Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 6 November 2019 zwei wegweisende Entscheidungen zum sogenannten „Recht auf Vergessen“ im Internet verkündet.
Es geht um zentrale Fragen des Umgangs mit Altmeldungen im Internet: Dürfen ursprünglich rechtmäßige Berichte über Verfehlungen, Straftaten oder sonstige biografische Tiefpunkte Betroffener zeitlich unbegrenzt zum Abruf bereitgehalten und von Suchmaschinen bei der Eingabe des Namens des Betroffenen zutage gefördert werden? Beeinflusst der Zeitablauf die Zulässigkeit der weiteren Verbreitung? Diese Fragen betreffen die Online-Archive der Medien ebenso wie die Betreiber von Suchmaschinen.
Neu ist das „Recht auf Vergessen“ nicht. Bisher betraf es aber nur Suchmaschinen, gestützt auf datenschutzrechtliche Entscheidungen des EuGH. Demgegenüber blieben Altmeldungen in den Online-Archiven der Verlage hiervon nach der Rechtsprechung des BGH unberührt. In beiden Konstellationen war verfassungsrechtlich das letzte Wort noch nicht gesprochen. Nun hat das sich erstmals das BVerfG geäußert. Seine Beschlüsse enthalten Leitlinien für den zukünftigen Umgang mit Altmeldungen in Archiven und durch Suchmaschinen.
„Recht auf Vergessen I“ – Altmeldungen in den Onlinearchiven der Medien
Im Fall „Recht auf Vergessen I“ (Az. 1 BvR 16/13) ging es um die Abrufbarkeit von Artikeln im Archiv des „Spiegel“ aus den Jahren 1982 und 1983, in denen über die Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes am Eigner der Yacht „Apollonia“ berichtet worden war.
Im Jahr 2002 wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen. Noch Jahre später wurden die Artikel aus den achtziger Jahren bei Eingabe des Namens von gängigen Suchmaschinen unter den ersten Treffern angezeigt. Der BGH hielt dies für zulässig, weil er das Interesse der Öffentlichkeit, sich über vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse in Online-Archiven der Medien zu informieren, höher gewichtete als die persönlichkeitsrechtlichen (und insbesondere Resozialisierungs-) Interessen des Betroffenen.
Dessen Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG nun stattgegeben. Es hat zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG und der Meinungs- und Pressefreiheit des Verlags aus Artikel 5 I GG abgewogen. Dabei hat es darauf hingewiesen, dass es zwar kein „Recht auf Vergessenwerden“ in einem allein vom Betroffenen bestimmbaren Sinn gebe; allerdings müsse dem Betroffenen gerade in Zeiten des Internets die Chance eröffnet werden, Irrtümer und Fehler hinter sich zu lassen. Die Möglichkeit des Vergessens gehöre zur Zeitlichkeit der Freiheit, so das BVerfG geradezu philosophierend.
Auf der anderen Seite sei die Bedeutung der Online-Archive die Information der Öffentlichkeit zu berücksichtigen. Die Archive seien nicht nur eine wichtige Quelle für journalistische und zeithistorische Recherchen und damit für die demokratische Debatte, sondern für die Verlage auch wirtschaftlich zunehmend relevant.
Die Abwägung löst das BVerfG dahin, dass ein Verlag anfänglich rechtmäßig veröffentlichte Berichte grundsätzlich in ein Online-Archiv einstellen und auch dauerhaft zum Abruf bereithalten darf, ohne sie von sich aus regelmäßig auf ihre weitere Rechtmäßigkeit prüfen zu müssen. Allerdings könnten Schutzmaßnahmen dann geboten sein, wenn Betroffene sich an den Verlag gewandt und ihre Schutzbedürftigkeit näher dargelegt hätten. Diese müsse im Einzelfall umfassend, u.a. anhand von Anlass und Gegenstand der Berichterstattung, aber auch der tatsächlichen Belastung für den Betroffenen und dessen eigenem Verhalten, geprüft werden.
Im Einzelfall seien Abstufungen von Schutzmaßnahmen denkbar, die für die Anbieter zumutbar sein müssten. Anzustreben sei ein Ausgleich, der einen ungehinderten Zugriff auf den Originaltext möglichst weitgehend erhalte, diesen auf entsprechenden Schutzbedarf hin – insbesondere gegenüber namensbezogenen Suchabfragen mittels Suchmaschinen – aber einzelfallbezogen doch hinreichend begrenze. Wie dieser Ausgleich auszusehen hat, muss nun der BGH klären, an den das BVerfG den Rechtsstreit zurückverwiesen hat.
„Recht auf Vergessen II“ – Altmeldungen in der Trefferliste von Suchmaschinen
Einfacher war die Entscheidung im Fall „Recht auf Vergessen II“ (Az. 1 BvR 276/17). Hier ging es um die Klage der Geschäftsführerin eines Unternehmens gegen den Anbieter von Google auf Unterlassung der Anzeige eines Links, der in der Google-Trefferliste nach Eingabe ihres Namens erschien und auf eine Berichterstattung des NDR mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ verwies. Die Betroffene beanstandete, dass schon die Überschrift mit dem Hinweis auf „fiese Tricks“, die sie nie angewandt haben will, verfälschend sei. Überdies berief sie sich auf das Entfallen des öffentlichen Informationsinteresses infolge Zeitablaufs.
Das OLG Celle hatte die Unterlassungsklage gegen Google abgewiesen, auch die Verfassungsbeschwerde der Betroffenen blieb erfolglos. Bereits zuvor war sie mit einer äußerungsrechtlichen Klage gegen den NDR in allen Instanzen gescheitert.
Das BVerfG beurteilt den Rechtsstreit nach datenschutzrechtlichen Maßstäben des harmonisierten EU-Rechts (das Medienprivileg des Datenschutzrechts greift bei Suchmaschinen nicht), weshalb es hier eine Grundrechtsabwägung auf der Basis der EU-Grundrechte Charta vornimmt. Dabei kamen auf der einen Seite die unternehmerische Freiheit des Suchmaschinenbetreibers aus Artikel 16 GRCh und (gewichtiger noch) die Meinungsfreiheit des NDR und die Informationsinteressen der Öffentlichkeit zum Tragen, auf der anderen Seite die Grundrechte der Betroffenen auf Achtung des Privatlebens und Schutz ihrer personenbezogenen Daten aus Artikel 7 und 8 GRCh.
Das BVerfG bestätigt im Wesentlichen die vom OLG Celle vorgenommene Abwägung. Zutreffend habe das OLG berücksichtigt, dass sich der zugrunde liegende Beitrag auf ein berufliches Verhalten der Beschwerdeführerin beziehe und überdies ein Interview enthalte, zu dem sie selbst ihre Zustimmung gegeben habe. Zutreffend habe es auch auf das Ausmaß der Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung unter Berücksichtigung des Zeitablaufs zwischen der ursprünglichen Veröffentlichung und deren späteren Abrufbarkeit abgestellt und sei dabei zum Ergebnis gekommen, dass der Beitrag durch ein noch fortdauerndes, wenn auch mit der Zeit abnehmendes öffentliches Informationsinteresse gerechtfertigt sei. Ein Anspruch auf Auslistung sei jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung des OLG, rund sieben Jahre nach der Veröffentlichung des Beitrags, noch nicht gegeben.
„Recht auf Vergessen“ auch in Zukunft kein Selbstgänger
Beiden Entscheidungen lässt sich entnehmen, dass das BVerfG die zeitlich unbegrenzte Abrufbarkeit ursprünglich rechtmäßiger, aber abträglicher Altmeldungen in Einzelfällen verfassungsrechtlich für problematisch hält.
Allerdings will es möglichen Löschungsverlangen von Betroffenen auch nicht Tür und Tor öffnen; die Online-Archive der Medien sollen nicht im Bestand gefährdet werden. Danach müssen Inhalteanbieter und Suchmaschinenbetreiber auch weiterhin nicht von sich aus anlasslos Archive und mögliche Trefferlisten nach eventuell überholten Altmeldungen durchsuchen. Wenn aber ein Betroffener bestimmte Altmeldungen oder darauf bezogene Links in den Trefferlisten von Suchmaschinen unter Berufung auf den Zeitfaktor beanstandet, muss dem nachgegangen werden.
Erfolg werden Beanstandungen aber auch künftig nur in besonderen Fällen haben können. Schaut man sich die verschiedenen Kriterien des BVerfG näher an, so bleiben als Hauptanwendungsfälle Altmeldungen über lange zurückliegende und verbüßte Straftaten. In welchen weiteren Fällen Löschungs- oder Auslistungsansprüche denkbar sind, ist ebenso ungeklärt wie die Frage, wie viel Zeit vergangen sein muss, bevor ein Löschungsverlangen Aussicht auf Erfolg hat. Sieben Jahre reichten in der zweiten genannten Entscheidung jedenfalls nicht.
Und gänzlich offen ist schließlich, wie bei den Online-Archiven ggf. erforderliche punktuelle Zugriffssperren in zumutbarer Weise technisch umzusetzen sind. Hier wird auf die Gerichte noch viel Arbeit zukommen.