Ist die Abbedingung des Gleichstellungsgrundsatzes europarechtskonform? Der EuGH hat dazu Vorgaben gemacht, die jedoch sehr interpretativ und offen sind.
Am 15. Dezember 2022 hat der EuGH (Az. C-311/21) auf die Vorlage des BAG vom 16. Dezember 2021 (Az. 5 AZR 143/19 (A) zu den europarechtlichen Anforderungen an die Abweichung des an sich zwingend ab dem ersten Tag der Überlassung eines Zeitarbeitnehmers an den Kunden geltenden Gleichstellungsgrundsatzes (§ 8 Abs. 1 AÜG) entschieden. Das Urteil wurde mit Spannung erwartet, wird doch in der Praxis regelmäßig von der gesetzlich – an sich als Ausnahme – vorgesehenen Möglichkeit, den Gleichstellungsgrundsatz durch die Anwendung der Tarifverträge der Zeitarbeit ab dem ersten Tag des Einsatzes eines Zeitarbeitnehmers* abzubedingen (vgl. § 8 Abs. 2 und 4 AÜG), regelmäßig Gebrauch gemacht.
Teilweise werden die Auswirkungen der Entscheidung des EuGH recht dramatisch kommentiert. Diese Interpretationen dürften jedoch überzogen sein. Vielmehr können die Rechtsanwender, insbesondere diejenigen Personaldienstleister, die die Tarifverträge der Zeitarbeit anwenden, auf Grundlage der Ausführungen aus Luxemburg zunächst recht gelassen bleiben.
EuGH gibt strenge Einzelfallprüfung vor, ob überhaupt eine Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatzes vorliegt, die ausgeglichen werden muss
Der EuGH stellt zunächst fest, dass durch Tarifverträge vom Gleichstellungsgrundsatz abgewichen werden kann – insoweit zunächst gute Nachrichten! Da dies, insbesondere hinsichtlich des Entgelts, für den Zeitarbeitnehmer einen Nachteil darstellen kann, muss selbiger durch einen Ausgleichsvorteil an einer anderen Stelle ausgeglichen werden, um den von der Zeitarbeitsrichtlinie verlangten Gesamtschutz hinreichend zu berücksichtigen.
Die Frage, ob eine entsprechende Kompensation für die Entgeltdifferenz durch Ausgleichsvorteile erfolgt, muss im konkreten Einzelfall geprüft werden (in drei Stufen, die der EuGH selbst vorgibt), nämlich:
- In einem ersten Schritt sind die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu bestimmen, die für den Zeitarbeitnehmer gelten würden, wenn er von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wäre.
- In einem zweiten Schritt sind diese wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen mit denen zu vergleichen, die sich aus dem Tarifvertrag ergeben, dem der Zeitarbeitnehmer tatsächlich unterliegt.
- In einem dritten Schritt ist zu beurteilen, ob die gewährten Ausgleichsvorteile – im Sinne der Gewährung eines Gesamtschutzes – eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen.
Letztlich ist eine strenge Einzelfallprüfung erforderlich, ob überhaupt eine Abweichung vorliegt, die dann durch Ausgleichsvorteile kompensiert werden müsste. Dieser konkrete Ansatz des EuGH spricht gegen den bereits jetzt herbeigeredeten „Flächenbrand“ und den in diesem Zusammenhang heraufbeschworenen Niedergang der Zeitarbeit.
Der EuGH stellt in diesem Sinne nämlich gerade nicht fest, dass die Tarifwerke der Zeitarbeit europarechtswidrig bzw. unwirksam sind, weil diese den verlangten Gesamtschutz der Zeitarbeitsrichtlinie nicht wahren. Zeitarbeitnehmer müssen zunächst deren (vorgebliche) Ansprüche gegenüber dem Personaldienstleister erst einmal geltend machen (es dürfte damit zu rechnen sein, dass dies zukünftig öfter passiert – ggf. auch durch eine entsprechende „Stimmungsmache″) und sodann gerichtlich verfolgen, wenn das Zeitarbeitsunternehmen deren Erfüllung ablehnt. Aufgrund der hohen Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast, die der Zeitarbeitnehmer im Rahmen von equal pay-Verfahren erfüllen müssen, dürften solche Verfahren oftmals schon an dieser Stelle scheitern. Die DRV dürfte aufgrund der vom EuGH verlangten konkreten Einzelfallbetrachtung ebenfalls wenig geneigt sein, flächendeckende Prüfungen zur Nachzahlung von Sozialversicherungsbreiträgen auf ein vermeintlich nicht an die Zeitarbeitnehmer gezahltes equal pay durchzuführen, für die es – anders als bei den CGZP-Sachverhalten ab dem Jahr 2010 – kein „Schema F“ oder eine einheitliche Blaupause gibt und im Zweifel auch nicht geben wird.
Gesamtschutz: Entgeltfortzahlung zwischen Überlassungen kann berücksichtigt werden
Hinsichtlich der erforderlichen Ausgleichsvorteile gibt der EuGH (Rn. 56 des Urteils) einen interessanten Hinweis, der sich in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14. Juli 2022 nicht findet: Die Entgeltfortzahlung in der Zeit zwischen den Überlassungen – sei es aufgrund eines unbefristeten oder befristeten Vertrags – kann bei der Beurteilung dieses Gesamtschutzes nach Art. 5 Abs. 3 der Zeitarbeitsrichtlinie berücksichtigt werden; dieser dem Zeitarbeitnehmer gewährte „Vorteil“ ist folglich nicht nur im Rahmen von Art. 5 Abs. 2 der Zeitarbeitsrichtlinie von Relevanz. Die Zahlung der Vergütung in einsatzfreien Zeiten sehen aber § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG und die Tarifwerken BAP und iGZ gerade vor – grundsätzlich ein gutes Argument dafür, dass der Gesamtschutz (zumindest in unbefristeten Arbeitsverhältnissen) gewährleistet wird, auch wenn der EuGH in diesem Zusammenhang etwas vorsichtiger formuliert („berücksichtigt werden kann“).
Zudem würde § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG grundsätzlich eine Differenzierung bei der Entgelthöhe bei den Zeiten einer Überlassung und der Nichtüberlassung zulassen. Die Tarifpartner haben diesen Gestaltungsspielraum jedoch zum Schutz der Zeitarbeitnehmer gerade nicht genutzt und – damit im Sinne des Gesamtschutzes – einen einheitlichen, zu Gunsten der Mitarbeiter geltenden Vergütungsanspruch geregelt.
Kein Flächenbrand in der Zeitarbeitsbranche wegen des Urteils des EuGH zur Abbedingung des Gleichstellungsgrundsatzes zu erwarten
Letztlich sind noch zahlreiche Fragen offen, die durch das BAG – unter Berücksichtigung der Vorgaben des EuGH – weiter konkretisiert werden müssen. Es dürfte eher unwahrscheinlich sein, dass das BAG direkt die Europarechtswidrigkeit der Tarifwerke der Zeitarbeit wegen des Fehlens von (ausdrücklich als solche bezeichneten) Ausgleichsvorteilen feststellen wird. Das Kind sollte zum gegenwärtigen Zeitpunkt folglich nicht mit dem Bade ausgeschüttet, sondern das Urteil aus Erfurt abgewartet werden, das wahrscheinlich Mitte 2023 anstehen wird. Von einem „Flächenbrand“, der die Zeitarbeitsbranche erfasst oder erfassen wird, kann also – zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt – überhaupt keine Rede sein.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.