30. März 2022
Arbeitnehmerüberlassung Überlassungshöchstdauer Missbrauchskontrolle
Arbeitsrecht

Überlassungshöchstdauer bei Arbeitnehmerüberlassung: Sind 55 Monate noch vorübergehend oder schon missbräuchlich?

Der EuGH hat über zahlreiche überfällige Vorlagefragen, insbesondere zur Überlassungshöchstdauer nach § 1 AÜG und zu deren Richtlinienkonformität, entschieden.

Die Richtlinienkonformität des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) beschäftigt die Arbeitsgerichte – insbesondere in der jüngeren Vergangenheit – regelmäßig und spielt in der Beratungspraxis eine wichtige Rolle. Der EuGH hat am 17. März 2022 in der Rechtssache C- 232/20 über ein Vorlageverfahren des LAG Berlin-Brandenburg vom 13. Mai 2020 – 15 Sa 1991/09 – entschieden. Das LAG hat zahlreiche Fragen zur Überlassungshöchstdauer nach § 1 AÜG zu den Vorgaben der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (nachfolgend: Leiharbeitsrichtlinie) gestellt. 

Vorlagefrage des LAG Berlin-Brandenburg 

In dem zu Grunde liegenden Rechtsstreit war der Kläger seit dem 1. September 2014 beim Verleihunternehmen beschäftigt. Dieses setzte ihn beim Entleiher für insgesamt 55 Monate ein, mit lediglich zweimonatiger Unterbrechung wegen einer Elternzeit. Im Entleihbetrieb fanden die Tarifverträge Metall- und Elektroindustrie und damit auch der TV LeiZ Anwendung, der eine Verlängerung der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer (18 Monate) vorsieht.

Die Leiharbeitsrichtlinie steht einer Arbeitnehmerüberlassung des Leiharbeitnehmers auf einen Dauerarbeitsplatz bei dem Kunden nicht entgegen

Art. 1 Abs. 1 der Leiharbeitsrichtlinie ist nach Ansicht des EuGH dahingehend auszulegen, dass die Überlassung eines Leiharbeitnehmers* auch dann „vorübergehend“ i.S.d. Norm sein könne, wenn dieser auf einem Arbeitsplatz beschäftigt werde, der dauerhaft vorhanden sei und der nicht vertretungsweise besetzt werde. Dies entspricht der herrschenden Auffassung im Schrifttum (vgl. Thüsing/Stiebert, DB 2021, 632, 633; Bissels/Falter, MDR 2019, 198, 198; Hamann/Rudnik, NZA 2017, 209, 210; Zimmermann, MDR 2017, 978, 979; ders., BB 2016, 53, 53). 

Für eine gegenteilige Auslegung gibt der Wortlaut der Leiharbeitsrichtlinie nichts her – im Gegenteil: Die Richtlinie zielt auch darauf ab, den Zugang der Leiharbeitnehmer zu einer unbefristeten Beschäftigung bei dem entleihenden Unternehmen zu fördern. Es macht also auch sozialpolitisch Sinn, Leiharbeitnehmer auf Dauerarbeitsplätzen einzusetzen, damit sie eine Chance erhalten, diese später dauerhaft zu besetzen.

Aus den Erwägungen des EuGH ist ergänzend abzuleiten, dass die Überlassungshöchstdauer auch nicht arbeitsplatz-, sondern arbeitnehmerbezogen auszulegen ist. Der Begriff „vorübergehend“ kennzeichnet nämlich nicht den Arbeitsplatz, der im entleihenden Unternehmen zu besetzen ist, sondern die Modalitäten der Überlassung eines Arbeitnehmers an dieses Unternehmen. 

Das bedeutet, dass derselbe Leiharbeitnehmer nach der in Deutschland geltenden gesetzlichen Grundregel für (maximal) 18 aufeinanderfolgende Monate an denselben Entleiher überlassen werden darf. Im Anschluss kann der Arbeitsplatz nach Ablauf der arbeitnehmerbezogen zu bestimmenden Überlassungshöchstdauer mit einem anderen Leiharbeitnehmer besetzt werden. 

Aufeinanderfolgende Überlassungen von 55 Monaten anhand unklarer Missbrauchskontrolle zu bewerten

Ob aufeinanderfolgende Überlassungen von insgesamt 55 Monaten an einen Entleiher zulässig sind, muss nach Auffassung des EuGH das nationale Gericht im Rahmen einer „Missbrauchskontrolle“ in eigener Zuständigkeit entscheiden. Art. 1 Abs. 1 Leiharbeitsrichtlinie sei dahingehend auszulegen, dass

es einen missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen eines Leiharbeitnehmers darstellt, wenn diese Überlassungen auf demselben Arbeitsplatz bei einem entleihenden Unternehmen für eine Dauer von 55 Monaten verlängert werden, falls die aufeinanderfolgenden Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers bei demselben entleihenden Unternehmen zu einer Beschäftigungsdauer bei diesem Unternehmen führen, die länger ist als das, was unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählen, und im Kontext des nationalen Regelungsrahmens vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, ohne dass eine objektive Erklärung dafür gegeben wird, dass das betreffende entleihende Unternehmen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge zurückgreift.

Aus dieser Vorgabe lassen sich die Leitplanken der gerichtlichen Missbrauchskontrolle – zugegebenermaßen mit etwas Mühe – abstrahieren. Danach ist in einem ersten Schritt zu bestimmen, ob der Gesamtüberlassungszeitraum noch „vernünftigerweise“ als vorübergehend bewertet werden kann, wobei einerseits die Umstände des Einzelfalls – insbesondere die Branchentypizität – und andererseits der nationale Regelungsrahmen berücksichtigt werden sollen. Wenn die Überlassung nicht vorübergehend sein sollte, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob es eine objektive Erklärung für die aufeinanderfolgenden Leiharbeitsverträge gibt. 

Diese Kriterien hat der EuGH schon in einem Urteil vom 14. Oktober 2020 entwickelt (Az. C- 681/18). Auch die damalige Entscheidung hat u.E. für die Praxis keine Rechtsklarheit geschaffen. Im Ergebnis verlangt der EuGH von den Mitgliedstaaten aber nicht, die Anzahl bzw. die Dauer der Überlassungen gesetzlich zu begrenzen. Die nunmehr in § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG geregelte 18-monatige Höchstüberlassungsdauer ist zwar nach den europarechtlichen Vorgaben nicht erforderlich, aber grds. auch nicht zu beanstanden. Länger andauernde Einsätze sind jedoch einer Missbrauchskontrolle zu unterziehen.

Übergangsregelung nach § 19 Abs. 2 AÜG problematisch

Nach § 19 Abs. 2 AÜG werden nur Überlassungszeiten ab dem 1. April 2017 im Rahmen von § 1 Abs. 1b AÜG berücksichtigt. Der EuGH stellt in diesem Zusammenhang fest, dass es den Mitgliedstaaten zwar freistehe, eine Überlassungshöchstdauer einzuführen und zu diesem Zweck Übergangsvorschriften festzulegen. Jedoch dürfe eine solche Übergangsvorschrift nicht dazu führen, dass dem durch die Leiharbeitsrichtlinie gewährten Schutz des Leiharbeitnehmers vor einer nicht nur vorübergehenden Überlassung nicht die praktische Wirksamkeit entzogen werde. Dem Leiharbeitnehmer dürfe nicht das Recht genommen werden, sich auf die Gesamtdauer der Überlassung zu berufen (hier: indem die Überlassungszeiten vor dem 1. April 2017 ersatzlos „gekappt“ und qua gesetzlicher Anordnung nicht in die rechtliche Bewertung einbezogen werden können). 

Nun liegt es an den nationalen Gerichten, unter Berücksichtigung dieser Vorgaben einen Richtlinienverstoß festzustellen; dies ist aufgrund der Vorgaben des EuGH zumindest nicht als unwahrscheinlich zu bezeichnen. Denkbar wäre zwar auch, die Norm grds. unionskonform auszulegen – dies erscheint aufgrund des eindeutigen Wortlautes von § 19 Abs. 2 AÜG und des gesetzgeberischen Willens, Einsatzzeiten vor dem 1. April 2017, insbesondere hinsichtlich der neu in das Gesetz eingefügten Überlassungshöchstdauer, außen vor zu lassen, schwer vorstellbar. Dass sich diese Übergangsvorschrift bei einer Anwendung in Reinform als kritisch erweisen dürfte, ist allerdings wenig überraschend, sondern war auch aufgrund der Stellungnahme des Generalanwalts zu erwarten.

Nichtsdestotrotz sei ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen anhängig sei, nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine solche unionsrechtswidrige Übergangsvorschrift unangewendet zu lassen, so der EuGH. Wie die nationalen Gerichte mit dieser „Handreiche“ umgehen werden, bleibt abzuwarten.

Keine automatische Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher auf Grundlage der Leiharbeitsrichtlinie

Der Leiharbeitnehmer hat darüber hinaus nach den Feststellungen des EuGH kein subjektives Recht auf die Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher, nur weil sein Einsatz, insbesondere wegen einer nicht mehr nur vorübergehenden Überlassung, nicht den Vorgaben der Leiharbeitsrichtlinie entspricht.

Diese Frage betrifft insbesondere den Zeitraum vor dem 1. April 2017, weil der Gesetzgeber erst ab diesem Zeitpunkt als konkrete Rechtsfolge die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses bei Überschreitung der Überlassungshöchstdauer geregelt hat. Wie aus dem Wortlaut von Art. 10 der Leiharbeitsrichtlinie eindeutig hervorgehe, so der EuGH, enthalte diese Bestimmung keine genauen Bestimmungen für die Festlegung von Sanktionen, sondern überlasse es den Mitgliedstaaten, unter diesen diejenigen auszuwählen, die zur Erreichung des Ziels der Leiharbeitsrichtlinie geeignet seien.

In Deutschland führt der Verstoß gegen die im AÜG enthaltenen und leiharbeitnehmerschützenden Vorschriften – auch nach der bis zum 1. April 2017 geltenden Rechtslage – zu Ordnungswidrigkeiten mit entsprechenden Bußgeldern i.H.v. bis zu EUR 500.000 nach § 16 AÜG oder zum Entzug der Erlaubnis nach § 5 AÜG. Dies ist u.E. i.S.d. Vorgaben der Leiharbeitsrichtlinie ausreichend. Der EuGH betont in diesem Sinne, dass ein subjektives Recht auf Vertragsabschluss bzw. die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses auch vor dem 1. April 2017 von dem Leiharbeitnehmer nicht geltend gemacht werden könne. Dies entspricht auch den Feststellungen des BAG, das bei einem nicht mehr vorübergehenden Einsatz zur Rechtslage vor dem 1. April 2017 eben genau dies entschieden hat (BAG, Urteil v. 12. Juli 2016 – 9 AZR 352/15; a.A. LAG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 16. April 2013 – 3 TaBV 1983/12).

Ungeachtet dessen kann sich eine geschädigte Person ggf. auf die mit dem Urteil vom 19. November 1991 (Francovich u.a., Az. C‑6/90 und C‑9/90) begründete Rechtsprechung des EuGH berufen, um bei einem nicht mehr vorübergehenden Einsatz ggf. Ersatz des entstandenen Schadens zu verlangen – und zwar nicht von dem Personaldienstleister oder dem Entleiher, sondern von der Bundesrepublik Deutschland, wenn das nationale Recht mit dem Unionsrecht unvereinbar gewesen sein sollte.

Stärkung der Autonomie der Tarifvertragsparteien

Schließlich sei der Gesetzgeber nach Ansicht des EuGH berechtigt, die Tarifvertragsparteien zu ermächtigen, durch tarifliche Regelungen von der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer (nach oben) abzuweichen. 

Die streitgegenständliche Norm § 1 Abs. 1b S. 3 AÜG ist daher grds. richtlinienkonform  – zunächst gute Nachrichten, sowohl für die Zeitarbeits- als auch für die Einsatzbranche. Weitergehende Fragen, die sich in Zusammenhang mit bereits zahlreichen abgeschlossenen und die Überlassungshöchstdauer verlängernden Tarifverträgen, insbesondere dem TV LeiZ für die Metall- und Elektroindustrie, sind damit jedoch noch nicht geklärt. Dies ist nunmehr zunächst Aufgabe der nationalen Gerichte, u.a. des vorlegenden LAG Berlin-Brandenburg. 

Allerdings ist auch Erfurt gefragt. Dort sind inzwischen drei Revisionen anhängig, in denen Leiharbeitnehmer gegen den Entleiher ein fingiertes Arbeitsverhältnis festgestellt wissen wollen, da nach deren Ansicht die im TV LeiZ vorgesehene verlängerte Überlassungshöchstdauer nicht anwendbar sein soll (vgl. LAG Baden-Württemberg, Urteil v. 18. November 2020 – 21 Sa 12/20; dazu: Bissels/Falter, jurisPR-ArbR 22/2021 Anm. 8; LAG Baden-Württemberg, Urteil v. 4. Dezember 2020 – 4 Sa 16/20; LAG Niedersachsen, Urteil v. 5. März 2021 – 16 Sa 1157/20; dazu: Bissels, jurisPR-ArbR 50/2021 Anm. 3). Zwar werden in den genannten Verfahren primär tarifliche und weniger europarechtliche Erwägungen angeführt und diskutiert, jedoch dürfte das BAG sich in den Revisionen im Zweifel auch mit den Letztgenannten beschäftigen müssen (Az. 4 AZR 83/21, 4 AZR 26/21 und 9 AZR 226/21).

Die beiden beim 4. Senat anhängigen Verfahren waren bereits für den 26. Januar 2022 terminiert worden; die Termine dürften aber wohl aufgrund der angekündigten Entscheidung des EuGH aufgehoben worden sein. Fraglich ist nun, ob das LAG Berlin-Brandenburg nach dem Urteil des EuGH zunächst abwartet, wie das BAG dieses in das nationale Recht „übersetzen“ wird, und sodann in der dort anhängigen Berufung entscheidet. Möglich ist für die Richter auch, sich an einer eigenen Interpretation zu versuchen, die sich im Anschluss an den höchstrichterlichen Vorgaben des BAG messen lassen muss. Die weitere Entwicklung bleibt hier folglich abzuwarten.

Zeitarbeitsunternehmen und Gerichte werden sich mit der verlangten Missbrauchskontrolle bei verlängerten Arbeitnehmerüberlassungen auseinandersetzen müssen

Die Übergangsvorschrift des § 19 Abs. 2 AÜG dürfte aufgrund des zeitlichen Abstands zu deren Inkrafttreten zunehmend an Bedeutung verlieren – insofern dürfte das vorliegende Urteil des EuGH allenfalls für Altfälle, also für Überlassungen, die bereits vor dem 1. April 2017 begonnen und über diesen Zeitpunkt fortgeführt wurden, relevant werden. Im Zweifel dürfte sich der Rechtsanwender darauf einstellen müssen, dass die „gekappten“ Überlassungszeiten vor dem 1. April 2017 im Rahmen einer Missbrauchskontrolle von den Gerichten berücksichtigt werden.

Auch die Erkenntnis des EuGH, dass sich aus der Leiharbeitsrichtlinie kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen ableiten lässt, dürfte im Lichte der Neuregelungen der §§ 1 Abs. 1b, 9 Abs. 1, 10 Abs. 1 AÜG ohne weiterreichende Folgen bleiben und sich im Wesentlichen auf die oben genannten Altfälle beschränken. 

Die Bestätigung der Zulässigkeit der Überlassung auf Dauerarbeitsplätze bei dem Entleiher, der arbeitsplatzbezogenen Bestimmung der Überlassungshöchstdauer sowie von deren Tarifdispositivität schafft hingegen (auch für die Vergangenheit) Rechtsklarheit. Für die Zukunft dürfte es schließlich ganz wesentlich darauf ankommen, wie die deutschen Arbeitsgerichte die vom EuGH verlangte Missbrauchskontrolle bei insbesondere aufgrund von tariflichen Bestimmungen erheblich über die gesetzliche Grundüberlassungshöchstdauer von 18 Monaten verlängerten Einsätzen umsetzen und diese mit Leben füllen werden. Der EuGH bleibt mit seinen Vorgaben bei der Dauer einer Überlassung zur Bestimmung des Kriteriums „vorübergehend“ nebulös. 

Es wird – auch aufgrund der bereits beim BAG anhängigen Verfahren – weiterhin spannend bleiben. Für die Praxis bedeutsame Entscheidungen in Zusammenhang mit der Anwendung der Bestimmungen des AÜG dürften folglich zu erwarten sein.

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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