Das OVG Münster hält die neue Vorratsdatenspeicherung für mit dem Unionsrecht unvereinbar. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bleibt abzuwarten.
Kurz bevor IT-Provider in Deutschland die Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung umsetzen müssen, hat das OVG Münster entschieden, dass diese gegen Unionsrecht verstößt. Der Beschluss entfaltet zwar nur Rechtswirkung gegenüber der Antragstellerin. Offen ist allerdings noch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema.
Ergänzend zu unserem Beitrag vom 24. Januar 2017 fassen wir die jüngsten Entwicklungen zur Vorratsdatenspeicherung zusammen.
Neue Regelungen – IT-Provider müssen Verkehrs- und Standortdaten speichern
Die im Dezember 2015 beschlossene und nach wie vor umstrittene Regelung zur Vorratsdatenspeicherung im Telekommunikationsgesetz („TKG″) gilt ab dem 01. Juli 2017. Nach dem neuen § 113b TKG müssen Erbringer öffentlich zugänglicher Internetzugangsdienste („IT-Provider″) anfallende Verkehrs- und Standortdaten ihrer Nutzer für zehn bzw. vier Wochen auf Vorrat speichern. So sollen diese auf Aufforderung durch die zuständigen Behörden, zum Beispiel zu Strafverfolgungszwecken, den Ermittlungsbehörden die nötigen Daten zur Verfügung stellen können. Verstöße können mit Geldbußen in Höhe von bis zu 500.000,- Euro geahndet werden (§ 149 TKG).
Andere Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung waren zuvor vom Bundesverfassungsgericht (Urteil v. 02. März 2010 – 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08) bzw. vom EuGH (08. April 2014 – C-293/12, C-594/12) gekippt worden. An den Vorgaben aus diesen Entscheidungen muss sich auch der neue § 113b TKG messen lassen.
Absage des OVG Münster an die Zulässigkeit der neuen Vorratsdatenspeicherung
Nur wenige Tage vor Ablauf der Umsetzungsfrist für die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung hat nun das OVG Münster unter Berufung auf die Vorgaben des EuGH entschieden, dass die Regelungen gegen Unionsrecht verstoßen.
Dem liegt ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vor dem VG Köln durch das Münchener Unternehmen Spacenet zugrunde, das insbesondere Internetzugangsleistungen für Geschäftskunden erbringt. Diesen Antrag hatte das VG Köln, unter anderem gestützt auf „vernünftige Gründe des Gemeinwohls″, abgelehnt (Beschluss v. 25. Januar 2017 – 9 L 1009/16).
Das OVG Münster hingegen gab der Antragstellerin in dem hiergegen gerichteten Beschwerdeverfahren durch Beschluss vom 22. Juni 2017 (Az.: 13 B 238/17) nun Recht (Pressemitteilung des OVG Münster vom 22. Juni 2017). Unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils vom 21. Dezember 2016 (Az.: C-203/15 und C-698/15) sei die Regelung in § 113b TKG in ihrer jetzigen Ausgestaltung nicht mit Art. 15 Abs. 1 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation 2002/58/EG vereinbar.
Dem OVG Münster zufolge umfasse die Speicherpflicht in Deutschland
pauschal die Verkehrs- und Standortdaten nahezu aller Nutzer von Telefon- und Internetdiensten.
Wohingegen dem EuGH zufolge nur solche Regelungen zulässig seien, die den
von der Speicherung betroffenen Personenkreis von vornherein auf Fälle beschränke, bei denen ein zumindest mittelbarer Zusammenhang mit der durch das Gesetz bezweckten Verfolgung schwerer Straftaten bzw. der Abwehr schwerwiegender Gefahren für die öffentliche Sicherheit bestehe.
Als Beispiele hierfür nennt das OVG Münster etwa Beschränkungen durch personelle, zeitliche oder geografische Kriterien. Insbesondere könne nach dem Urteil des EuGH die anlasslose Speicherung von Daten nicht allein dadurch kompensiert werden, dass die Behörden nur zum Zweck der Verfolgung schwerer Straftaten bzw. der Abwehr schwerwiegender Gefahren Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten erhielten. Auch strengere Maßnahmen zum Schutz der gespeicherten Daten vor Missbrauch könne die anlasslose Speicherung nicht rechtfertigen.
Uneinigkeit und Ungewissheit auf Bundesebene
Die Auffassung des OVG Münster, dass die Vorratsdatenspeicherung den Anforderungen des EuGH nicht gerecht wird, teilt offenbar auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Nach Angaben der Mitteldeutschen Zeitung hält dieser die Vorratsdatenspeicherung in einem Gutachten ebenfalls nicht mit Unionsrecht vereinbar.
Die Bundesregierung erklärte hingegen in Beantwortung zweier Anfragen der Linken zur Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung (BT-Drs. 18/11682, 18/11863), auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH gebe es keine Zweifel an der Zulässigkeit der neuen Regelung zur Vorratsdatenspeicherung (BT-Drs. 18/12229 und 18/12253).
Zur Vorratsdatenspeicherung sind derzeit diverse Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig. Verschiedene Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Einführung der Vorratsdatenspeicherung vor dem Bundesverfassungsgericht sind mangels Eilbedürftigkeit gescheitert. Eine Entscheidung in der Sache steht hingegen noch aus. Eine durch den Blog „freiheitsfoo″ bereitgestellte Übersicht zum aktuellen Verfahrensstand findet sich hier.
Ausblick – Rechtssicherheit erst durch das Bundesverfassungsgericht
Die Zukunft der Vorratsdatenspeicherung bleibt damit trotz ihrer Einführung in wenigen Tagen ungewiss.
IT-Provider müssten die Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung eigentlich ab dem 01. Juli 2017 umsetzen. Zwar ist der Beschluss des OVG unanfechtbar, er wirkt jedoch nur gegenüber der Antragstellerin. Er hat damit keine Bindungswirkung für andere IT-Provider. Diese müssten daher (mit eigenem Prozessrisiko) selbst verwaltungsgerichtliche Mittel ergreifen, sofern sie eine eigene gerichtliche Entscheidung erzielen wollen.
Vieles ist derweil noch unklar. Dazu zählt beispielsweise auch die Speicherpflicht von WLAN-Betreibern. So hat sich beispielsweise der Verein „Freifunk Rheinland″ nach eigenen Angaben von der Bundesnetzagentur zusichern lassen, dass die WLAN-Betreiber zumindest bis zu einer endgültigen Entscheidung der Bundesnetzagentur über die Einstufung von Freifunk als Internetzugangsdienst die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung nicht umzusetzen brauchen, ohne Sanktionen zu befürchten. Nach Ansicht der Bundesnetzagentur ist bereits zweifelhaft, ob der Verein als tauglicher IT-Provider im Sinne des § 113b TKG in Betracht kommt. Freifunk ermöglicht Personen, die sich in der Nähe eines Freifunk-WLAN-Netzwerks befinden, kostenfreien Zugang zum WLAN-Netzwerk.
Unabhängig davon hat die Bundesnetzagentur aufgrund der „über den Einzelfall hinausgehenden Begründung″ der Entscheidung des OVG Münster erfreulicherweise verkündet, dass es bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens von Anordnungen und sonstigen Maßnahmen zur Durchsetzung der in § 113b TKG geregelten Speicherverpflichtungen gegenüber allen verpflichteten Unternehmen absehen wird. Jedenfalls bis dahin wird die Bundesnetzagentur keine Maßnahmen zur Durchsetzung der Speicherpflicht gegen die verpflichteten Unternehmen durchsetzen. 1&1 hat in Folge dessen angekündigt, bis dahin keine Daten auf Vorrat zu speichern.
Die endgültige Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der neuen Vorratsdatenspeicherung obliegt letztlich aber (erneut) dem Bundesverfassungsgericht. Ein Zeitrahmen für die Entscheidung ist nicht bekannt. Vorher kann von Rechtssicherheit in puncto Vorratsdatenspeicherung für die IT-Provider leider keine Rede sein.
Update v. 12.07.2017: Eine europäische Lösung der Vorratsdatenspeicherung 2.0?
Weitere Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung könnten in der näheren Zukunft auch aus Europa kommen. Der EU-Rat beabsichtigt nun offenbar infolge einer informellen Sitzung der Innen- und Justizminister der Mitgliedstaaten in Tallinn die verbliebenen Optionen einer europaweiten Regelung zur Vorratsdatenspeicherung durch eine Expertengruppe prüfen zu lassen. Genaueres bleibt abzuwarten. Jedwede Richt- oder Leitlinien müsste sich jedenfalls an der Rechtsprechung des EuGH messen lassen, der die ansatzlose Vorratsdatenspeicherung in den letzten Jahren als unionsrechtswidrig gekippt hatte (siehe oben).