14. Juni 2019
Unterschrift Massenentlassungsanzeige
Arbeitsrecht

BAG zur Unterschrift bei Massenentlassungsanzeige

Die Praxis atmet auf: Kündigungen dürfen vor Abgabe der Massenentlassungsanzeige unterschrieben werden.

Für Verwirrung sorgte im vergangenen Jahr eine Entscheidung des LAG Baden-Württemberg (Urteil v. 21. August 2018 – 12 Sa 17/18): Es hatte die Ansicht vertreten, dass der Arbeitgeber vor Einreichung der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit die Kündigungen nicht unterschreiben dürfe.

Das BAG hat diese Entscheidung nun korrigiert und damit für Klarstellung gesorgt.

Auffassung des LAG war praktisch kaum umsetzbar

Die Auffassung des LAG Baden-Württemberg war nicht nur juristisch fragwürdig. Sie stellte die Praxis auch vor große Schwierigkeiten, weil in vielen Fällen – schon wegen des Zeitdrucks – die Kündigungsschreiben zeitgleich mit der Massenentlassungsanzeige vorbereitet werden. Es ist nicht unüblich, sie auch bereits von Vertretungsberechtigten (z. B. Geschäftsführern oder Vorständen) unterzeichnen zu lassen, damit ihre Aushändigung an die Belegschaft sofort nach Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit erfolgen kann.

Gerade bei größeren Entlassungswellen wäre dies in der Regel logistisch auch nicht anders zu bewerkstelligen, da die Unterzeichnung mehrerer Hundert Kündigungsschreiben Zeit beansprucht und die Vertretungsberechtigten im Betrieb auch nicht ständig anwesend sind. Ist ein Geschäftsführer oder Vorstand nicht allein vertretungsberechtigt, werden für jedes Kündigungsschreiben sogar zwei Unterschriften benötigt.

BAG korrigiert Entscheidung: Kündigung sofort nach Eingang der Massenentlassungsanzeige zulässig

Das BAG hat die Entscheidung des LAG nun korrigiert (Urteil v. 13. Juni 2019 – 6 AZR 459/18). Die Urteilsgründe liegen noch nicht vor. Die wesentlichen Erwägungen des BAG ergeben sich aber aus der Pressemitteilung.

So hat das BAG darauf hingewiesen, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, Massenentlassungen der Agentur für Arbeit anzuzeigen, beschäftigungspolitischen Zwecken dient. Die Agentur für Arbeit soll rechtzeitig über eine bevorstehende Massenentlassung unterrichtet werden, um sich auf die Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern vorbereiten und ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können. Hingegen hat der Gesetzgeber nicht gewollt, dass die Agentur für Arbeit auf den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers noch Einfluss nehmen kann. Deshalb darf der Arbeitgeber bei Einreichung der Massenentlassungsanzeige zur Kündigung bereits fest entschlossen sein, also die Kündigungsschreiben auch schon unterzeichnet in der Schublade liegen haben.

BAG ersuchte EuGH nicht um Vorabentscheidung

Zwar scheint damit die Frage, ob Kündigungen bereits vor Einreichung der Massenentlassungsanzeige unterschrieben werden dürfen, geklärt zu sein. Ein winziges Restrisiko verbleibt aber: Die Pflicht zur Massenentlassungsanzeige beruht auf der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (Richtlinie 98/59/EG). Nationale Gerichte müssen, wenn sie Richtlinien auslegen und sich hierbei Zweifelsfragen stellen, den EuGH um eine Vorabentscheidung ersuchen (Art. 267 AEUV). Hierdurch soll gewährleistet werden, dass eine Richtlinie in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union einheitlich ausgelegt wird.

Eine Vorlage an den EuGH ist aber entbehrlich, wenn die Antwort auf der Hand liegt („acte claire″) oder der EuGH die Frage in der Vergangenheit bereits entschieden hat. Das BAG ging davon aus, dass sich der bisherigen Rechtsprechung des EuGH hinreichende Anhaltspunkte dafür entnehmen lassen, dass man die Frage nur so beantworten könne wie es das BAG nunmehr getan hat. Dies ist freilich eine Wertungsfrage.

Arbeitnehmer kann Verfassungsbeschwerde erheben

Theoretisch könnte daher der Arbeitnehmer, um dessen Kündigungsschutzklage es im konkreten Fall geht, binnen eines Monats ab Zustellung des Urteils Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erheben. Er könnte rügen, dass das BAG ihm dadurch, dass es von einem Vorabentscheidungsersuchen abgesehen hat, den gesetzlichen Richter entzogen habe. Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG ist der EuGH, soweit es um die Auslegung von Unionsrecht geht, gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Praxistipp: Weiterhin vorsichtig sein?

Vorsichtige Arbeitgeber sollten daher vorerst, solange unklar ist, ob das BVerfG angerufen wird, weiterhin in Erwägung ziehen, Kündigungen erst dann zu unterschreiben, nachdem die Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit eingegangen ist.

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