3. Juli 2020
Air Berlin Massenentlassung
Arbeitsrecht

Air Berlin: schon wieder Stolperstein Massenentlassungsanzeige

Die Schwerbehindertenvertretung muss bei einer Massenentlassung nicht konsultiert werden. Unionsrechtlicher Betriebsbegriff maßgeblich.

Die gute Nachricht: Massenentlassungen müssen nun doch nicht zusätzlich mit der Schwerbehindertenvertretung beraten werden, sondern nur mit dem Betriebsrat. Das hat das Bundesarbeitsgericht im Rahmen einer weiteren „Air Berlin-Entscheidung″ klargestellt (Urteil v. 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19) und eine gegenteilige Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg aufgehoben.

Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass sich die Praxis neben dem betriebsverfassungsrechtlichen und dem kündigungsschutzrechtlichen Betriebsbegriff nun auch an einen eigenen Betriebsbegriff im Sinn der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (MERL) gewöhnen muss. Wird dieser verkannt und die Massenentlassungsanzeige deshalb bei der unzuständigen Arbeitsagentur eingereicht und/oder sind die Angaben zu den regelmäßig beschäftigten und den zu entlassenden Arbeitnehmern* des Betriebs falsch, führt dies zur Unwirksamkeit der Kündigungen.

Die Massenentlassung des Cockpit-Personals

Air Berlin hatte ihren Sitz in Berlin und unterhielt Stationen an den Flughäfen Berlin-Tegel, Düsseldorf, München, Frankfurt am Main, Stuttgart, Hamburg, Köln, Paderborn, Nürnberg und Leipzig (sog. Stationierungsort bzw. Heimatbasis). Die Umlauf- und Dienstplanung erfolgte für den gesamten Flugbetrieb zentral von Berlin aus. Daneben gab es vier „Area Manager Cockpit″, die als Piloten im regulären Flugbetrieb eingesetzt waren und daneben administrative Aufgaben für mehrere Stationen wahrnahmen. Für das Cockpitpersonal war tarifvertraglich eine Personalvertretung (PV Cockpit) gebildet, für das Kabinenpersonal die Personalvertretung Kabine (PV Kabine). Beide Gremien hatten ihren Sitz ebenfalls in Berlin. Das Bodenpersonal wurde durch die regional zuständigen Betriebsräte (Boden Nord, West und Süd) und den Gesamtbetriebsrat vertreten.

Am 13. Oktober 2017 fragte Air Berlin bei der Agentur für Arbeit Berlin Nord nach, an welche Agentur für Arbeit die Massenentlassungsanzeige gerichtet werden müsse. Es gäbe drei Mitarbeitergruppen und allen sollten betriebsbedingte Beendigungskündigungen ausgesprochen werden. Die Leitung des Cockpit- und Kabinenpersonals erfolge vollständig von Berlin heraus. An den Flughäfen existierten nur Crew-Räume für das Check-in Verfahren, in den Arbeitsverträgen seien die jeweilige Heimatbasis benannt. Die Arbeitsagentur antwortete, dass Bodenpersonal, Cockpitpersonal und Kabinenpersonal wohl als drei unabhängige Betriebe anzusehen seien. In diesem Fall wäre für jeden Betrieb ein Antrag zu stellen, wobei von einem Betrieb mit Sitz in Berlin auszugehen sei und damit von einer einheitlichen Antragsstellung gegenüber der Arbeitsagentur Berlin Nord für das gesamte Personal.

Am 24. November 2017 erstattete Air Berlin daraufhin bei der Agentur für Arbeit Berlin Nord eine Massenentlassungsanzeige und erläuterte den Kündigungsgrund bezüglich des Cockpitpersonals. Das Cockpitpersonal umfasse in der Regel 1.301 Mitarbeiter, die Personalleitung erfolge in sämtlichen Angelegenheiten von Berlin aus. Dort habe auch die auf tariflicher Grundlage gebildete PV Cockpit ihren Sitz, mit der das Konsultationsverfahren abgeschlossen worden sei. Auch alle weiteren Angaben beziehen sich auf 1.301 Arbeitnehmer des Cockpitpersonals und den angenommenen Betrieb mit Sitz in Berlin.

Am 28. November 2017 kündigte Air Berlin einem Piloten mit Heimatbasis Düsseldorf, der hiergegen Kündigungsschutzklage erhob.

Bei Massenentlassung ist keine Konsultation mit der Schwerbehindertenvertretung erforderlich

Das LAG Berlin-Brandenburg hatte in der Vorinstanz in verschiedenen Urteilen (z. B. Urteil vom 11. Juli .2019 – 21 Sa 2100/18) die Auffassung vertreten, dass die Massenentlassungsanzeige bei Air Berlin allein deshalb unwirksam sei, weil Konsultationen nicht nur mit dem Betriebsrat zu führen gewesen wären, sondern mit jede(r) nach nationalem Recht zu bildende(n) Arbeitnehmervertretung. Begründet wurde dies damit, dass die europäische Massenentlassungsrichtlinie ein weiteres Verständnis erfordere.

Diese Auffassung teilte das Bundesarbeitsgericht nicht: Welche von mehreren in Betracht kommenden Arbeitnehmervertretungen zu konsultieren sei, bestimme nicht die europäische MERL selbst, sondern gewähre den Mitgliedsstaaten einen weiten Spielraum. Das Konsultationsverfahren sei trotz seiner gesetzlichen Verankerung im Kündigungsschutzgesetz materiell eine betriebsverfassungsrechtlich geprägte Regelung. Die zu konsultierende Arbeitnehmervertretung nach § 17 Abs. 2 KSchG bestimme sich deshalb grundsätzlich nach der Kompetenzzuweisung des BetrVG. Dies führe zur grundsätzlichen Zuständigkeit des örtlichen Betriebsrats bzw. – unter den Voraussetzungen des § 50 BetrVG – zu denen des Gesamtbetriebsrats. Nur in Bereichen, in denen das BetrVG nicht gilt, aber ein dem Betriebsrat vergleichbares Interessenvertretungsgremium vorgesehen sei, ordne § 17 Abs. 2 KSchG bei unionrechtskonformem Verständnis die Beteiligung dieses Gremiums an. Bei Air Berlin war dies z. B. die PV Cockpit und die PV Kabine, die auf Grundlage eines Tarifvertrages nach § 117 Abs. 2 Satz 1 BetrVG als Arbeitnehmervertretung errichtet worden waren.

Die Schwerbehindertenvertretung sei zwar auch ein gesetzliches Organ der Verfassung des Betriebs. Eine „doppelte Repräsentanz″ einzelner Arbeitnehmergruppen fordere die MERL jedoch nicht, der Betriebsrat repräsentiere die gesamte Belegschaft (vgl. dazu schon Ludwig/Kemna, NZA 2019, 1547).

Unionsrechtlicher Betriebsbegriff des Massenentlassungsrechts hat keine hohen Anforderungen an erforderliche Leitungsstrukturen

Allerdings hatte Air Berlin nach Auffassung des BAG den Betriebsbegriff der MERL verkannt, indem die Mitarbeitergruppe „Cockpit″ als eigener Betrieb mit Sitz in Berlin angesehen worden war. Der unionsrechtliche Betriebsbegriff des Massenentlassungsrechts sei losgelöst vom (bekannten) Betriebsbegriff des Kündigungsschutzrechts bzw. des Betriebsverfassungsrechts zu sehen. Sein Inhalt könne nicht nach deutschen Rechtsvorschriften bestimmt werden.

Es gelte ein sehr weiter Betriebsbegriff, der keine hohen organisatorischen Anforderungen an die erforderliche Leitungsstruktur stelle: Maßgeblich sei stattdessen die unterscheidbare Einheit von gewisser Dauerhaftigkeit und Stabilität, die zur Erledigung einer oder mehrerer Aufgaben bestimmt sei und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmer sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfüge. Rechtliche, wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie sei nicht erforderlich, um als „Betrieb″ qualifiziert werden zu können. Der Betrieb im Sinn der MERL müsse darum auch keine Leitung haben, die selbständig Massenentlassung vornehmen könne.

Nach diesen Grundsätzen war bei Air Berlin nicht der gewillkürte Betrieb maßgeblich, der sich nach den verschiedenen Mitarbeitergruppen (Cockpit-, Kabinen- und Bodenpersonal) richtete, sondern der jeweilige Stationierungsort (hier also Düsseldorf), obwohl der Einsatz der Mitarbeiter aus Berlin gesteuert wurde. Insofern

Folgen der Verkennung des Betriebsbegriffs

Folge des verkannten Betriebsbegriffs war, dass Air Berlin eine Massenentlassungsanzeige bei der unzuständigen Arbeitsagentur Berlin Nord erstattet hatte, während eine Anzeige bei der zuständigen Arbeitsagentur Düsseldorf nicht erfolgte. Auch die Angaben in der Anzeige zu den regelmäßig beschäftigten und zu entlassenden Arbeitnehmern waren aufgrund der Verkennung des Betriebsbegriffs auf den falschen Betrieb bezogen und deshalb falsch: da die Station Düsseldorf der maßgebliche Betrieb war, war die erstattete Anzeige vom 24. November 2017 einerseits zu weit (weil sie sich auf ganz Deutschland bezog), andererseits zu eng (weil sie lediglich das Cockpit-Personal mit 1.301 Beschäftigten angab und das Düsseldorf zugeordnete Kabinen- und Bodenpersonal nicht erwähnte). Somit hat sich eine Vermutung nach der Pressemitteilung der BAG-Entscheidung vom 13. Februar 2020 bestätigt: Das BAG sieht alle eingereichten Massenentlassungsanzeigen als fehlerhaft an, die Air Berlin erstattet.

Jeder Fehler für sich führte nach Auffassung des BAG zur Unwirksamkeit der Kündigung des Piloten (§ 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG i. V. m. mit § 134 BGB). Gehe nämlich die Anzeige vor der Kündigung und damit rechtzeitig, aber bei der unzuständigen Agentur für Arbeit ein, werden die zur Vermeidung bzw. Milderung der sozioökonomischen Auswirkungen zu ergreifenden Maßnahmen erschwert bzw. jedenfalls verzögert (wenn man von einer späteren Weiterleitung and die zuständige Agentur für Arbeit ausgeht). Der Arbeitgeber hat in diesem Fall die ihn treffenden Pflichten nicht vollständig erfüllt. Die gleiche Rechtsfolge gelte für Fehler bei den „Muss-Angaben″ des § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG: Die der Arbeitsagentur obliegende Prüfung werde durch jeden Fehler bei den „Muss-Angaben″ beeinflusst und durch Verzögerungen in der Bearbeitung erschwert. Dies gelte auch bei unzutreffenden Angaben bei der Anzahl der in der Regel Beschäftigten, da diese geeignet seien, die zuständige Behörde bei der Auswahl der zu ergreifenden Vermittlungsbemühungen zu beeinflussen, die je nach Größe des Betriebs unterschiedlich ausfallen können. Ob dies bei unerheblichen Abweichungen gleichermaßen gelte, brauchte das BAG nicht zu entscheiden, da im vorliegenden Fall die fehlerhafte Angabe die Bagatellgrenze überstieg.

Die Fehler im Anzeigeverfahren seien auch nicht dadurch geheilt worden bzw. der gerichtlichen Kontrolle entzogen, dass die Agentur für Arbeit diese nicht beanstandet hätte. Selbst ein bestandskräftiger Bescheid der Arbeitsverwaltung hindere die Arbeitsgerichtsbarkeit nicht daran, die Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige festzustellen. Außerdem stehe Artikel 6 der MERL der Annahme einer Heilungswirkung von Verwaltungsakten der Arbeitsverwaltung entgegen. Eine solche Auslegung führe zur Unterschreitung des geforderten unionsrechtlichen Schutzniveaus und nähme den Anforderungen des § 17 KSchG ihre praktische Wirksamkeit. Das BAG gewährte auch keinen Vertrauensschutz in das bisherige Verständnis des Betriebsbegriffs.

Einordnung der BAG-Entscheidung

Das BAG hat nach der Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg vom 11. Juli 201921 Sa 2100/18 erfreulich schnell für Klarheit gesorgt, dass die Schwerbehindertenvertretung nicht zusätzlich in das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG einbezogen werden muss. Dies ist eine große Erleichterung für die Praxis, die sich immer schwerer tut, all die verschiedenen Verfahren und Voraussetzungen bei einer Massenentlassung im Blick zu behalten und zu steuern.

Umso herausfordernder ist es, dass mit dem unionsrechtliche Betriebsbegriff nun eine weitere Kategorie zu berücksichtigen ist. Zwar ist die Entscheidung nicht vollkommen überraschend, da § 17 KSchG auf der europäischen MERL beruht und der EuGH in seiner Rechtsprechung stets von einem eigenen Arbeitnehmerbegriff und eben auch einem eigenen Betriebsbegriff ausgegangen ist (vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 13. Mai 2015 – C-392/13 – [Rabal Canas]). Das LAG Hessen hat dementsprechend bereits entschieden, dass die Kündigungen von 33 in Frankfurt am Main stationierten Flugbegleitern der Air Berlin wegen der Verkennung des Betriebsbegriffs bei der Massenentlassungsanzeige unwirksam seien (vgl. LAG Hessen, Urteil vom 23. September 2019 – 17 Sa 1528/18). Andere Landesarbeitsgerichte sahen dies jedoch anders und nahmen bei Air Berlin einen einheitlichen Flugbetrieb an, der aus Berlin geleitet worden sei (vgl. etwa LAG Berlin-Brandenburg 2. April 2019 – 7 Sa 1938/18). Diese unterschiedlichen Entscheidungen zeigen, wie schwierig die Abgrenzung für die Praxis sein kann.

Praxistipp: Lieber zu viele Massenentlassungsanzeigen als zu wenige

Der Arbeitgeber muss also künftig noch genauer analysieren, welche Einheit für die Prüfung nach § 17 KSchG maßgeblich ist und welche Arbeitnehmer dieser Einheit zugeordnet sind.

  • Gewillkürte Betriebe nach § 3 BetrVG werden in der Regel nicht maßgeblich sein.
  • Dagegen werden nach dem unionsrechtlichen Betriebsbegriff auch nach § 4 BetrVG unselbstständige Betriebe im Rahmen der Massenentlassungsanzeige getrennt zu berücksichtigen sein (vgl. hierzu auch Alles/Zwarg, DB 2014, 2287).
  • Dass dieser unionsrechtliche Betriebsbegriff im Fall kleinteiliger Strukturen dazu führen kann, dass eine Vielzahl von Arbeitnehmern vom Massenentlassungsschutz nicht erfasst wird, steht nach Auffassung des EuGH und des BAG im Einklang mit den Zielen der MERL, solange solche Strukturen nicht missbräuchlich geschaffen werden (vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 13.05.2015 – C-392/13 – [Rabal Canas]).

Die Entscheidung des BAG zeigt eindrücklich, dass im Zweifel nach wie vor der Grundsatz gilt: Lieber Massenentlassungsanzeigen für jeden möglichen Betriebe erstatten als eine Anzeige zu wenig, auch wenn dies mit viel Aufwand verbunden sein kann.

Aus der Bestimmung des unionsrechtlichen Betriebs im Rahmen der MERL ergibt sich auch die zuständige Arbeitsagentur, bei der die Massenentlassungsanzeige eingereicht werden muss. Eine Auskunft der Arbeitsagentur schafft keine Klarheit, wie die Entscheidung des BAG zeigt, weil die Arbeitsgerichte unabhängig davon über die Wirksamkeit der Massenentlassungsanzeige entscheiden und zu anderen Ergebnissen kommen können.

*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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