18. Juli 2022
Arbeitnehmerüberlassung Gleichstellung Gesamtschutz Tarifvertrag
Arbeitsrecht

Arbeitnehmerüberlassung: Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz nur bei Beachtung des „Gesamtschutzes“ der Zeitarbeitnehmer

Die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifverträge erfordert die Achtung des Gesamtschutzes der Zeitarbeitnehmer. Dafür sollen nach Ansicht des Generalanwalts am EuGH Ausgleichsvorteile notwendig sein.

Das BAG hat dem EuGH zahlreiche Fragen in Zusammenhang (Az. C-311/21) mit der in Deutschland die Zeitarbeitsbranche prägenden Möglichkeit vorgelegt, vom grundsätzlich verpflichtenden Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifverträge abzuweichen.

Warum ist dies überhaupt relevant? Weil sich – je nach Ausgang des Verfahrens und der „Umsetzung“ durch den EuGH und das BAG – nicht unerhebliche Nachzahlungsansprüche ergeben könnten, die sich sowohl gegen den Verleiher als auch den Entleiher richten können. 

Generalanwalt des EuGH: Wahrung des Gesamtschutzes durch Ausgleichsvorteile in Bezug auf die wesentlichen Arbeitsbedingungen von Zeitarbeitnehmern möglich

Seit dem 14. Juni 2022 liegen die Schlussanträge des Generalanwalts am EuGH vor. Daraus lässt sich – kurz gesprochen – Folgendes ableiten:

Die Sozialpartner können im Wege eines Tarifvertrags vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt zulasten von Zeitarbeitnehmern* abweichen, sofern solche Tarifverträge hierzu in einem angemessenen Verhältnis stehende Ausgleichsvorteile in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Zeitarbeitnehmern gewähren, so dass deren Gesamtschutz geachtet wird. 

Dabei stellt der Generalanwalt dar, dass – wörtlich – eine Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt, bspw. durch ein Geschenk aus der Werbeabteilung nicht wirksam ausgeglichen werden könne. Weiter führt der Generalanwalt aus, dass z.B. ein um 50 % geringeres jährliches Arbeitsentgelt nicht durch die Gewährung eines zusätzlichen jährlichen Urlaubstags kompensiert werden könne. Auch wenn Arbeitsentgelt und Urlaub wesentliche Beschäftigungsbedingungen darstellten, dürfte eine solche Abweichung beim Arbeitsentgelt gegenüber dem Wert des Ausgleichsvorteils unverhältnismäßig sein. 

Konkrete Betrachtung hinsichtlich der tariflichen Ausgleichsvorteile zur Wahrung des Gesamtschutzes der Zeitarbeitnehmer gefordert

Auf Grundlage dieser Antwort des Generalanwalts dürfte es zumindest als herausfordernd zu bezeichnen sein, in den gängigen Tarifwerken, die zur Abweichung von dem Gleichstellungsgrundsatz verwendet werden, einen solchen Ausgleich – zumindest ausdrücklich – zu identifizieren. 

Das Problem wird durch die Anforderung des Generalanwalts verschärft, dass keine abstrakte, sondern eine konkrete Betrachtung hinsichtlich der tariflichen Ausgleichsvorteile zur Wahrung des Gesamtschutzes der Zeitarbeitnehmer erforderlich sein soll. Diese Voraussetzung dürfte mit Blick auf die für die Arbeitnehmerüberlassung typische Einsatzwechseltätigkeit und die abstrakt-generellen Regelungen in einem Tarifvertrag zumindest als ausgesprochen schwierig umsetzbar zu bezeichnen sein. Es kommt einer Quadratur des Kreises gleich, in einem Tarifvertrag Ausgleichsvorteile vorzusehen, wenn unklar ist, bei welchen Entleihern der Zeitarbeitnehmer eingesetzt wird und welche Arbeitsbedingungen dort gelten, die wiederum als Maßstab für die bereits vorher festzulegenden tariflichen Ausgleichsvorteile dienen sollen. 

Einen „Anker“ könnten die tariflichen Branchenzuschläge darstellen, die über ein „tarifliches equal pay“ eine mögliche Entgeltdifferenz zwischen Stammbeschäftigten und Zeitarbeitnehmern ausgleichen sollen. Problematisch ist dabei bereits, dass diese – zumindest nach dem gegenwärtigen Status – nicht flächendeckend vorgesehen sind, sondern nur für einige Branchen gelten, z.B. die M+E- und die Chemische Industrie. Ggf. mag eine solche „Konstruktion“ einen Lösungsansatz für die Zukunft darstellen; dies ist jedoch allenfalls denkbar, wenn ein Branchenzuschlag flächendeckend gezahlt wird, was aufgrund der Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit der Einsatzbereiche von Zeitarbeitnehmern nur problematisch abzubilden sein dürfte. Darüber hinaus müssten sämtliche an den maßgeblichen Tarifwerken beteiligten und in der Tarifgemeinschaft Zeitarbeit organisierten DGB-Gewerkschaften „mitziehen“. Dies dürfte insbesondere bei ver.di mit einer gewissen „Überzeugungsarbeit“ verbunden sein. Darüber hinaus scheint der Generalanwalt zu verlangen, dass eine Abweichung vom Entgelt durch einen anderen Vorteil, der nicht in Form von Vergütung gewährt wird, ausgeglichen werden muss, z.B. durch einen längeren Urlaub. Der Branchenzuschlag ist aber ein Bestandteil des Entgelts im engeren Sinne, so dass bereits fraglich sein kann, ob dieser – nach Lesart des Generalanwalts – überhaupt einen Ausgleichsvorteil darstellen kann – es bleiben also (zunächst) zahlreiche Fragen offen.

Tarifverträge müssen von nationalen Gerichten hinsichtlich einer Wahrung des Gesamtschutzes von Zeitarbeitnehmern überprüfbar sein

Darüber hinaus stellt der Generalanwalt in den Schlussanträgen klar, 

  • dass die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern die Möglichkeit zum Abschluss von vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichenden Tarifverträgen in Bezug auf Zeitarbeitnehmer geben könnten, die in einem befristeten Arbeitsvertrag mit einem Verleiher stünden (ein unbefristeter Arbeitsvertrag – wie es teilweise vertreten wird – ist folglich nicht erforderlich, so dass auch bei befristet beschäftigten Zeitarbeitnehmern eine Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz rechtlich möglich und zulässig wäre),
  • dass die nationalen Rechtsvorschriften keine detaillierten, von den Sozialpartnern zu erfüllenden Bedingungen und Kriterien für die vom Gleichstellungsgrundsatz abweichenden Tarifverträge vorgeben müssten, sofern die Achtung des Gesamtschutzes von Zeitarbeitnehmern sichergestellt sei – das AÜG ist insoweit nach Ansicht des Generalanwalts also europarechtskonform –,
  • dass die von den Sozialpartnern geschlossenen Tarifverträge durch die nationalen Gerichte daraufhin überprüfbar seien, dass sie den Gesamtschutz von Zeitarbeitnehmern achteten. Es soll nach Ansicht des Generalanwalts folglich eine umfängliche Kontrolle ohne einen einschränkenden Prüfmaßstab stattfinden; von abgeschlossenen Tarifverträgen soll keine Richtigkeitsgewähr ausgehen, wie es im Tarifrecht bisher – zumindest aus „deutschrechtlicher Brille“ – überwiegend vertreten wurde. 

Insbesondere der vom Generalanwalt verlangte „tarifliche Ausgleichsvorteil“, kombiniert mit einer konkreten Betrachtung, dürfte zumindest als herausfordernd anzusehen sein. Die Schlussanträge dürften – trotz der auch positiven Erkenntnisse – damit als „ambivalent“ zu bezeichnen sein. Es bleibt zunächst abzuwarten, wie der EuGH auf diese reagieren wird und ob er diesen folgt. Verpflichtet dazu ist der Gerichtshof nicht. 

Selbst wenn dies der Fall wäre, ist damit das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vielmehr ist es dann am BAG, die Vorgaben des EuGH umzusetzen und konkret anzuwenden. Es bleibt daher weiterhin – aus Sicht der Zeitarbeitsbranche – unnötig spannend! Die Messe ist aber noch nicht gelesen. Vielmehr stellen die Schlussanträge des Generalanwalts nur eine weitere Etappe zur Klärung der vom BAG vorgelegten Fragen dar. Nun sind die Gerichte am Zug. 

Weitere Einzelheiten dazu entnehmen Sie dabei bitte unserem „Infobrief Zeitarbeit“, in dem wir jeden Monat über aktuelle Entwicklungen in Zusammenhang mit dem Einsatz von Fremdpersonal informieren. Sollten Sie Interesse haben, ihn kostenfrei zu beziehen, schreiben Sie uns bitte eine kurze E-Mail (alexander.bissels@cms-hs.com oder kira.falter@cms-hs.com).

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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