30. August 2019
Einsatzdauer Schwellenwert
Arbeitsrecht

Berücksichtigung von Zeitarbeitnehmern bei den Schwellenwerten der unternehmerischen Mitbestimmung

BGH schafft Klarheit: Die Einsatzdauer von sechs Monaten hat einen Arbeitsplatzbezug. Unternehmen müssen neu rechnen, ob Schwellenwerte erreicht sind.

Durch die AÜG-Reform 2017 hat der Gesetzgeber klargestellt, dass Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer* sowohl bei den Schwellenwerten der Betriebsverfassung als auch der Unternehmensmitbestimmung beim Kunden zu berücksichtigen sind (vgl. § 14 Abs. 2 S. 4, 5 AÜG). Damit wurde die Rechtsprechung des BAG umgesetzt, das nach der Aufgabe der sog. Zwei-Komponenten-Lehre″ von dem Grundsatz, dass Zeitarbeitnehmer bei dem Kunden „wählen, aber nicht zählen″, ausdrücklich Abstand genommen hat.

Das BAG geht nun davon aus, dass Zeitarbeitnehmer bei dem Kunden sehr wohl „wählen dürfen und gleichzeitig zählen″ (vgl. BAG, Beschluss v. 5. Dezember 2012 – 7 ABR 48/11; BAG, Urteil v. 13. März 2013 – 7 ABR 69/11; BAG, Beschluss v. 4 November 2015 – 7 ABR 42/13; dazu ausführlich: Bissels in: Henssler/Grau, Arbeitnehmerüberlassung und Werkverträge, § 5 Rn. 334 ff.).

Umstrittene Frage: Ist Einsatzdauer von sechs Monaten arbeitnehmer- oder arbeitsplatzbezogen

Schwierigkeiten bereitete in der Praxis bei der Bestimmung der Schwellenwerte der unternehmerischen Mitbestimmung jedoch die gesetzliche Regelung in § 14 Abs. 2 S. 6 AÜG, die wie folgt formuliert ist:

Soweit die Anwendung der in Satz 5 genannten Gesetze [Anm.: dort ist insbesondere das MitbestG und das DrittelbG genannt] eine bestimmte Anzahl oder einen bestimmten Anteil von Arbeitnehmern erfordert, sind Leiharbeitnehmer im Entleiherunternehmen nur zu berücksichtigen, wenn die Einsatzdauer sechs Monate übersteigt.

Hoch umstritten war, ob die erforderliche Einsatzdauer von sechs Monaten, die für ein „Mitzählen″ überschritten sein muss, an den einzelnen Arbeitnehmer (arbeitnehmerbezogene Betrachtung; so: BeckOK ArbR/Motz, § 14 AÜG Rn. 26; ErfK/Oetker, § 1 MitbestG Rn. 9 f.; ErfK/Wank, § 14 AÜG Rn. 34; Oetker NZA 2017, 33; Ulrici, AÜG, § 14 Rn. 42; Bissels in: Henssler/Grau, Arbeitnehmerüberlassung und Werkverträge, § 5 Rn. 347; Bungert/Rogier, DB 2016, 3027; Löwisch/Wegmann, BB 2017377; Schubert/Liese, NZA 2016, 1303; Neighbour/Schröder, BB 2016, 2873; Bauer, NZA-Beilage 2017, 87) oder an den Arbeitsplatz (arbeitsplatzbezogene Betrachtung; so: Schüren/Hamann, AÜG, § 14 Rn. 141 f.; Wißmann/Kleinsorge/Schubert, § 1 MitbestG Rn. 41e; Düwell, jurisPR-ArbR 32/2018 Anm. 3; Fuchs/Köstler/Pütz AiB 5/2017, 25; Flockenhaus, EWiR 2019, 74; Hay/Grüneberg, AuR 2019, 136) anknüpft.

Je nach Auffassung konnte das Ergebnis hinsichtlich der Überschreitung der für die unternehmerische Mitbestimmung maßgeblichen Schwellenwerte durchaus unterschiedlich ausfallen – insbesondere vor dem Hintergrund, dass ein arbeitnehmerbezogener Ansatz die Möglichkeit eröffnet hätte, durch ein rechtzeitiges Austauschen des jeweiligen Zeitarbeitnehmers (vor dem Ablauf von sechs Monaten) zu verhindern, dass diese bei dem Kunden mitzuzählen sind. Eine unternehmerische Mitbestimmung hätte durch entsprechende Rotationen (dauerhaft) verhindert werden können.

BGH: Einsatzdauer von sechs Monaten ist arbeitsplatzbezogen

Der BGH hat sich dabei gegen die in der Literatur herrschende Ansicht einer arbeitnehmerbezogenen Betrachtung entschieden und vertritt einen arbeitsplatzbezogenen Ansatz (Beschluss v. 25. Juni 2019 – II ZB 21/18; so auch schon die Vorinstanz: OLG Celle, Beschl. v. 7. September 2018 – 9 W 31/18; a.A. LG Hannover, Beschl. v. 12. Dezember 2017 – 26 O 1/17). In dem maßgeblichen Leitsatz fasst der BGH dessen Ergebnis wörtlich wie folgt zusammen:

Die Mindesteinsatzdauer in § 14 Abs. 2 Satz 6 AÜG ist arbeitsplatzbezogen zu verstehen. Maßgeblich ist danach, ob das Unternehmen während eines Jahres über die Dauer von mehr als sechs Monaten Arbeitsplätze mit Leiharbeitnehmern besetzt, unabhängig davon, ob es sich dabei um den Einsatz bestimmter oder wechselnder Leiharbeitnehmer handelt und ob die Leiharbeitnehmer auf demselben oder auf verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt werden. Ist dies der Fall, sind die betreffenden Arbeitsplätze bei der Bestimmung des Schwellenwerts nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG mitzuzählen, wenn die Beschäftigung von Leiharbeitnehmern über die Dauer von sechs Monaten hinaus regelmäßig erfolgt.

In der ausführlich begründeten Entscheidung stellt der BGH zunächst fest, dass der Wortlaut von § 14 Abs. 2 S. 6 AÜG keinen Aufschluss darüber gebe, wie die erforderlich „Mindesteinsatzdauer″ zu bestimmen sei. Dieser Begriff sei insoweit neutral und könne sich sowohl auf den Einsatz einer bestimmten Person als auch auf die Besetzung von Arbeitsplätzen beziehen.

Weiter führt der BGH aus, dass auch die Gesetzesmaterialien keine nähere Begründung zur Auslegung von § 14 Abs. 2 S. 6 AÜG enthielten. Allerdings der systematische Zusammenhang der Vorschrift für einen Arbeitsplatzbezug. § 14 Abs. 2 S. 6 AÜG treffe nämlich eine Regelung zur Berücksichtigung der Zeitarbeitnehmer im Rahmen des Anwendungsschwellenwerts von § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG, dem seinerseits eine arbeitsplatzbezogene Betrachtung zugrunde liege. Vor diesem Hintergrund wäre die Hinzufügung einer personenbezogenen Regelung zur Berücksichtigung von Zeitarbeitnehmern im Rahmen von § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG – sei sie klarstellend, konkretisierend oder einschränkend – systemfremd. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 14 Abs. 2 S. 6 AÜG einen solchen Systemwechsel beabsichtigte, seien den Gesetzesmaterialien nämlich ebenfalls nicht zu entnehmen. Schließlich seien auch der Sinn und Zweck der Vorschrift für ein arbeitsplatzbezogenes Verständnis von § 14 Abs. 2 S. 6 AÜG anzuführen.

BGH gibt zweistufige Prüfung zur Berechnung der Schwellenwerte vor

Die Praxis wird nun mit der arbeitsplatzbezogenen Betrachtung umgehen müssen. Gerade für Unternehmen, die mit ihrer Stammbelegschaft unter Berücksichtigung von Zeitarbeitnehmern in einem „Nahebereich″ der unternehmensmitbestimmungsrechtlich relevanten Schwellenwerten (2.000 gem. § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG; 500 gem. § 1 Abs. 1 Nr. 2 DrittelbG) agieren, mag der Beschluss des BGH mit Blick auf die personelle Besetzung des Aufsichtsrates einschneidende Bedeutung haben; dies gilt insbesondere, wenn diese Unternehmen die Anzahl der „in der Regel beschäftigten″ Arbeitnehmer bislang auf Grundlage einer arbeitnehmerbezogenen Betrachtung gestützt haben. Letztlich müssen diese nunmehr neu „rechnen″.

Der BGH gibt dazu eine „Arbeitshilfe″ vor, wie zu ermitteln ist, ob der relevante Schwellenwert erreicht bzw. überschritten ist. In einer zweistufigen Prüfung ist

  1. festzustellen, ob das Unternehmen während eines Jahres über die Dauer von sechs Monaten hinaus Arbeitsplätze mit Zeitarbeitnehmern besetzt, unabhängig davon, ob es sich dabei um den Einsatz eines bestimmten oder wechselnder Zeitarbeitnehmers/n handelt und ob diese/rauf demselben oder auf verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt wird/werden (§ 14 Abs. 2 S. 6 AÜG).
  2. Ist dies der Fall, sind die betreffenden Arbeitsplätze bei der Bestimmung des Schwellenwerts mitzuzählen, wenn diese Beschäftigung von Zeitarbeitnehmern über die Dauer von sechs Monaten hinaus regelmäßig erfolgt (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG).

Gerade in „Grenzfällen″ können hier Konflikte über die Korrektheit der Berechnung entstehen, die im Zweifel gerichtlich in einem Statusverfahren nach §§ 97 ff. AktG geklärt werden müssen. Dies gilt insbesondere, wenn zum ersten Mal ein Aufsichtsrat mit Arbeitnehmervertretern besetzt wird, weil die maßgebliche Schwelle von 500 Mitarbeitern nach dem DrittelbG erreicht wird bzw. erreicht worden sein soll, oder weil es einen „Mitbestimmungszuwachs″ gegeben hat bzw. gegeben haben soll, wenn ein Unternehmen mit mehr als 500 Arbeitnehmern den Schwellenwert von 2.000 Mitarbeitern nach dem MitbestG überschritten hat bzw. haben soll.

Umgekehrt sind natürlich auch Fälle denkbar, in denen es zu „Mitbestimmungsverlusten″ oder zu einem Ausschluss der Unternehmensmitbestimmung kommen kann (Mitarbeiterzahl fällt unter 500 Arbeitnehmer). Die beiden letztgenannten Konstellationen dürften aufgrund der von dem BGH vertretenen Zählweise aber eher die Ausnahme darstellen.

Im Ergebnis steht fest, dass eine hochumstrittene Frage zur Auslegung von § 14 Abs. 2 S. 6 AÜG jetzt höchstrichterlich geklärt ist. Der Beschluss des BGH mag zwar von der Begründung angreifbar sein, jedoch ist durch diesen eine (zumindest abstrakte) Rechtsklarheit geschaffen worden, wie die Schwellenwerte der Unternehmensmitbestimmung unter Berücksichtigung von Zeitarbeitnehmern zu bestimmen sind.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die erste höchstrichterliche Entscheidung zur AÜG-Reform 2017 in der Praxis auswirken wird. Klar ist bereits jetzt, dass die Bestimmung des maßgeblichen Schwellenwertes – trotz des Beschlusses des BGH – mit (tatsächlichen) Schwierigkeiten verbunden ist und daher streitanfällig bleibt.

Weitere Einzelheiten dazu entnehmen Sie dabei bitte der September-Ausgabe des „Infobriefs Zeitarbeit″, in dem wir jeden Monat über aktuelle Entwicklungen in Zusammenhang mit dem Einsatz von Fremdpersonal informieren. Sollten Sie Interesse haben, diesen kostenfrei zu beziehen, schreiben Sie uns bitte eine kurze E-Mail (alexander.bissels@cms-hs.com oder kira.falter@cms-hs.com).

*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Einsatzdauer Monate Schwellenwert Zeitarbeitnehmer