6. Dezember 2022
Arbeitszeiterfassung BAG Betriebsrat
Arbeitsrecht

Arbeitszeiterfassung für (fast) alle! – Entscheidungsgründe des BAG veröffentlicht

Das BAG hat die Entscheidungsgründe zu dem wohl meistdiskutierten Beschluss 2022 veröffentlicht: dem vermeintlichen „Paukenschlag“ zur Arbeitszeiterfassung.

In dem „Grundsatzbeschluss“ vom 12. September 2022 (1 ABR 22/21) hat das BAG eine Pflicht aller Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer* verkündet. Die erhoffte Rechtssicherheit bleibt allerdings – zumindest weitgehend – immer noch aus.

Eigentlich ging es in der dem BAG vom LAG Hamm vorgelegten Entscheidung darum, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung zusteht. Während das LAG Hamm ein solches Initiativrecht des Betriebsrates bejahte, hat das BAG ein solches im Ergebnis – entsprechend der ersten Instanz in dem Verfahren – abgelehnt. 

So weit, so gut, könnte man aus Arbeitgeberperspektive denken. Jedoch führt die Begründung des BAG dazu, dass nun alle Arbeitgeber, d.h. auch solche Unternehmen ohne Betriebsrat, ein System einrichten müssen, mit dem Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeit einschließlich der Überstunden sowie der Pausen erfasst werden können. Denn das BAG lehnte das vom Betriebsrat geltend gemachte Mitbestimmungs- und Initiativrecht mit der Begründung ab, dass insofern bereits eine objektive gesetzliche Handlungspflicht bestehe, die das reklamierte Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates „sperre“. Das BAG verortet diese gesetzliche Regelung nach einer unionsrechtskonformen Auslegung in der arbeitsschutzrechtlichen Generalklausel des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, aus der es eine Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung ableitet. 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Was gilt und ab wann? Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit gilt ab sofort (derzeit aber noch keine Bußgelder bei Verstößen zu befürchten).
  • Was muss erfasst werden? Beginn, Ende und damit Dauer der Arbeitszeit; wohl auch die konkreten Pausen (kein pauschaler Abzug).
  • Für wen? Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt für alle Arbeitnehmer, wohl aber nicht für leitende Angestellte. Dies gilt auch in Unternehmen, die bisher Vertrauensarbeitszeit gelebt haben. 
  • Wie muss die Arbeitszeit erfasst werden? Keine Vorgaben seitens des BAG, d.h., die Erfassung ist manuell oder elektronisch möglich. Das BAG geht davon aus, dass eine Delegation auf die Arbeitnehmer möglich ist. 
  • Und der Betriebsrat? Ist zu beteiligen bei der Ausgestaltung (dem „Wie“) der Arbeitszeiterfassung (§ 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG) und sofern ein elektronisches Zeiterfassungssystem eingeführt werden soll nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG.

Welche Änderungen bringt die Entscheidung konkret mit sich?

In vielen Unternehmen bestehen Regelungen zur Vertrauensarbeitszeit bzw. eine solche wird teilweise auch einfach gelebt. Die (weitgehend) freie Einteilung der Arbeitszeit durch die Arbeitnehmer bleibt auch unter Berücksichtigung des Beschlusses des BAG grds. weiterhin möglich. Vertrauensarbeitszeit heißt allerdings nicht (mehr), dass Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit nicht aufzeichnen müssen (selbst wenn ihre Arbeitgeber ihnen so weit vertrauen wollen und dies in der Vergangenheit getan haben). Für einige Arbeitnehmer dürfte dies zu einschneidenden Veränderungen in ihrem Arbeitsalltag führen – unabhängig davon, ob es sich um eine „Paper-Pen“-Erfassung auf einem Stück Papier oder um eine Erfassung mittels elektronischer Unterstützung (z.B. über eine App) handelt. Maßgeblich ist nur, dass jede Dokumentation objektiv, verlässlich und zugänglich sein muss – so der EuGH bereits 2019.

In diesem Sinne reicht es auch nicht aus, wenn der Arbeitgeber lediglich ein System zur Dokumentation der Arbeitszeiten zur Verfügung stellt, das der Arbeitnehmer – mehr oder weniger – freiwillig nutzen kann. Der Arbeitgeber muss auch dafür Sorge tragen, dass es tatsächlich genutzt wird. Das heißt, Arbeitgeber werden ihre Beschäftigten (nachweisbar und daher am besten verschriftlicht) dazu verpflichten müssen, die Systeme ordnungsgemäß zu verwenden, um ihren Pflichten nachkommen zu können. Dies müssen die Arbeitgeber auch (jedenfalls stichprobenhaft) kontrollieren. 

Sind jetzt noch Änderungen des Arbeitszeitgesetzes zu befürchten?

Seit der sog. Stechuhr-Entscheidung des EuGH haben die Unternehmen und Juristen des Landes damit gerechnet, dass die Bundesregierung das ArbZG basierend auf den Vorgaben aus dem EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung anpassen würde – tatsächlich passierte hier in den letzten drei Jahren jedoch nichts. 

Auch der Beschluss des BAG eröffnet dem Gesetzgeber trotz aller wegweisenden Ausführungen aus Erfurt weiterhin einige Stellschrauben, die für Arbeitgeber von Bedeutung sein dürften:

  • Zunächst lässt sich dem BAG-Entschluss nicht abschließend entnehmen, ob auch Pausen konkret zu erfassen sind oder ob der oftmals praktizierte pauschale Abzug von Pausenzeiten weiterhin möglich sein wird. Es dürfte wohl davon auszugehen sein, dass Pausen konkret erfasst werden müssen, da nur so eine objektive und verlässliche Erfassung und Dokumentation der tatsächlichen Arbeitszeit gewährleistet werden kann. 
  • Darüber hinaus bedarf es einer Konkretisierung, ob die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit auch für leitende Angestellte gelten soll oder ob der Gesetzgeber von der unionsrechtlichen Berechtigung einer weiteren Herausnahme Gebrauch machen wird.
  • Das BAG hat mit seinem Beschluss klargestellt, dass Arbeitgeber die Pflicht zur Erfassung von Beginn, Ende und damit Dauer der Arbeitszeit nach seiner Auffassung auf die Beschäftigten delegieren können. Fraglich ist, ob der Gesetzgeber diese Möglichkeiten einschränken bzw. Vorgaben zur Art und Weise der ordnungsgemäßen Erfassung machen wird. 
  • Abzuwarten bleibt zudem, ob darüber hinaus der Gesetzgeber bspw. Kleinbetriebe von der Zeiterfassungspflicht herausnehmen wird. 

In welchem Maße der deutsche Gesetzgeber die ihm insofern zustehenden Freiheiten nutzt, scheint im Ergebnis eher eine politische Frage zu sein, wobei zumindest der Koalitionsvertrag das Credo der Flexibilisierung vorgibt.

Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht ab sofort

Angesichts des Verweises auf § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verwundert es nicht weiter, dass das BAG die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit bereits als bestehendes Obligatorium qualifiziert. Das heißt, es gibt keine Schonfrist für Arbeitgeber, sondern einen sofortigen Handlungsauftrag, die Arbeitszeit aller Beschäftigten zu dokumentieren. Zwar ist die Nichtbeachtung dieser Vorgaben aktuell noch nicht bußgeldbewehrt und stellt auch keine Ordnungswidrigkeit dar: Es ist aber davon auszugehen, dass die zuständigen Behörden bzw. der Gesetzgeber zeitnah aktiv werden und eine entsprechende Anordnung bzw. eine gesetzliche Regelung erlassen, um dem zahnlosen Tiger sozusagen „Biss“ zu verschaffen.

Die Mitbestimmungsrechte sollten bei Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems (dem „Wie“) freilich auch gewahrt werden: Der Betriebsrat kann bei Nutzung eines IT-Systems zur Dokumentation der Arbeitszeit (dies dürfte wohl der Standard sein) nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG und darüber hinaus – unabhängig, ob die Erfassung elektronisch oder händisch erfolgt – auch zur Sicherstellung des betrieblichen Gesundheitsschutzes nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG auf die Ausgestaltung Einfluss nehmen. Die Absage an das ursprünglich geltend gemachte Initiativrecht scheint aus der Sicht der Arbeitnehmervertreter mithin verschmerzbar.

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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