unterlassungsansprüche (z.B. aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog i.V.m. dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), zum anderen Ansprüche auf Schmerzensgeld in Betracht (§ 823 BGB i.V.m. § 253 Abs. 2 BGB), die jeweils unabhängig von einer strafrechtlichen Verfolgung geltend gemacht werden können. 

Aufgrund der arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht und der Verpflichtungen aus dem AGG hat aber auch der Arbeitgeber weitreichende Pflichten, denen er nachkommen muss. Unterlässt der Arbeitgeber entsprechende Schutzmaßnahmen pflichtwidrig, kann der Arbeitnehmer nicht nur unter Fortzahlung seiner vollen Bezüge die Arbeit verweigern (§ 14 AGG). Darüber hinaus kann der Arbeitnehmer u.U. einen Schadensersatzanspruch gegen den Arbeitgeber gem. § 12 i.V.m. § 15 Abs. 1, 2 AGG geltend machen.Eine Verletzung der Schutzpflichten nach § 12 AGG begründet i.V.m. § 15 Abs. 1 und 2 AGG eine Haftung des Arbeitgebers für eigenes Organisationsverschulden, auch wenn die eigentliche Benachteiligungshandlung nicht durch den Arbeitgeber selbst, sondern durch einen anderen Beschäftigten oder einen Dritten begangen wird.

So hatte sich unlängst bspw. das Arbeitsgericht Frankfurt am Main damit auseinanderzusetzen, dass eine mutmaßlich sexuell belästigte Arbeitnehmerin nicht nur die mangelnde Rechtfertigung ihrer Kündigung (angeblich eine „Rachekündigung“), sondern auch Schadensersatzansprüche gegen ihren (alten) Arbeitgeber geltend machte, da dieser sie nicht ausreichend geschützt habe (Urteil v. 29.10.2021 – 7 Ca 194/21).

Im Ergebnis hielt das Gericht den Arbeitgeber nicht für schadensersatzpflichtig, und zwar selbst dann nicht, wenn eine sexuelle Belästigung durch Mitarbeiter unterstellt würde. Denn für eine Haftung des Arbeitgebers aufgrund Zurechnung des (fremden) Verschuldens seiner Mitarbeiter fehle es an einem sachlichen inneren Zusammenhang zwischen der vermeintlichen sexuellen Belästigung der Mitarbeiter und der Arbeitsleistung der Mitarbeiter. 

Eine Haftung für eigenes Organisationsverschulden des Arbeitgebers nach dem AGG bzw. für eine Verletzung der Schutzpflicht des Arbeitgebers schied ebenfalls aus, da die Klägerin nicht dargetan hatte, durch welche allgemeinen organisatorischen Maßnahmen der Arbeitgeber die sexuelle Belästigung hätte verhindern können, zumal der Arbeitgeber von der sexuellen Belästigung gar keine Kenntnis gehabt habe.

5. Häusliche Gewalt ist Privatsache. Ich darf mich als Arbeitgeber hier nicht einmischen. Mich treffen daher auch keine Pflichten, gegen häusliche Gewalt vorzugehen.

Falsch: Grds. trifft es zwar zu, dass es keine ausdrückliche gesetzliche Regelung gibt, die den Arbeitgeber im Fall häuslicher Gewalt zum Handeln verpflichtet. Mitunter werden aber aus Art. 12 Abs. 1 GG, § 241 Abs. 2 BGB, § 618 BGB sowie § 12 Abs. 4 AGG weitreichende Fürsorge- und Schutzpflichten des Arbeitgebers gegenüber seinen Arbeitnehmern im Einzelfall hergeleitet. Denn das AGG gewährt nicht nur Schutz vor Arbeitskollegen am Arbeitsplatz (§ 12 Abs. 1, 3 AGG), sondern ausdrücklich auch vor „Dritten“ (§ 12 Abs. 4 AGG).

Fraglich ist insofern nur, ob Freunde bzw. Familienangehörige „Dritte“ i.S.d. Vorschrift sind. Gemeint sind hiermit zunächst nur geschäftliche Kontakte wie bspw. Lieferanten oder Kunden, während Freunde bzw. Familienangehörige des Arbeitnehmers dessen privater Sphäre zuzurechnen sind. Das gilt umso mehr, als der Arbeitgeber regelmäßig keinen Einfluss darauf hat, mit wem sich der Arbeitnehmer umgibt. Allerdings ist es aufgrund des Schutzzwecks von § 12 Abs. 4 AGG insbesondere unter dem Gesichtspunkt der modernen Arbeitsformen nicht fernliegend, auch Dritte wie den Lebenspartner und Familienangehörige in seinen Schutzbereich miteinzubeziehen. Schließlich verschwimmen die traditionellen Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben immer mehr, seit Arbeitnehmer vermehrt im Home-Office, am Telearbeitsplatz oder im Rahmen mobiler Arbeit tätig sind. Der berufliche Alltag spielt sich nicht mehr fast ausschließlich im räumlichen Machtbereich des Arbeitgebers ab. Im „Corona-Jahr 2020“ sind parallel zum Anstieg der Home-Office-Arbeitsplätze die Fälle häuslicher Gewalt lt. Bundeskriminalamt (BKA) gestiegen. Gegenüber dem Vorjahr 2019 ergab die Studie des BKA einen Zuwachs von 4,9 % im Jahr 2020; Tendenz steigend, Dunkelziffer nicht eingerechnet.

Der Arbeitgeber dürfte hier ein Interesse – und gem. zitierten Vorschriften u.U. die Pflicht haben – den Arbeitnehmer vor Beeinträchtigungen auch außerhalb des betrieblichen Arbeitsplatzes zu schützen. Das gilt nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gesundheit, sondern auch der Produktivität. Opfer von häuslicher Gewalt leiden regelmäßig an Unkonzentriertheit, Müdigkeit und/oder Unwohlsein, was die Arbeitsleistung mindert. Für eine Ausweitung der Pflichten spricht damit, dass der Begriff des Arbeitsplatzes mehr und mehr konturlos wird und sich damit auch der Kreis der im AGG genannten „Dritten“ weiter zieht. Die Kontakte während der Arbeitszeit beschränken sich schließlich nicht mehr nur auf Kollegen oder Geschäftspartner.

Dem möglichen Einschreiten des Arbeitgebers sind dabei natürlich wie rechtlich Grenzen gesetzt. So hat er weiterhin die Privatsphäre und den durch das Grundgesetz geschützte Wohnbereich des Arbeitnehmers zu achten. Zudem muss sich der Vorfall im Rahmen der vom Arbeitnehmer ausgeübten Tätigkeit abgespielt haben. Vorfälle, die außerhalb der Arbeitszeit des Arbeitnehmers liegen und in keinem Zusammenhang zur Beschäftigung stehen, lösen daher keine Arbeitgeberpflichten aus. Anderenfalls würde der Pflichtenkatalog des Arbeitgebers in unzumutbarer Weise überspannt. 

Erfährt der Arbeitgeber von einem Vorfall, stellt sich die Frage, welche Maßnahmen er überhaupt ergreifen kann. Wird die Tätigkeit (überwiegend) aus dem Home-Office ausgeübt, kann es sich durchaus anbieten, dem Arbeitnehmer einen lokalen Arbeitsplatz im Betrieb als „Safe Place“ zur Verfügung zu stellen. Zudem sollte darüber nachgedacht werden, eine interne oder externe Anlaufstelle für Arbeitnehmer einzurichten, bei der sie Hilfe erlangen können. Der Weg über das Strafrecht steht freilich bei den sog. (relativen) Antragsdelikten, zu denen auch die sexuelle Belästigung gehört, zunächst nur dem Arbeitnehmer als potentiell Verletztem offen. 

Handlungsanleitung

Arbeitgeber, die sich mit Vorfällen in Bezug auf sexuelle Belästigung in ihrem Unternehmen konfrontiert sehen, müssen nicht selten einen Drahtseilakt bewältigen. Zum einen ist zeitnahes Handeln gefordert, will man schnell Abhilfe schaffen und Gerüchte in der Belegschaft vermeiden. Zum anderen sind Umsicht und Unvoreingenommenheit bei der Sachverhaltsaufarbeitung erforderlich, um folgenschwere Fehler bei der Aufklärung und vorschnellen Sanktionierung auszuschließen.

(1) Prävention 

Das Hauptaugenmerk sollte daher unbedingt darauf liegen, Vorfälle im Vorhinein zu verhindern. Das kann durch die Etablierung einer Unternehmenskultur, die einen Schwerpunkt auf Inklusion und Diversität legt, erreicht werden. Ziel muss es sein, ein Umfeld zu schaffen, in dem potentiell Betroffene bestmöglich vor sexueller Belästigung geschützt sind und im Falle von Fehlverhalten anderer Beschäftigter jedwede notwendige Unterstützung erfahren. Dies schließt ein funktionierendes Hinweisgeberschutz- und Compliance-Management-System ein, in deren Rahmen etwaige Vorfälle effektiv und anonym adressiert werden können und verfolgt werden. Zudem ist es notwendig, Strukturen zu schaffen, die Betroffenen bei der Bewältigung des Vorfalls unkompliziert Unterstützung ermöglichen, z.B. in Form von Vertrauenspersonen. Aus Gründen der Transparenz kann es außerdem empfehlenswert sein, ein auf das Unternehmen zugeschnittenes Verfahrens- und Regelwerk einzuführen, z.B. in Form einer „Respect at the Workplace Policy“, eines Code of Conduct oder von Ethik-Richtlinien. 

Darüber hinaus helfen Schulungen und Awareness-Trainings, das Bewusstsein für dieses wichtige Thema zu schärfen. Dies gilt insbesondere für Führungskräfte, da diese einerseits als Role Model mit gutem Beispiel vorangehen sollten und andererseits aufgrund ihrer exponierten Stellung im systematischen Über-/Unterordnungsverhältnis ein eigenes Bewusstsein für typische Situationen, die als subtile Belästigung empfunden werden können, entwickeln sollten. Schulungen schaffen ein Problembewusstsein und führen damit zu einer stärkeren Sensibilisierung für das Thema. 

(2) Sachverhaltsaufarbeitung und Dokumentation

Gibt es Vorkommnisse, die Ermittlungen erforderlich machen, bedarf es einer schnellen und effektiven Sachverhaltsaufarbeitung. Dies schließt Gespräche mit den Betroffenen ein, die im besten Fall unter Zeugen vorgenommen werden („Vier-Augen-Prinzip“) und wörtlich zu protokollieren sind. Das gilt auch für alle weiteren Ermittlungsschritte und Zwischenergebnisse. Von großer Bedeutung ist es dabei regelmäßig, den Sachverhalt vertraulich zu behandeln und allen Beteiligten zu vermitteln. Der Personenkreis, der involviert wird, sollte daher nach Möglichkeit auf das erforderliche Maß beschränkt werden. Je nach Schwere der Vorwürfe kann es zudem notwendig sein, eine vorübergehende Entfernung der Betroffenen aus dem betrieblichen Arbeitsumfeld durch Freistellungen (zum Schutz oder zur ungestörten Durchführung der Ermittlungsarbeit) sicherzustellen. Die Ergebnisse einer internen Ermittlung sollten allenfalls nach Abschluss derselben kommuniziert werden. 

(3) Einleiten rechtlicher Schritte 

Je nach Ermittlungsergebnis kommt Abmahnung oder Kündigung in Betracht – beide sind gegeneinander abzuwägen. Denn bei Belästigungen am Arbeitsplatz kommt für Arbeitgeber aus nachvollziehbaren Gründen nur selten eine vergleichsweise Lösung in Betracht. Zu groß sind der drohende Schaden für die Unternehmenskultur und die Gefahr einer in der Belegschaft wahrgenommenen Bagatellisierung der Geschehnisse durch die Unternehmensleitung. Arbeitgeber werden in derartigen Konstellationen daher allzu oft „klare Kante“ zeigen wollen und es im Zweifel auf eine gerichtliche Entscheidung ankommen lassen. Dementsprechend wichtig ist eine sorgfältige und rechtlich saubere Durchführung der internen Ermittlung und der Vorbereitung der arbeitsrechtlichen Sanktionierung, gleich ob Abmahnung oder außerordentliche Kündigung.

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: #metoo Für Mythen Nachhaltigkeit