Sehr große Online-Plattformen müssen lt. DSA ein Archiv mit Infos zur Online-Werbung veröffentlichen. Das EuG hält diese Pflicht für nicht zumutbar.
Der Digital Services Act (DSA) formuliert zahlreiche Pflichten für Anbieter von Online-Diensten. Die meisten Vermittlungsdienste haben noch bis zum 17. Februar 2024 Zeit, um die neuen Vorgaben umzusetzen. Anders sieht es für die sog. sehr großen Online-Plattformen (SGOP) aus: Diese müssen bereits jetzt die teils sehr weitreichenden Kontroll- und Informationspflichten umsetzen.
Bisher hat die Kommission 20 SGOP (und zudem zwei sehr große Online-Suchmaschinen) benannt, unter anderem Amazon Store (Marketplace) und Zalando. Beide haben gegen diese Einstufung beim Europäischen Gericht (EuG) geklagt. Eine erste Entscheidung fiel Ende letzten Jahres bzgl. der Amazon-Klage (Beschluss v. 27. September 2023 – T-367/23 R). Amazon ist demnach vorläufig nicht mehr verpflichtet, ein Archiv für Online-Werbung zu veröffentlichen.
Klage gegen SGOP-Pflichten zu Profiling und Werbearchiven
Amazon wehrt sich mit der Klage sowohl gegen die generelle Benennung als SGOP als auch gegen spezifische SGOP-Pflichten aus Art. 38, 39 DSA:
- Art. 38 DSA bestimmt, dass SGOP ihre Empfehlungssysteme dergestalt einrichten müssen, dass zumindest eine Option kein Profiling i.S.d. DSGVO darstellt. Im Kern geht es darum, dass Nutzer der SGOP der Anwendung von targeted advertising widersprechen können und so keine Empfehlungen erhalten, die auf ihrem Nutzerverhalten basieren. Wichtigster Anwendungsfall ist dabei die Anordnung von Suchergebnissen. Für das Geschäftsmodell von E-Commerce-Plattformen sind Empfehlungssysteme von zentraler Bedeutung und die neue Pflicht somit ein empfindlicher Eingriff.
- Art. 39 DSA verpflichtet SGOP dazu, weitgehende Informationen zu Werbung auf ihren Plattformen zu sammeln und diese auch öffentlich zugänglich zu machen. Dazu zählen beispielsweise Angaben zum Inhalt der Werbung, dem Zeitraum, in dem die Werbung angezeigt wurde und der Gesamtzahl der erreichten Nutzer. Diese Informationen müssen für den gesamten Zeitraum, in dem die Werbung angezeigt wird, und ein Jahr lang nach der letzten Anzeige für die Öffentlichkeit verfügbar gemacht werden. Der DSA verfolgt damit das Ziel, die Aufsichtsbehörden und die Forschung zu neu entstehenden Risiken im Zusammenhang mit der Online-Verbreitung von Werbung zu unterstützen (Erwägungsgrund 95). Auch diese Bestimmung kann gravierende Auswirkungen auf SGOP haben, die zu Wettbewerbsnachteilen führen können.
Bezüglich der Aussetzung der Pflichten aus Art. 38, 39 DSA stellte Amazon zudem einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach Art. 278, 279 AEUV.
EuG: Opt-Out-Pflicht für Targeted Advertising bleibt bestehen
Über das einstweilige Rechtsschutzbegehren hat der EuG im September 2023 entschieden. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung formulierte das Gericht drei Voraussetzungen: (1) Der Erlass muss dringlich sein, der Antragstellerin müssen also andernfalls „schwere und nicht wiedergutzumachende Schäden“ drohen; (2) die Klage darf nicht von vornherein völlig unsubstantiiert sein; (3) das Interesse der Antragstellerin muss gegenüber dem Interesse an der sofortigen Geltung der Regelung überwiegen. Auf dieser Grundlage entschied das Gericht teilweise zugunsten von Amazon.
Zunächst bleibt die Pflicht aus Art. 38 DSA bestehen. Amazon machte insofern geltend, dass der Opt-Out für das targeted advertising Auswirkungen auf die Shopping-Erfahrung der Nutzer*innen hätte und diese sich daher für andere Plattformen entscheiden würden. Zudem wies Amazon auf den erheblichen Wettbewerbsnachteil hin, den diese Pflicht im Verhältnis zu anderen Online-Marktplätzen mit sich bringe, die keine SGOP seien. Das Gericht folgte Amazon insofern nicht und wies darauf hin, dass zum einen die Möglichkeit bestehe, Kunden durch umfassende Informationen von einem Opt-Out abzubringen. Zum anderen seien Amazons Ausführungen bzgl. des drohenden Schadens nicht substantiiert genug: Der Verlust von Marktanteilen sei für sich genommen nicht ausreichend, um schwere und nicht wiedergutzumachende Schäden zu belegen.
EuG: Pflicht zur Veröffentlichung des Werbearchivs vorläufig ausgesetzt
Bezüglich der Pflicht zur Erstellung und Veröffentlichung eines Online-Werbearchivs berief Amazon sich auf die erhebliche Bedeutung von Online-Werbung für ihr Geschäftsmodell und auf den vertraulichen Charakter der zu veröffentlichenden Informationen. So hätten Wettbewerber die Möglichkeit, Werbestrategien und -algorithmen zu kopieren. Gleichzeitig drohe der Verlust von Werbepartnern, die zu anderen Plattformen wechseln würden, die nicht den Anforderungen des Art. 39 DSA unterliegen. Das Gericht folgte dieser Argumentation in Bezug auf die Veröffentlichung des Werbearchivs und sah sogar „erhebliche Geschäftsgeheimnisse“ durch die Veröffentlichung der Informationen gefährdet:
It must be held that the obligations relating to the advertisement repository (…), enable third parties to access significant trade secrets concerning the advertising strategies of the applicant’s advertising customers. It reveals strategic information such as campaign duration, campaign reach and targeting parameters. By doing so, it will allow competitors and the applicant’s advertising partners to draw market insights on an ongoing basis, to the detriment of the applicant and its advertising partners.
Die Pflicht zur Erstellung des Werbearchivs bleibt hingegen bestehen. Das Gericht führte weiter aus, dass für das Hauptsacheverfahren mitentscheidend sei, ob Amazon bereits durch andere Rechtsakte zur Veröffentlichung von Werbeinformationen verpflichtet sei, z.B. aus der E-Commerce-RL und der DSGVO. Es kommt aber zu dem Schluss, dass zumindest ein Teil der nach Art. 39 DSA zu veröffentlichenden Informationen nicht bereits Gegenstand anderer Gesetzgebungsakte sind. Die abschließende rechtliche Beurteilung ist dem Hauptsachverfahren vorbehalten, die Klage ist aber jedenfalls nicht von vornherein unsubstantiiert.
Erste DSA-Gerichtsentscheidung kritisch gegenüber SGOP-Pflichten
Der Beschluss des EuG in Sachen Amazon ist die erste Gerichtsentscheidung, die sich inhaltlich mit den neuen SGOP-Pflichten aus dem DSA beschäftigt. Und dies durchaus kritisch – die Aussetzung der Pflicht zur Veröffentlichung des Werbearchivs kann als erster kleiner Fingerzeig gewertet werden, dass die europäische Judikative ihren Kontrollauftrag auch in Bezug auf den DSA ernst nimmt.
Von deutlich größerer Tragweite werden die Entscheidungen in der Hauptsache von Amazon Store und Zalando sein. Dort geht es nämlich insbesondere um die Frage, ob die SGOP-Pflichten des DSA für E-Commerce-Marktplätze angemessen sind. Die insofern geäußerte Kritik von Amazon und Zalando ist berechtigt: Die strukturelle Gefahr für die Verbreitung rechtswidriger Inhalte ist zum Beispiel bei Social-Media-Plattformen ungleich höher und das Risikopotenzial von Online-Marktplätzen viel geringer. Gleichwohl sind Compliance-Aufwand und Bußgeldrisiko identisch. Online-Marktplätze mit Sozialen Medien insofern gleichzustellen und ihnen dieselben weitreichenden Pflichten aufzuerlegen, ist nicht gerechtfertigt.