1. Juni 2023
Abweichung Gleichstellungsgrundsatz Zeitarbeit
Arbeitsrecht

„Showdown“ in Erfurt: Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz in der Zeitarbeit – Über den Gesamtschutz und tarifliche Ausgleichsvorteile!

Das BAG hatte im sog. Gesamtschutzverfahren darüber zu entscheiden, ob durch die Tarifverträge der Zeitarbeit vom Gleichstellungsgrundsatz abgewichen werden kann – und dies bejaht.

Als gesetzlicher Grundfall wird angeordnet, dass der an einen Entleiher überlassene Arbeitnehmer* ab dem ersten Tag des Einsatzes einen Anspruch auf die wesentlichen Arbeitsbedingungen (einschließlich des Entgelts) hat, die einem vergleichbaren Stammbeschäftigten im Betrieb des Entleihers gewährt werden (sog. equal pay-/equal treatment-Grundsatz gem. § 8 Abs. 1 S. 1 AÜG). Davon kann durch einen Tarifvertrag oder eine Bezugnahme darauf abgewichen werden (§ 8 Abs. 2 S. 1, 3 AÜG).

In der Praxis stellt diese gesetzliche Ausnahme die Regel dar. Für die Abbedingung des Gleichstellungsgrundsatzes hinsichtlich des Entgelts hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 1. April 2017 die Gestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt: eine solche ist nur noch für die ersten neun Monate einer Überlassung des Zeitarbeitnehmers an einen Entleiher möglich (§ 8 Abs. 4 S. 1 AÜG), es sei denn, es findet ein sog. Branchenzuschlagstarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis Anwendung, der die Anforderungen i.S.v. § 8 Abs. 4 S. 2 AÜG erfüllt. 

Dass die gesetzlichen Bestimmungen und die darauf fußenden Tarifverträge, insbesondere der Zeitarbeit (BAP/DGB und iGZ/DGB), mit Europarecht in Einklang stehen, wird in Abrede gestellt (vgl. Däubler, Überlegungen zu einer Klage auf Entgeltnachzahlung für Leiharbeitnehmer vom 28. Mai 2017). Sollte dies tatsächlich der Fall sein, wären – analog zur CGZP (vgl. BAG, Urteil v. 13. März 2013 – 5 AZR 954/11; dazu Bissels, ArbRB 2013, 242 ff.) – zumindest Szenarien denkbar, die auf eine (mehr oder weniger flächendeckende) Gleichstellung von Zeitarbeitnehmern, insbesondere hinsichtlich des Entgelts (equal pay) und auf darauf noch abzuführende Sozialversicherungsbeiträge, hinausliefen.

EuGH: Eine für den Zeitarbeitnehmer nachteilige Regelung muss durch einen geeigneten Vorteil ausgeglichen werden 

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich auf eine Vorlage des BAG (Beschl. v. 16. Dezember 2020 – 5 AZR 143/19 (A); vgl. dazu: Bissels/Falter, DB 2021, 2223) der EuGH inzwischen zu den europarechtlichen Anforderungen aus der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (nachfolgend kurz auch: „RL“ genannt) geäußert hat. Diese Anforderungen sind zu beachten, wenn und soweit der Gleichstellungsgrundsatz durch einen Tarifvertrag (wirksam) abbedungen werden soll (Urteil v. 15. Dezember 2022 – C-311/21).

Dabei stellte der EuGH fest, dass die Abbedingung des Gleichstellungsgrundsatzes, insbesondere hinsichtlich des Entgelts, durch einen Tarifvertrag für den Zeitarbeitnehmer einen Nachteil darstellt, der durch einen geeigneten Vorteil an einer anderen Stelle ausgeglichen werden muss, um damit den von der RL verlangten Gesamtschutz hinreichend umzusetzen. Der Ausgleich muss sich dabei auf die in Art. 3 Abs. 1 lit. f) RL definierten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, nämlich die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und das Arbeitsentgelt, beziehen. Ein argumentativer „Anker“, den der EuGH in diesem Zusammenhang aufzeigt und der sich in den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht wiederfindet, ist, dass das von dem Zeitarbeitsunternehmen gezahlte Entgelt in der Zeit zwischen den Überlassungen (angelegt in Art. 5 Abs. 2 RL) – sei es aufgrund eines unbefristeten oder befristeten Vertrags – bei der Beurteilung dieses Gesamtschutzes nach Art. 5 Abs. 3 RL als Ausgleich berücksichtigungsfähig ist. Die Zahlung der Vergütung in einsatzfreien Zeiten sehen § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG und die Tarifwerke BAP/DGB und iGZ/DGB vor. 

Arbeitnehmer sieht durch die Regelungen des AÜG und des Tarifvertrags der Zeitarbeit einen Verstoß gegen Art. 5 RL begründet

Nach der Entscheidung des EuGH war wieder das BAG als vorlegendes Gericht am Zug, das am 31. Mai 2023 das Urteil aus Luxemburg zum Gesamtschutz „übersetzte“ und auf den konkreten Fall anwendete. Diesem lag dabei folgender Sachverhalt zugrunde:

Der klagende Zeitarbeitnehmer X war von Januar bis April 2017 bei dem beklagten Verleiher Y im Rahmen eines befristeten Arbeitsvertrags beschäftigt. X wurde dabei einem Unternehmen des Einzelhandels als Kommissionierer überlassen. Nach einem Tarifvertrag für Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern war vergleichbaren, unmittelbar von dem Einsatzunternehmen angestellten Arbeitnehmern ein Stundenlohn i.H.v. EUR 13,64 brutto zu zahlen. Das für das Arbeitsverhältnis zwischen X und Y geltende Tarifwerk iGZ/DGB wich jedoch von dem gesetzlich geregelten Grundsatz der Gleichstellung, u.a. in Bezug auf das Arbeitsentgelt, ab. Daher erhielt X (mitgliedschaftlich in ver.di organisiert) ein Bruttoentgelt i.H.v. EUR 9,23 pro Stunde.

X erhob bei dem ArbG Würzburg Klage auf Zahlung von EUR 1.296,72 als Ersatz der Differenz zwischen der ihm gezahlten und der vergleichbaren, unmittelbar vom Einsatzunternehmen eingestellten Mitarbeitern gewährten Vergütung und machte geltend, dass die einschlägigen Bestimmungen des AÜG und des Tarifvertrags der Zeitarbeit (hier: iGZ/DBG) gegen Art. 5 RL verstießen. Die Beklagte meint, aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit schulde sie nur die für Zeitarbeitnehmer vorgesehene tarifliche Vergütung.

BAG: Fortzahlung des Entgelts auch in überlassungsfreien Zeiten als Vorteil für den Zeitarbeitnehmer, der eine Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz ermöglicht

Nach der Abweisung der Klage ging X in die Berufung beim LAG Nürnberg, das diese zurückwies (Urteil v. 7. März 2019 – 5 Sa 230/18). Nach Vorlage an den EuGH und dessen Urteil vom 15. Dezember 2022 hat das BAG über die von X eingelegte Revision am 31. Mai 2023 entschieden und diese zurückgewiesen (Az. 5 AZR 143/19). 

Der 5. Senat führt in der vorliegenden Pressemitteilung wie folgt aus: Von dem Grundsatz, dass Zeitarbeitnehmer für die Dauer einer Überlassung Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt wie vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers haben („equal pay“), könne nach § 8 Abs. 2 AÜG ein Tarifvertrag „nach unten“ abweichen – mit der Folge, dass das Zeitarbeitsunternehmen dem Zeitarbeitnehmer nur die niedrigere tarifliche Vergütung zahlen müsse. Ein entsprechendes Tarifwerk habe der iGZ mit ver.di geschlossen. Dieses genüge den unionsrechtlichen Vorgaben.

Das BAG begründet dies wie folgt: Aufgrund des wegen der beiderseitigen Tarifgebundenheit auf das Arbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifwerks von iGZ und ver.di sei die Beklagte nach § 8 Abs. 2 S. 2 AÜG und § 10 Abs. 4 S. 1 AÜG a.F. nur verpflichtet gewesen, die tarifliche Vergütung zu zahlen. Dieses Tarifwerk entspreche – jedenfalls im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Schutzvorschriften für Zeitarbeitnehmer – den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 RL.

Treffe der Sachvortrag der Klägerin zur Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer zu, habe diese zwar einen Nachteil erlitten, weil sie eine geringere Vergütung erhalten habe, als sie erhalten hätte, wenn sie unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz von dem entleihenden Unternehmen eingestellt worden wäre. Eine solche Schlechterstellung lasse aber Art. 5 Abs. 3 RL ausdrücklich zu, sofern dies unter „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ erfolge. Dazu müssten nach der Vorgabe des EuGH Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen. 

Ein möglicher Ausgleichsvorteil könne nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl bei unbefristeten als auch befristeten Zeitarbeitsverhältnissen die Fortzahlung des Entgelts auch in überlassungsfreien Zeiten sein. Anders als in einigen anderen europäischen Ländern seien diese nach deutschem Recht auch bei befristeten Zeitarbeitsverhältnissen stets möglich, etwa wenn – wie im Streitfall – der Zeitarbeitnehmer nicht ausschließlich für einen bestimmten Einsatz eingestellt werde oder der Entleiher sich vertraglich ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Zeitarbeitnehmer vorbehalte. Das Tarifwerk von iGZ und ver.di gewährleiste die Fortzahlung der Vergütung in verleihfreien Zeiten. Außerdem habe der deutsche Gesetzgeber mit § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG für den Bereich der Zeitarbeit zwingend sichergestellt, dass Verleiher das Wirtschafts- und Betriebsrisiko für verleihfreie Zeiten uneingeschränkt tragen müssten, weil der Anspruch auf Annahmeverzugsvergütung nach § 615 S. 1 BGB, der an sich disponibel sei, im Zeitarbeitsverhältnis nicht abbedungen werden könne. Auch habe der Gesetzgeber dafür gesorgt, dass die tarifliche Vergütung von Zeitarbeitnehmern staatlich festgesetzte Lohnuntergrenzen und den gesetzlichen Mindestlohn nicht unterschreiten dürfe. Zudem sei seit dem 1. April 2017 die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz hinsichtlich des Entgelts nach § 8 Abs. 4 S. 1 AÜG zeitlich grundsätzlich auf die ersten neun Monate des Einsatzes bei einem Entleiher begrenzt. 

Thema „Gesamtschutz“ ist im Sinne der Zeitarbeitsbranche geklärt worden

Das BAG bestätigt mit seiner Entscheidung vom 31. Mai 2022 richtigerweise, dass insbesondere über die Gewährung der Vergütung in verleihfreien Zeiten ein hinreichender Ausgleichsvorteil vorliegt, der über die Tarifwerke der Zeitarbeit die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz rechtfertigt. Dies wurde – insbesondere für befristete Arbeitsverhältnisse mit Zeitarbeitnehmern – im Vorfeld zur Verhandlung vor dem 5. Senat teilweise in Abrede gestellt. Das BAG ist dieser zeitarbeitskritischen Ansicht jedoch zu Recht nicht gefolgt. Der befürchtete „Donnerhall“ aus Erfurt, der im worst case zu Nachzahlungen an Zeitarbeitnehmer auf Entgelt (in Höhe der equal pay-Lücke) und an die DRV auf Sozialversicherungsbeiträge auf ein nicht gewährtes equal pay hätte führen können, ist – trotz aller Unkenrufe – ausgeblieben. Diese Szenarien sind nach dem Urteil vom BAG vom Tisch. Das bisher gelebte Modell der Zeitarbeit hat sich auf Grundlage des aktuellen Rechtsrahmens als belastbar erwiesen und kann folglich auf Basis der bisher schon bestehenden gesetzlichen und tariflichen Regularien uneingeschränkt fortgesetzt werden. Das Thema „Gesamtschutz“ ist damit geklärt worden – und zwar im Sinne der Zeitarbeitsbranche. Dieser wurde vom nationalen Gesetzgeber und auch von den Tarifvertragsparteien hinreichend beachtet. Es ist weder eine Anpassung des AÜG noch der Tarifverträge der Zeitarbeit erforderlich und/oder geboten. 

Die Tarifverträge der Zeitarbeit genügen den Anforderungen des EuGH bzw. der RL und können folglich auch zukünftig als Rechtsgrundlage dienen, um zulässigerweise vom Gleichstellungsgrundsatz abzuweichen. Insoweit sind die bisherigen Urteile gute Nachrichten für die Zeitarbeitsbranche. Die Tarifverträge der Zeitarbeit stellen eine rechtlich wirksame „Basis“ dar, um unter Wahrung des Gesamtschutzes von Zeitarbeitnehmern den Gleichstellungsgrundsatz abbedingen zu können. Dies gilt im Übrigen nicht nur für das streitgegenständliche Tarifwerk iGZ, sondern auch für das „Schwestertarifwerk“ des BAP, denn beide Tarifverträge sind – mit Blick auf die Ausgleichsvorteile und folglich die Gewährung der Vergütung in verleihfreien Zeiten – gleich gelagert bzw. aufgesetzt. Daran gibt es nach dem Urteil des BAG nichts mehr zu deuteln.

Zusammenfassend: Eine Entscheidung mit Augenmaß und ein guter Tag für die Zeitarbeit!

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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