5. Januar 2022
Betriebsschließung Betriebsrisiko Arbeitgeber Arbeitnehmer
Arbeitsrecht

BAG: Pandemiebedingte Betriebsschließung zählt nicht zum Betriebsrisiko des Arbeitgebers

Muss ein Unternehmen wegen eines Lockdowns schließen, ist der Arbeitgeber nicht zur Entgeltfortzahlung verpflichtet. So entschied das BAG überraschenderweise.

Das BAG sieht in seinem ersten Corona-Urteil vom 13. Oktober 2021 (5 AZR 211/21) überraschend das „Lockdown-Risiko“ beim Arbeitnehmer*. Arbeitgeber, die ihren Betrieb aufgrund eines staatlich verfügten allgemeinen Lockdowns zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vorübergehend schließen müssen, sind nicht verpflichtet, ihren Arbeitnehmern Vergütung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs zu zahlen. 

Anders als die bisherige Instanzrechtsprechung sieht das BAG die Vergütungsrisiken mithin nicht bei den Unternehmen.

BAG weicht von der Rechtsprechung der Instanzgerichte ab: Keine Pflicht zur Entgeltfortzahlung

Im Zuge der Corona-Pandemie waren bereits zahlreiche Arbeitgeber mit behördlich angeordneten Betriebsschließungen und gleichzeitig mit Lohnforderungen ihrer Arbeitnehmer konfrontiert. 

Angesichts der aktuellen Infektionszahlen und der drohenden fünften Welle aufgrund der voranschreitenden Omikron-Variante können künftige Lockdowns nicht ausgeschlossen werden, sodass sich wiederholt die Frage der Vergütungspflicht bei pandemiebedingten Betriebsschließungen stellen kann. Zwar wird das Problem der fortlaufenden Personalkosten während einer pandemiebedingten Betriebsschließung in der Praxis weitgehend durch Arbeiten im Homeoffice oder, wenn und soweit dies nicht möglich ist, durch den Bezug von Kurzarbeitergeld entschärft. Die Frage nach der Lohnfortzahlung ist aber in den Fällen relevant, in denen Arbeitnehmer ihre Arbeitsleistung nicht oder nicht vollständig im Homeoffice erbringen und auch kein Kurzarbeitergeld beziehen können, etwa weil sie die persönlichen Voraussetzungen für das Kurzarbeitergeld nicht erfüllen. 

Besonders betroffen sind bestimmte Branchen wie der Einzelhandel, Hotellerie und Gastronomie, da dort zahlreiche Arbeitnehmer mit einem 450-Euro-Job beschäftigt werden. Diese „Minijobber“ sind nicht sozialversicherungspflichtig und können deshalb kein Kurzarbeitergeld beanspruchen.

Bereits einige Instanzgerichte hatten sich mit der praxisrelevanten Frage zu beschäftigen, ob ein Arbeitsausfall aufgrund behördlicher Betriebsschließung dem Betriebsrisiko zuzuordnen und damit unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs eine Lohnfortzahlungspflicht aus § 615 S. 1 BGB i.V.m. § 615 S. 3 BGB anzunehmen ist oder ob eine solche Betriebsschließung das allgemeine Lebensrisiko der Arbeitnehmer betrifft. 

Der Fall vor dem BAG: Betriebsschließung aufgrund weitreichender Allgemeinverfügung

Die beklagte Arbeitgeberin betreibt einen Handel mit Nähmaschinen und Zubehör. Sie unterhält in Bremen eine Filiale, in der die klagende Arbeitnehmerin seit Oktober 2019 als geringfügig Beschäftigte gegen eine monatliche Vergütung von EUR 432,00 im Verkauf tätig ist. Im April 2020 war das Ladengeschäft aufgrund der „Allgemeinverfügung über das Verbot von Veranstaltungen, Zusammenkünften und der Öffnung bestimmter Betriebe zur Eindämmung des Coronavirus“ der Freien Hansestadt Bremen vom 23. März 2020 geschlossen. Deshalb konnte die Arbeitnehmerin nicht arbeiten und wurde von ihrer Arbeitgeberin nicht vergütet. Als geringfügig Beschäftigte hatte sie auch keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld.

Mit ihrer Klage forderte die Arbeitnehmerin von ihrer Arbeitgeberin Zahlung ihres Entgelts für den Monat April unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs. Sie meinte, die Schließung des Betriebs aufgrund behördlicher Anordnung sei ein Fall des von der Arbeitgeberin zu tragenden Betriebsrisikos. Die Arbeitgeberin hingegen war der Ansicht, die von der Freien Hansestadt Bremen zur Pandemiebekämpfung angeordneten Maßnahmen beträfen das allgemeine Lebensrisiko, das nicht beherrschbar und von allen gleichermaßen zu tragen sei.

Die Vorinstanzen gaben der Klage statt. Sie stellten sich auf den Standpunkt, es bestehe ein Vergütungsanspruch gem. § 615 S. 1 und S. 3 BGB, wonach der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalls – sog. Betriebsrisiko – trage. § 615 BGB sei eine spezielle Gefahrtragungsregel, die unabhängig davon gälte, ob der Arbeitgeber nicht willens oder nicht fähig ist, die Leistung anzunehmen. § 615 S. 3 BGB beträfe alle Fälle, in denen der Arbeitgeber aus tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen notwendige Arbeitsmittel nicht zur Verfügung stellen könne. Dazu gehöre auch die Schließung eines Betriebes aufgrund behördlicher Anordnung (vgl. LAG Niedersachsen, Urteil v. 23. März 2021 – 11 Sa 1062/20).

Das Urteil des BAG: Lockdown ist kein Betriebsrisiko des Arbeitgebers

Überraschend, aber zu Recht, entschied das BAG die Frage der Risikotragung anders. Die Arbeitnehmerin hat nach Ansicht des BAG für den Monat April 2020, in dem ihre Arbeitsleistung und deren Annahme durch die Arbeitgeberin aufgrund der behördlich angeordneten Betriebsschließung unmöglich war, keinen Anspruch auf Entgeltzahlung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs. 

Der Arbeitgeber trägt nicht das Risiko des Arbeitsausfalls, wenn zum Schutz der Bevölkerung vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen infolge von SARS-CoV-2-Infektionen durch behördliche Anordnung in einem Bundesland die sozialen Kontakte auf ein Minimum reduziert und nahezu flächendeckend alle nicht für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Einrichtungen geschlossen werden. Damit realisiert sich nicht ein in einem bestimmten Betrieb angelegtes Betriebsrisiko. Die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung ist in solchen Fällen vielmehr Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Bekämpfung einer die Gesellschaft insgesamt treffenden Gefahrenlage. Hierfür trägt der Arbeitgeber keine Einstands- und Zahlungspflicht.

Kehrtwende in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zum Betriebsrisiko bei Betriebsschließungen

Diverse Instanzgerichte, etwa das LAG Düsseldorf oder das ArbG Mannheim, hatten die Frage der Risikotragung zuvor zu Lasten der Arbeitgeber entschieden. 

So wertete das LAG Düsseldorf die Pandemie noch im März 2021 als Fall höherer Gewalt, vergleichbar mit einer Naturkatastrophe. Dieser Vergleich hinkte aber, weil eine pandemiebedingte Betriebsschließung nicht unmittelbar auf ein pandemisches Virus zurückzuführen ist, sondern auf behördliches Agieren. 

Während das ArbG Mannheim richtigerweise nach der Eigenart des Betriebes und dem daraus resultierenden Infektionsrisiko differenzierte, konnte die Eigenart des Betriebes nach Ansicht des LAG Niedersachsen, der Vorinstanz des vorliegenden Falles, in Gänze dahinstehen. Das LAG Niedersachsen betonte, dass sich in dem wirtschaftlichen Risiko, die Arbeitskraft des Arbeitnehmers nicht verwerten zu können, letztlich zugleich eine Konsequenz der Vertragsgestaltung durch den Arbeitgeber realisiere. Zwar sei die sozialversicherungsrechtliche Lösung der Anordnung von Kurzarbeit bei geringfügig Beschäftigten nicht gegeben – insoweit spiegele das Betriebsrisiko jedoch den betriebswirtschaftlichen Vorteil, den das Unternehmen im Übrigen durch den Einsatz von geringfügig beschäftigten Arbeitnehmern erziele.

Schutzlücken im sozialversicherungsrechtlichen Regelungssystem: Der Gesetzgeber muss tätig werden

Das BAG erteilt den bisherigen arbeitsgerichtlichen Entscheidungen mit seinem ersten Corona-Urteil eine klare Absage und stellt klar, dass es Sache des Staates ist, für einen adäquaten Ausgleich der den Beschäftigten durch den hoheitlichen Eingriff entstehenden finanziellen Nachteile zu sorgen. Zum Teil ist dies auch durch den erleichterten Zugang zum Kurzarbeitergeld erfolgt. Mit dem „Gesetz zur befristeten krisenbedingten Verbesserung der Regelungen für das Kurzarbeitergeld“ vom 13. März 2020 konnten pandemiebedingte Arbeitsausfälle abgemildert und Arbeitsplätze gesichert werden.

Geringfügig Beschäftigte wurden jedoch auch noch in der im Dezember 2021 beschlossenen Verlängerung dieses Gesetzes bis zum 31. März 2022 nicht in den Schutzbereich dieses Pandemie-Gesetzes aufgenommen, weshalb sie nach wie vor mangels Sozialversicherungspflichtigkeit ihrer Arbeitsverhältnisse nicht kurzarbeitergeldberechtigt sind. Aus dem Fehlen solcher „nachgelagerter Ansprüche“ lässt sich gleichwohl keine arbeitsrechtliche Zahlungspflicht des Arbeitgebers – etwa in der Rolle eines Lückenfüllers – herleiten.

Der Ball liegt somit im Spielfeld des Gesetzgebers. Dieser muss nun unter Abwägung der Interessen der betroffenen Arbeitnehmer und der Interessen des Staates einschließlich finanzieller Möglichkeiten entscheiden, ob er das Lohnrisiko für die Beschäftigten abfedert und die Schutzlücke – rückwirkend oder erst bei künftig anstehenden staatlich angeordneten Betriebsschließungen – durch eine Gesetzesänderung schließt, teilweise schließt oder nicht schließt.

Bedeutung der Entscheidung: Ende der Rechtsunsicherheit bei Frage nach Betriebsrisiko aufgrund pandemiebedingter Betriebsschließung 

Das Machtwort aus Erfurt beseitigt die aus den zurückliegenden Betriebsschließungen resultierenden Rechtsunsicherheiten in Fällen, in denen insbesondere Minijobber nicht anderweitig beschäftigt werden konnten und weiterhin auf die Zahlung ihrer Vergütung hofften. Auch für etwaige zukünftige pandemiebedingte Betriebsschließungen ist die richtungsweisende Entscheidung von Relevanz. Das Urteil zeigt darüber hinaus, wie sich selbst das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) irren kann und dass dessen Stellungnahmen nicht als verlässliches Argument herangezogen werden können. Noch im Februar 2020 äußerte sich das BMAS dahingehend, dass behördliche Betriebsschließungen zum Betriebsrisiko des Arbeitgebers zählen würden.

Mit der Entscheidung des BAG wird einmal mehr der Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“ bestärkt. Arbeitgeber werden von Risiken, die durch die Pandemie realisiert worden sind bzw. werden, zumindest teilweise entlastet. Insgesamt erscheint das Ergebnis überzeugend, weil sich bei einer Schließung praktisch aller Betriebe im Zuge eines allgemeinen Lockdowns nicht ein im Betrieb des Arbeitgebers bereits angelegtes Betriebsrisiko realisiert. Ausgenommen wurden nicht etwa Betriebe mit geringer Infektionsgefahr, sondern insbesondere Betriebe, die für die Versorgung der Bevölkerung notwendig sind. Die allgemeinen Verfügungen reagierten somit nicht auf ein den Betrieben spezifisch anhaftendes Risiko, sondern auf das allgemeine Risiko eines nur bedingt kontrollierbaren Virus, dessen Unbeherrschbarkeit nicht ohne Weiteres dem Arbeitgeber aufgebürdet werden kann.

Nicht sicher ist, wie es sich hinsichtlich des Betriebsrisikos bei branchenbezogenen Betriebsschließungen, etwa bei körpernahen Dienstleistungen oder sonstigen Betrieben mit erhöhter Infektionsgefahr, und Betriebsschließungen in konkreten Einzelfällen verhält. Möglicherweise finden sich hierzu jedoch Hinweise in den Entscheidungsgründen des BAG, die aktuell noch nicht vorliegen. Mit Spannung bleibt daher zu erwarten, wie das BAG die Argumente der Vorinstanzen gewürdigt hat und wie differenziert es sich mit dem Betriebsrisiko auseinandersetzt. Von der Entscheidung betroffene Arbeitnehmer werden hingegen gespannt verfolgen, ob der Gesetzgeber nicht nur die in Rede stehende Erhöhung der Minijobgrenze in Angriff nimmt, sondern auch die Schaffung staatlicher Ausgleichsansprüche für Arbeitnehmer, die die Voraussetzungen der Kurzarbeit nicht erfüllen. Bis dahin gehen insbesondere Minijobber während eines staatlich verfügten allgemeinen Lockdowns leer aus.

Rückforderung gezahlter Vergütung kann in der Praxis auf Schwierigkeiten stoßen

Arbeitgeber könnten angesichts der Entscheidung des BAG erwägen, während einer behördlich angeordneten Betriebsschließung gezahlten Lohn wegen rechtsgrundloser Zahlung zurückzufordern. Dabei dürften aber zum einen (tarif-)vertragliche Ausschlussfristen relevant werden, zum anderen drohen Diskussionen über den Einwand der Entreicherung (§ 818 Abs. 3 BGB). Bei einer ebenfalls denkbaren Aufrechnung eines etwaigen Rückforderungsanspruchs mit künftigen Lohnansprüchen sind zudem die Pfändungsfreigrenzen zu berücksichtigen.

*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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