Auch krankheitsbedingte Kündigungen gelten als „Entlassung“ i.S.d. § 17 KSchG und können damit eine Massenentlassungsanzeige erforderlich machen.
Durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen finanziellen Einbußen, von denen neben den bereits wirtschaftlich angeschlagenen Großkonzernen auch mittelständische und kleine Unternehmen nicht verschont bleiben, haben Personalabbaumaßnahmen branchenübergreifend wieder an Bedeutung gewonnen. In diesem Zusammenhang mussten sich zahlreiche Unternehmen auch mit der Massenentlassungsanzeige und deren Anforderungen auseinandersetzen.
Durch ein aktuelles Urteil des LAG Düsseldorf (Urteil v. 15. Oktober 2021 – Az. 7 Sa 405/21) ist ein weiterer Stolperstein für Massenentlassungen in Erscheinung getreten, der bei Personalabbaumaßnahmen zwingend im Auge behalten werden muss.
Ausspruch von 34 krankheitsbedingten Kündigungen ohne vorherige Massenentlassungsanzeige
Eine Arbeitgeberin, die Sicherheitsdienstleistungen am Flughafen Düsseldorf erbringt, sprach im zugrunde liegenden Fall im Zeitraum vom 25. November 2020 bis zum 22. Dezember 2020 gegenüber 34 ihrer insgesamt mehr als 500 Beschäftigten* eine Kündigung aus krankheitsbedingten Gründen aus. Eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit erstattete sie im Vorfeld nicht.
Unter anderem kündigte die Arbeitgeberin am 27. November 2020 das Arbeitsverhältnis eines Luftsicherheitsassistenten, der in den Jahren 2018 bis 2020 an 61, 74 und 45 Kalendertagen arbeitsunfähig erkrankt war. Dieser Arbeitnehmer hielt die ausgesprochene Kündigung bereits aufgrund der unterlassenen Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit für unwirksam und reichte dagegen Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht ein.
LAG Düsseldorf: Anzeigepflicht auch bei krankheitsbedingten Massenentlassungen
Die 7. Kammer des LAG Düsseldorf hat der Kündigungsschutzklage des Luftsicherheitsassistenten stattgegeben. Nach dem Wortlaut, der Systematik und dem Sinn und Zweck von § 17 KSchG bestehe die Anzeigepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit auch bei krankheitsbedingten Massenentlassungen. Die Kündigung sei deshalb bereits allein aufgrund der unterlassenen Massenentlassungsanzeige rechtsunwirksam.
Das LAG hat eine Revision nicht zugelassen, weil es die Kündigung unabhängig von der Erforderlichkeit einer Massenentlassungsanzeige auch auf der Grundlage der Rechtsprechung des BAG zu häufigen Kurzzeiterkrankungen für unwirksam hält. Eine negative Gesundheitsprognose sei aufgrund der konkreten Krankheitszeiten, die im Jahr 2020 im Vergleich zu den Vorjahren wieder abgenommen hätten, nicht gegeben.
Pflicht zur Massenentlassungsanzeige bei Überschreiten eines Schwellenwerts des § 17 KSchG
Die Notwendigkeit der Anzeige von Entlassungen bei der Agentur für Arbeit richtet sich danach, ob innerhalb von 30 Kalendertagen die folgenden in § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG genannten Schwellenwerte erreicht werden:
- In Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern: Mehr als 5 Arbeitnehmer;
- In Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern: 10 % der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer;
- In Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern: Mindestens 30 Arbeitnehmer.
Die ordnungsgemäße Erstellung einer Massenentlassungsanzeige ist von wesentlicher Bedeutung. Ein Fehler im Anzeigeverfahren kann Einfluss auf die Wirksamkeit sämtlicher vorgenommenen Kündigungen haben.
Das vollständige Fehlen einer erforderlichen Massenentlassungsanzeige hat stets die Unwirksamkeit der entsprechenden Entlassungen zur Folge. Ausgesprochene Kündigungen wären dann allein aus diesem Grund unwirksam und selbst gegen abgeschlossene Aufhebungsverträge sowie dreiseitige Verträge zum Wechsel in eine Transfergesellschaft könnten Arbeitnehmer gerichtlich vorgehen.
Deutsches Recht geht über das Schutzniveau der Massenentlassungsrichtlinie hinaus
Mit der Anzeigepflicht bei Massenentlassungen nach § 17 KSchG hat der deutsche Gesetzgeber die europäische Richtlinie 98/59/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen („Massenentlassungsrichtlinie“) in nationales Recht umgesetzt.
Der Begriff „(Massen-)Entlassung“ ist in Deutschland nicht legaldefiniert. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist unter einer Entlassung jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte, also ohne seine Zustimmung erfolgende, Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen. Nach § 17 Abs. 1 S. 2 KSchG stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses den Entlassungen gleich, die vom Arbeitgeber veranlasst werden. Eine arbeitgeberseitige Veranlassung liegt dann vor, wenn der Arbeitgeber dem betroffenen Arbeitnehmer zu verstehen gibt, er werde das Arbeitsverhältnis beenden, weil nach Durchführung des beabsichtigten unternehmerischen Konzepts keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr besteht. Hierunter fallen vor allem Aufhebungsverträge und dreiseitige Verträge zum Wechsel in eine Transfergesellschaft aber auch Eigenkündigungen, wenn der Arbeitnehmer damit einer Kündigung durch den Arbeitgeber zuvorkommen möchte.
Die Massenentlassungsrichtlinie selbst enthält in deren Artikel 1 Abs. 1a eine Definition für den Begriff „Massenentlassung“. Dort heißt es (Hervorhebung hier)
Massenentlassungen sind Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt (…).
Von der Richtlinie sind damit im Hinblick auf die maßgeblichen Schwellenwerte für eine Massenentlassungsanzeige nur betriebsbedingte Kündigungen erfasst. Personen- und verhaltensbedingte Kündigungen sind dagegen ausdrücklich aus dem Geltungsbereich der Massenentlassungsrichtlinie ausgenommen.
Die deutschen Vorschriften zur Massenentlassungsanzeige enthalten eine solche Begrenzung auf betriebsbedingte Kündigungen nicht. Personen- und verhaltensbedingte Kündigungen sind in Deutschland damit nicht von einer Hinzurechnung bei den Schwellenwerten des § 17 KSchG ausgenommen.
Ein Verstoß gegen Unionsrecht liegt hierin nicht, weil die die Massenentlassungsrichtlinie in deren Artikel 5 ausdrücklich die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt lässt, für Arbeitnehmer günstigere Rechtsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen. Die Anregung des nationalen Wirtschaftsausschusses, die Pflicht zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige wie im Unionsrecht nur bei betriebsbedingten Massenentlassungen entstehen zu lassen, wurde vom deutschen Gesetzgeber bewusst nicht umgesetzt, weil er eine vorausschauende Arbeitsvermittlung nicht erschweren wollte (vgl. BT-Drs. 8/1546, S. 7).
Damit geht das Schutzniveau der deutschen Vorschriften zur Massenentlassungsanzeige sogar über die Mindestbedingungen der europäischen Massenentlassungsrichtlinie hinaus.
Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige: Belastungen des Arbeitsmarktes frühzeitig abfangen
Auch Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige stützen das Urteil des LAG Düsseldorf. Es ist Aufgabe der Agentur für Arbeit, die von einer Massenentlassung ausgehenden sozioökonomischen Belastungen des Arbeitsmarktes aufzufangen und zu reduzieren. Durch die Massenentlassungsanzeige und die damit verbundene Sperrfrist des § 18 Abs. 1 KSchG wird der Agentur für Arbeit die Möglichkeit gegeben, frühzeitig auf die vorgesehene Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern zu reagieren sowie die entstehenden Belastungen für den Arbeitsmarkt und die betroffenen Arbeitnehmer insbesondere durch Vermittlungs- und Qualifizierungsmaßnahmen zu reduzieren.
Eine Belastung des Arbeitsmarkts entsteht allerdings durch jede Kündigung, unabhängig ob diese aus personen- verhaltens- oder betriebsbedingten Gründen ausgesprochen wird.
Schwierigkeiten bei der Konsultation des Betriebsrats
Ist ein Betriebsrat vorhanden, ist vor der Erstattung einer Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 2 KSchG ein Konsultationsverfahren mit diesem durchzuführen, in dem der Arbeitgeber dem Betriebsrat zweckdienliche Informationen mitzuteilen und mit ihm über die vorgesehenen Entlassungen zu beraten hat.
Weil Kündigungen aus betriebsbedingten Gründen in den meisten Fällen bereits einige Zeit im Voraus feststehen und eine Massenentlassung auch oft mit parallel stattfindenden Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen einhergehen, ist die Durchführung des Konsultationsverfahrens meistens nicht mit einem größeren Aufwand verbunden. Probleme entstehen allerdings dann, wenn einer der Schwellenwerte des § 17 KSchG erst durch das Hinzutreten von personen- und verhaltensbedingten Kündigungen erreicht wird. Arbeitgeber können solche Kündigungen in den meisten Fällen nicht vorhersehen und planen, weil sie auf das Verhalten und den Gesundheitszustand der Arbeitnehmer keinen Einfluss haben. In diesem Fall werden Arbeitgeber bei Erreichen einer der Schwellenwerte oft entweder noch kein Konsultationsverfahren durchgeführt oder die personen- und verhaltensbedingten Kündigungen nicht in das vorgenommene Konsultationsverfahren eingebracht haben.
Wird das Konsultationsverfahren vor der Erstattung der Massenentlassungsanzeige nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt, ist die erstattete Massenentlassungsanzeige fehlerhaft, was in der Regel zur Unwirksamkeit der vorgenommenen Entlassungen führt.
Fazit: Im Zweifel vorsorgliche Massenentlassungsanzeige
Wie eingangs erwähnt, sind mit Massenentlassungen und der entsprechenden Anzeige nach § 17 KSchG zahlreiche Stolperfallen verbunden. Reine personen- oder verhaltensbedingte Massenentlassungen, wie im geschilderten Fall des LAG Düsseldorf, kommen nur selten vor und sind damit kaum praxisrelevant.
Sprechen Arbeitgeber allerdings personen- oder verhaltensbedingte Kündigungen in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit geplanten betriebsbedingten Kündigungen aus, die für sich innerhalb der 30-Tages-Frist die Schwellenwerte des § 17 KSchG noch knapp unterschreiten, kann das zu einer Anzeigepflicht der Entlassungen und für den Arbeitgeber damit zu erheblichen Kündigungsrisiken führen. Diese Schwierigkeiten hat der deutsche Gesetzgeber zu verantworten, der das Schutzniveau der §§ 17 ff. KSchG über die Mindestbedingungen der europäischen Massenentlassungsrichtlinie hinaus nicht nur auf betriebsbedingte Kündigungen, sondern auch auf personen- und verhaltensbedingte Kündigungen erstreckt hat.
Aus diesem Grund empfehlen wir, vorsorglich bereits dann eine Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit zu erstatten und ggfls. das damit verbundene Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchzuführen, wenn es vor der Durchführung von geplanten Entlassungen innerhalb von 30 Tagen zumindest naheliegend ist, dass einer der Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG durch weitere Entlassungstatbestände überschritten werden könnte. Die Erstattung einer nicht erforderlichen Massenentlassungsanzeige bzw. die Anzeige von Entlassungen, die letztlich nicht vorgenommen werden, ist im Gegensatz zu einer unterlassenen Massenentlassungsanzeige trotz bestehender Anzeigepflicht grundsätzlich unschädlich.
Sofern bereits die geplanten (insbesondere betriebsbedingten) Kündigungen bei der Agentur für Arbeit angezeigt wurden und innerhalb des 30-Tages-Zeitraums weitere (z.B. krankheitsbedingte) Kündigungen erfolgen sollen, ist außerdem vor jeder dieser Kündigungen eine neue Entlassungsanzeige bzw. eine „Nachmeldung“ der betroffenen Arbeitnehmer bei der Agentur für Arbeit durchzuführen.
In mehreren Blogbeiträgen haben wir bereits darauf aufmerksam gemacht, dass sich mit Hinblick auf Massenentlassungsanzeigen wegen neuerer Urteile des BAG und des EuGH zahlreiche Stolperfallen herauskristallisiert haben, die zwingend beachtet werden müssen: Der notwenige Inhalt der Massenentlassungsanzeige, der maßgebliche Betriebsbegriff und die zuständige Agentur für Arbeit, der richtige Konsultationspartner und der entscheidende Zeitpunkt für die Unterschrift unter eine Entlassung.
*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.