14. November 2019
90%-Test Erbschaftsteuer
Steuerrecht

90%-Test: Verfassungsrechtliche Zweifel am reformierten Erbschaftsteuergesetz

Das Finanzgericht Münster sieht ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des sog. 90%-Tests bei der unentgeltlichen Übertragung von betrieblichen Vermögen.

Wird betriebliches Vermögen durch Schenkung oder im Rahmen eines Erbfalls übertragen, können Steuerbefreiungen zur Anwendung kommen (§§ 13a ff. ErbStG). Diese Steuerbefreiungen werden jedoch vollständig nicht gewährt, wenn das sog. Verwaltungsvermögen die Grenze von 90% des Unternehmenswerts erreicht (§ 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG). Es handelt sich hierbei um ein Alles-oder-Nichts-Prinzip.

Die Regelung wurde in das Gesetz eingefügt, um eine Mitbegünstigung von übermäßigem Verwaltungsvermögen und damit missbräuchliche Gestaltungen zu verhindern.

Nettoverwaltungsvermögen ist steuerpflichtig

Zum Verwaltungsvermögen gehören insbesondere an Dritte vermietete Grundstücke, Wertpapiere sowie sog. Finanzmittel. Letztere sind insbesondere Bankbestände und Forderungen. Allerdings fallen nicht nur Darlehensforderungen unter die Definition der Finanzmittel, sondern auch Forderungen aus Lieferungen und Leistungen, also Forderungen, die im operativen Betrieb entstanden sind.

Für das Verwaltungsvermögen werden die Steuerbefreiungen für Betriebsvermögen grundsätzlich nicht gewährt. Steuerpflichtig ist jedoch nur das sog. Nettoverwaltungsvermögen. Zur Ermittlung der schädlichen Finanzmittel sind hierbei die Schulden gegenzurechnen. Zudem kann ein sog. Finanzmittelfreibetrag von 15% des Unternehmenswerts abgezogen werden. So wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Unternehmen einen gewissen Liquiditätspuffer vorhalten müssen. Bei operativen Unternehmen verbleiben aufgrund dieser Berechnungsmethodik in den meisten Fällen keine oder nur geringe steuerpflichtige Finanzmittel.

Abweichende Berechnungsmethodik für den sog. 90%-Test

Anders als bei der Ermittlung des steuerpflichtigen Verwaltungsvermögens wird für den 90%-Test das Brutto-Verwaltungsvermögen herangezogen. Geldbestände und Forderungen dürfen danach nicht mit den Schulden verrechnet werden. Auch der Finanzmittelfreibetrag darf nicht abgezogen werden. Das so ermittelte Bruttoverwaltungsvermögen wird zum Unternehmenswert ins Verhältnis gesetzt. Dies kritisiert das Finanzgericht Münster.

Finanzamt lehnte wegen Verstoßes gegen den 90%-Test eine Steuerbegünstigung ab

Einem Urteil des FG Münster (Beschluss vom 3. Juni 2019 – 3 V 3697/18) lag die Schenkung von Geschäftsanteilen an einer Kapitalgesellschaft zu Grunde. Der Wert der Geschäftsanteile wurde als Substanzwert (Aktivvermögen abzüglich Passivvermögen) mit rund TEUR 556 festgestellt. Weiterhin wurden Finanzmittel in Höhe von EUR 2,5 Mio. und Schulden in Höhe von EUR 3,1 Mio. festgestellt. Bei den Finanzmitteln handelte es sich im Wesentlichen um Forderungen aus Lieferungen und Leistungen.

Das Finanzamt lehnte wegen Verstoßes gegen den 90%-Test eine Steuerbegünstigung nach §§ 13a, 13b ErbStG vollständig ab und setzte Schenkungsteuer fest. Im Einspruchsverfahren gegen die Festsetzung der Schenkungsteuer wurde Aussetzung der Vollziehung beantragt. Auch dies wurde vom Finanzamt abgelehnt. Hiergegen richtete sich die Klage des Beschenkten.

Finanzgericht sieht verfassungsrechtliche Bedenken und lässt die Aussetzung der Vollziehung zu

Das Finanzgericht sieht ernstliche verfassungsrechtliche Zweifel an der gesetzlichen Regelung. Dies begründet das Gericht damit, dass die Finanzmittel zur Berechnung des 90%-Tests ohne Abzug der Schulden und ohne Abzug des 15%-igen Freibetrags berücksichtigt werden. Die gesetzliche Regelung führe zu einem wirtschaftlich nicht nachvollziehbaren Ergebnis, so dass zweifelhaft sei, ob dieses Ergebnis durch den Gesetzeszweck, der darin besteht, Missbrauch zu verhindern, gedeckt sei. Das Finanzgericht hat deshalb die Aussetzung der Vollziehung zugelassen.

Denn aufgrund der Berechnungsmethodik des 90%-Tests wird der Bruttowert des Verwaltungsvermögens mit dem Unternehmenswert, der ein Nettowert ist, ins Verhältnis gesetzt. Im Urteilsfall, in welchem der Unternehmenswert als Substanzwert (Aktiva abzüglich Passiva) ermittelt wurde, ergab sich eine Verwaltungsvermögensquote von 473%. Hieraus ist klar ersichtlich, dass die Regelung zu einem unzutreffenden Ergebnis führt.

Die 90%-Grenze kann – wie im Urteilsfall – auch dann erreicht sein, wenn das unter Anwendung des Finanzmitteltests (Schuldenabzug und Abzug des 15%-Freibetrags) berechnete grundsätzlich steuerpflichtige Verwaltungsvermögen EUR 0 beträgt und damit sogar eine 100%-ige Steuerbefreiung (Optionsverschonung) zur Anwendung kommen würde, wenn die 90%-Grenze nicht überschritten wäre. Dies zeigt die Absurdität der gesetzlichen Regelung.

Da sich die Finanzmittel im Urteilsfall im Wesentlichen aus Forderungen aus Lieferungen und Leistungen zusammensetzten, kann eine missbräuchliche Gestaltung nicht vorliegen, so dass kein sachlicher Grund für die Versagung der Steuerbefreiung ersichtlich ist.

Keine Erleichterung durch die vor Kurzem verabschiedeten Erbschaftsteuerrichtlinien 2019 bzw. aktuelle Gesetzentwürfe

Die Finanzverwaltung hat mit den Erbschaftsteuerrichtlinien 2019 im Oktober ihre Auffassung zur Auslegung des Erbschaftsteuergesetzes veröffentlicht. Wohl wegen des eindeutigen Gesetzeswortlauts ist keine Erleichterung im Hinblick auf die 90%-Grenze vorgesehen. In der Literatur wird dagegen eine teleologische Reduktion für zulässig angesehen (Korezkij, DStR 2017, 745).

Auch der Entwurf des Gesetzes zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und weiterer steuerlichen Vorschriften sieht keine Anpassung der gesetzlichen Regelung vor.

Praxistipp: Anwendung der sog. Investitionsklausel prüfen – oder/und Einspruch einlegen

In Erbfällen besteht unter Umständen die Möglichkeit, durch Anwendung der sog. Investitionsklausel innerhalb von 2 Jahren nach einem Erbfall rückwirkend Verwaltungsvermögen in begünstigtes Vermögen umzuqualifizieren (§ 13b Abs. 5 ErbStG). Allerdings kann die Investitionsklausel in Unternehmensketten im Falle von Minderheitsgesellschaftern aufgrund des Erfordernisses des vorgefassten Plans des Erblassers ins Leere gehen.

Für den Fall einer Schenkung besteht die Möglichkeit der Anwendung der Investitionsklausel nicht. Falls die Quote über 90% liegt, sollte das Verwaltungsvermögen durch Gestaltungen vor der Schenkung, beispielsweise eine Entnahme soweit gemindert werden, dass der 90%-Test bestanden wird. Im Urteilsfall wäre aber auch das keine Lösung gewesen, da es sich bei den Finanzmitteln um Forderung aus Lieferungen und Leistungen gehandelt hat, die nicht hätten entnommen werden können.

Ansonsten bleibt den Steuerpflichtigen nur, den Rechtsweg zu beschreiten und gegen Bescheide, die eine Begünstigung nach §§ 13a ff. ErbStG wegen Verstoßes gegen den 90%-Test ablehnen, Einspruch einzulegen.

Der Gesetzgeber wäre gut beraten gewesen, den systematisch und wirtschaftlich unsinnigen Gesetzeswortlaut anzupassen. Solange dies jedoch nicht erfolgt ist, besteht das Risiko einer erneuten Verfassungswidrigkeit des Erbschaftsteuergesetzes.

Steuerpflichtige sollten vor jeder Schenkung die Höhe des Bruttoverwaltungsvermögens überprüfen, um bei Bedarf noch rechtzeitig Gestaltungen umsetzen zu können. Insbesondere im Falle von Personengesellschaften kann bei Vorliegen von Gesellschafterdarlehen ein Verstoß gegen den 90%-Test drohen. Denn Gesellschafterdarlehen gehören – ohne Verrechnung mit den Schulden im Gesamthandsvermögen – zu den beim Verwaltungsvermögenstest zu berücksichtigenden Finanzmitteln.

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