Das Bundesjustizministerium möchte in bestimmten Verdachtsfällen anlassbezogen das „Einfrieren“ und spätere „Auftauen“ von Daten wie IP-Adressen ermöglichen.
Berlin: Es ist erst einen Monat her, dass der EuGH die anlasslose Vorratsdatenspeicherung in Deutschland für unzulässig erklärt hat. Das von der FDP geführte Bundesjustizministerium hat gleichwohl bereits einen neuen Referentenentwurf mit einem Alternativvorschlag vorgelegt. Doch „Quick Freeze“ nutzt nach Ansicht anderer Stimmen innerhalb der Koalition den vom EuGH gewährten Spielraum nicht hinreichend aus.
Entscheidung des EuGH zur grundsätzlichen Unzulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung
Mit Urteil vom 20. September 2022 hatte der EuGH die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten zur Aufklärung von Straftaten in Deutschland für europarechtswidrig erklärt (Urteile vom 20. September 2022 – C-793/19, C-794/19). Hintergrund der Entscheidung waren zwei Vorlagen des BVerwG aus dem Jahr 2019. Gegen die im Jahr 2015 beschlossene Regelung zur Vorratsdatenspeicherung im Telekommunikationsgesetz hatten zwei mitbetroffene TK-Provider Klage erhoben, um feststellen zu lassen, dass sie nicht verpflichtet seien, anlasslos Daten ihrer Nutzer* zu speichern. Die entsprechende Regelung zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland ist seit 2017 ausgesetzt.
Nach Ansicht des EuGH verstoße die Regelung gegen die Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 EU-Grundrechtecharta) sowie auf den Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 EU-Grundrechtecharta). Gleichzeitig erklärte der EuGH, dass zum Schutz der nationalen Sicherheit und zur Bekämpfung schwerer Kriminalität unter bestimmten Bedingungen gewisse Ausnahmen, wie etwa die Speicherung von IP-Adressen, möglich seien.
EuGH nennt Möglichkeiten für zulässige Vorratsdatenspeicherung
Der EuGH hat damit seine bisherige Rechtsprechung zum grundsätzlichen Verbot der Vorratsdatenspeicherung bestätigt. Gleichzeitig hat er aber auch erstmals die folgenden Ausnahmetatbestände genannt, in denen eine Vorratsdatenspeicherung rechtlich zulässig sein könne:
Zum Schutz der nationalen Sicherheit dürfen Verkehrs- und Standortdaten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat gespeichert werden, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht. Eine solche Anordnung kann durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle kontrolliert werden und darf nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum ergehen.
Zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit auf der Grundlage begrenzender Kriterien bezogen auf betroffene Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums kann eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten erfolgen.
Für dieselben Zwecke einen auf das absoluten Notwendigen begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP-Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind.
Zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung der Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten.
Zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zum Schutz der nationalen Sicherheit kann den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufgegeben werden, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern.
Bundesjustizministerium möchte „Quick Freeze“ einführen
Nach Angaben diverser Nachrichtenplattformen vom 25. Oktober 2022 wie etwa der Legal Tribune Online plant das Bundesjustizministerium die alte Regelung aufzuheben und stattdessen mit „Quick Freeze“ eine neue Lösungsalternative einzuführen.
Das Quick-Freeze-Verfahren beruht auf zwei Stufen:
- Besteht ein Anfangsverdacht zur Begehung einer erheblichen Straftat wie Mord, Erpressung oder sexueller Missbrauch gegenüber Kindern, sollen die Ermittlungsbehörden bestimmte Verkehrsdaten einzelner Nutzer zur weiteren Verfolgung der möglichen Straftaten „einfrieren“ dürfen. Erforderlich hierfür sei ein Gerichtsbeschluss. Sollte sich der anfängliche Verdacht weiter konkretisieren, dürften die eingefrorenen Daten dann
- im Falle eines zweiten Gerichtsbeschlusses „aufgetaut“ und von den Ermittlungsbehörden weiterverwendet werden. Anders als die umstrittene Vorratsdatenspeicherung würde das Quick-Freeze-Verfahren damit anlassbezogen erfolgen.
Der Vorschlag wurde nun offenbar am 25. Oktober 2022 mit den übrigen Ressorts der Bundesregierung geteilt. Erste Kritik wurde bereits aus dem Innenministerium geäußert, was nicht verwundert. Immerhin hat das Bundesjustizministerium damit die Forderung der Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD nicht umgesetzt. Diese hatte bereits kurz nach Veröffentlichung der EuGH-Entscheidung und der Presseerklärung des Bundesjustizministers in Ansehung der vom EuGH genannten Ausnahmetatbestände die Einführung einer anlasslosen Speicherung von IP-Adressen, insbesondere im Falle schwerer Straftaten gegenüber Kindern, gefordert. Es sei nicht zweckmäßig, dass der vom EuGH genannte Spielraum nicht ausgenutzt werde. Dürften Daten erst bei Bestehen eines Anfangsverdachts „eingefroren“ werden, sei dies i.d.R. zu spät.
Streit um die Möglichkeit der Datenspeicherung zu Strafverfolgungszwecken damit noch immer nicht vom Tisch
Für TK-Anbieter bleibt es damit zunächst dabei, dass keine Daten anlasslos auf Vorrat zu speichern sind. Darüber hinaus bleibt abzuwarten, inwieweit das Quick-Freeze-Verfahren tatsächlich das Gesetzgebungsverfahren passiert und TK-Anbieter im Falle eines richterlichen Beschlusses verpflichtet werden, anlassbezogen Daten „einzufrieren“.
Es ist davon auszugehen, dass der Streit um die Vorratsdatenspeicherung und auch das vorgeschlagene Quick-Freeze-Verfahren noch lange nicht auf Eis liegt, sondern die Politik sowie die nationalen und europäischen Gerichte weiter beschäftigen wird.
*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.