21. Juni 2011
TMC – Technology, Media & Communications

Die digitalen Toten und die Renaissance der klassischen Werbung

An einem Montagabend: Ich sitze  mal wieder in einer meiner Lieblingsveranstaltungen. Dort treffen sich in unregelmäßigen Abständen echte und gefühlte „Opinion Leader“ aus den Branchen Medien und Internet. Sie diskutieren miteinander über die Frage, inwieweit die neuen Medien, Soziale Netzwerke etc. unser Leben beeinflussen und wie die Politik (und damit auch die Gesetzgebung) darauf reagieren sollte. Das ist in aller Regel sehr befruchtend, interessant und meistens auch kurzweilig. Denn als Anwalt unterhält man sich eher selten mit Zukunftsforschern. Ich nehme dort fast immer Denkanstöße nach Hause mit.

Eingeleitet wird der Abend immer durch einen Vortrag von oder einen Dialog mit Entrepreneuren, Hochschullehrern oder ähnlichen Kapazitäten.  Heute spricht der „Global Head″ einer internationalen Werbeagentur zu uns. Er berichtet, dass das Internet im Allgemeinen und  die sozialen Netzwerke im Besonderen unser Leben revolutionieren.  Seiner Ansicht nach lässt sich niemand mehr von klassischer Werbung beeinflussen. Der Mensch des 21. Jahrhunderts informiert sich vielmehr über Produktbewertungen in sozialen Netzwerken. Denn diese sind als „user generated content“ authentisch. So wird der moderne Konsument – Zitat - „allwissend“ und kann nicht mehr von der Werbewirtschaft eingeseift werden. Das erstaunliche Fazit unseres Experten: Baut gute Produkte, dann wird auch gut darüber berichtet.

So oft ich ansonsten verzückt lausche, heute bin ich einfach nur verärgert. Erstens kann ich die Plattitüden über die digitale Revolution nicht mehr hören und die Wichtigtuerei, die damit einhergeht. Zweitens weiß inzwischen der „advanced user“, dass Inhalte in sozialen Netzwerken genau so manipuliert werden können wie herkömmliche Werbung, ganze Branchen leben von „astroturfing″. Und drittens glaube ich, dass die Gesellschaft längst schon wieder einen Schritt weiter ist und einen neuen Menschentyp hervor gebracht hat, nämlich den, dem ich den Arbeitstitel „digitaler Toter“ geben möchte. Hierzu stelle ich folgende Thesen auf, um einen Gegenpol zum „Global Head″ aufzubauen (machen Anwälte ja gern) und eine Diskussion anzustoßen. Ich sage: Die „digitalen Toten“ sind längst unter uns. Sie sind das Produkt der ständig größer werdenden Informationsflut. Sie sind diejenigen, die das Bimmel-Bingo der Netzwirtschaft nicht mehr erreicht, und zwar deshalb, weil sie sich nicht erreichen lassen wollen. Für sie sind neue Werbestrategien (oder alte?) notwendig.

Keineswegs handelt es sich dabei  um rückständige Hinterwäldler, die noch nie etwas mit dem Internet zu tun hatten. Die „digitalen Toten“ sind vielmehr erfolgreiche Manager, Führungskräfte oder auch Anwälte, die gut vernetzt sind und über viele Kontakte verfügen. Das ist für sie Fluch und Segen zugleich. Auf diese Menschen prasseln Unmengen von Emails, Terminanfragen, RSS-Feeds, Posts auf der Facebook-Pinnwand, Benachrichtigungen über Aktualisierungen im LinkedIn-Profil von Geschäftsfreunden, Telefonate etc. herein. Das geht eine Weile gut. Unsere neue Species versucht der Datenflut Herr zu werden, diese und sich selbst zu organisieren. Irgendwann jedoch, etwa ab dem Erreichen von 1.000 ungelesenen Mails in der Mailbox, kippt alles. Teilweise aus der Not, aber dann vor allem aus Überzeugung verweigern sich die „digitalen Toten“ jeder weiteren Kontaktaufnahme über die hochgelobten – revolutionären – Kommunikationskanäle. Mails verhallen ungelesen, Updates werden nicht zur Kenntnis genommen und Antworten bekommt man von solchen Personen ab diesem Zeitpunkt nie mehr. Erreichen kann man sie nur, wenn man die automatische Rückruffunktion am Telefon einschaltet oder sich – good old times- vor ihre Büros setzt und sie abpasst. Das ist vielleicht  auch ein Grund dafür, dass sich die SMS so hartnäckig hält, der Spam-Faktor ist hier (noch) niedriger als in anderen Kommunikationskanälen.

Zu meinen, dass die „digitalen Toten“ sich in sozialen Netzwerken über die Güte von Produkten informieren ist allenfalls ein frommer Wunsch. Er hat keine Aussicht auf Erfüllung. Nun könnte man meinen, Zeitmanagement-Kurse könnten Erleichterung schaffen oder eine fleißige Assistenz, die die Informationen vorsortiert, wie dies bei vielen Vorständen und auch einigen meiner Partner geschieht. So vorzugehen würde wahrscheinlich unser oben bereits erwähnter „Global Head“ empfehlen.

Doch ist dies zu  kurz gesprungen, und zwar nicht nur deshalb, weil nicht jeder eine Privatsekretärin hat. Mag die Abwendung von der digitalen Welt zunächst aus der Not geboren sein: Sie wirkt auf viele der Betroffenen bald als Befreiung und wandelt sich so zu deren Überzeugung, dass der digitale Tod den Weg zu dauerhaft mehr Lebensqualität frei macht (abgesehen davon, dass bereits jetzt die Vision eines völlig inhaltsleeren, weil von automatisierten Texten gespeisten Internets gezeichnet wird). Vordergründig Rückständige werden so in Wirklichkeit die Pioniere einer „neuen“ Lebensphilosophie, die darin besteht nicht alles wissen zu müssen, nicht über alles informiert werden zu wollen und so miteinander zu kommunizieren, wie dies unsere Eltern in den 60ern getan haben.

Was bedeutet das nun für die Werbewirtschaft? Mir fallen zwei Wege ein: Entweder diese schafft Filter oder neue Kommunikationsmittel, die die „digitalen Toten“ wie Dornröschen wachküssen können. Oder aber man besinnt sich auch bei den Werbern wieder auf alte Tugenden. Denn sehnen sich unsere Trendsetter nicht nach guter, alter Werbung? Wollen sie sich nicht von Anzeigen und Spots verführen lassen, die als Werbung klar identifizierbar sind statt von User generated Content Authentizität vorgegaukelt zu bekommen?

Die Beantwortung dieser Frage überlasse ich dann wieder den Fachleuten, habe ich doch nun schon genug über fachfremde Dinge geschrieben. Für uns Anwälte im Wettbewerbsrecht bleibt in jedem Fall genug zu tun. Hat unser „Global Head″ Recht, dann werden zukünftig Fälle zum Thema „Schleichwerbung in sozialen Netzwerken“ meinen Alltag beherrschen. Kommt die klassische Werbung wieder, dann wird es auch weiter um unzulässige Alleinstellungsberühmungen, vergleichende Werbung etc gehen.

Es bleibt also spannend.

Tags: digitale Revolution digitale Tote klassische Werbung Kommunikationsverweigerung Product Placement Schleichwerbung Social Media soziale Netzwerke user generated content Werbewirtschaft