19. April 2024
Allgemeinverfügung Arbeitszeitgesetz Fußball
Arbeitsrecht

Ein (zeitlich begrenzter) Traum wird wahr!

Die Fußball-EM setzt neue Maßstäbe bei der Arbeitszeit: NRW erlässt Ausnahmebewilligung nach § 15 Abs. 2 ArbZG.

Stell dir vor, du hast die Auftragsbücher voll und weißt nicht, wie du die dringenden Anliegen deiner Kunden befriedigen sollst, weil dem Einsatz deiner Mitarbeiter* durch das Arbeitszeitgesetz enge Grenzen gesetzt sind. Und dann kommt die gute Fee und teilt dir mit, dass ihr sehr daran gelegen ist, dass die Abläufe in deutschen Unternehmen reibungslos über die Bühne gehen. Daher soll für einen Zeitraum von zehn Wochen Wunschzeit in deinem Betrieb sein: Tägliche Höchstarbeitszeit von 12 Stunden, Arbeiten notfalls auch an Sonn- und Feiertagen, wöchentliche Höchstarbeitszeit von 60 Stunden und das Ganze im Zweifel ohne Bewilligung der Aufsichtsbehörde. 

Gibt’s nicht? Gibt’s doch!

NRW erlässt eine Ausnahmebewilligung für das Arbeitszeitgesetz

NRW macht es möglich. Und zwar für König Fußball: Das Land spielt mit vier von zehn Austragungsorten in Köln, Düsseldorf, Dortmund und Gelsenkirchen in der 1. Liga der Fußball-EM. Um einen reibungslosen Ablauf dieses Großereignisses gewährleisten und den Beteiligten Planungssicherheit sowie gute und verlässliche Rahmenbedingungen verschaffen zu können, hat es per Allgemeinverfügung eine Ausnahmebewilligung nach § 15 Abs. 2 ArbZG für den Zeitraum vom 15. Mai 2024 bis zum 31. Juli 2024 erlassen. 

Abweichend von § 3 und § 11 Abs. 2 ArbZG dürfen Personen, die zur Vorbereitung, Teilnahme, Durchführung und Nachbereitung der UEFA EURO 2024 beauftragt oder akkreditiert werden, täglich – erforderlichenfalls auch an Sonn- und Feiertagen – bis zu 12 Stunden beschäftigt werden, insbesondere in folgenden Branchen und Bereichen:

  • Repräsentanten, Mitarbeiter und Beauftragte von Verbänden und Organisationen, insbesondere der UEFA, einschließlich Schiedsrichtern und Schiedsrichterassistenten, Spieler sowie anderes bezahltes Personal der teilnehmenden Mannschaften
  • Vertreter und Mitarbeiter der offiziellen Verbands- und Lizenzpartner
  • Vertreter der Medien einschließlich des technischen Personals sowie die Mitarbeiter der Fernseh- und Medienpartner
  • Mitarbeiter des Facility-Managements und
  • Service (Hospitality), Wach- und Sicherheitsgewerbe. 

Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine wöchentliche Arbeitszeit von 60 Stunden nicht überschritten wird und nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG Beginn und Ende der tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten sowie Lage und Dauer der Ruhepausen für alle betroffenen Beschäftigten aufgezeichnet werden. Sehr spannend ist hier übrigens, dass sich die Allgemeinverfügung an dieser Stelle offensichtlich an den Vorgaben der umstrittenen BAG-Entscheidung vom 13. September 2022 – 1 ABR 22/21 orientiert, in welcher das Gericht aus der arbeitsschutzrechtlichen Generalklausel des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG eine Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeiterfassung ableitet.

Darüber hinaus sieht die Allgemeinverfügung vor, dass

  • die wöchentliche Arbeitszeit auch unter Einbeziehung des Sonntags 48 Stunden im Durchschnitt von 6 Kalendermonaten oder 24 Wochen nicht überschreiten darf (§ 15 Abs. 4 ArbZG), indem rechtzeitig Ausgleichszeiten gewährt werden
  • für die geleistete Sonn- und Feiertagsarbeit der Ersatzruhetag in der gesetzlich vorgeschriebenen Frist von 14 Tagen erfolgen muss (§ 11 Abs. 3 ArbZG)
  • mindestens 15 Sonntage im Jahr beschäftigungsfrei bleiben müssen (§ 11 Abs. 1 ArbZG
  • alle Tätigkeiten im Rahmen der Vorbereitung, Teilnahme, Durchführung und Nacharbeitung der UEFA EURO 2024 nach §§ 5 und 6 ArbSchG im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zu ermitteln, zu bewerten und zu dokumentieren sind. 

Weiter heißt es in der Allgemeinverfügung wörtlich: Die genannten Ausnahmeregelungen dürfen ohne gesonderte Bewilligung der Aufsichtsbehörde in Ausnahmefällen (z.B. logistische Probleme, nicht abschätzbare Bedarfslage) in Anspruch genommen werden, soweit die Verlängerung nicht durch vorausschauende organisatorische Maßnahmen einschließlich notwendiger Arbeitszeitdisposition, durch befristete Einstellungen oder sonstige personalwirtschaftliche Maßnahmen vermieden werden kann. Die genannten Ausnahmeregelungen gelten für Beschäftigte über 18 Jahre. Für minderjährige Beschäftigte bleibt es bei den Regelungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes. Für schwangere und stillende Frauen gelten die Regelungen des Mutterschutzgesetzes. Diese Bewilligung ersetzt nicht die Mitbestimmungsrechte des Betriebs- bzw. des Personalrates nach den jeweiligen Betriebs- bzw. Personalvertretungsgesetzen.

Wortgleiche Allgemeinverfügungen wurden von den einzelnen Bezirksregierungen in NRW erlassen. Hier ein beispielhafter Link auf die Allgemeinverfügung der Bezirksregierung Köln.

Aktuelle Ausnahmen von der tägliche Höchstarbeitszeit reichen nicht aus, um bestimmte Tätigkeiten zu erledigen

Ein 

internationales Sportgroßereignis mit weitreichender Strahlkraft und dem Potenzial, eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung über ganz Deutschland und Europa zu erzeugen

macht also Vieles möglich. Man räumt freimütig ein, dass die im Arbeitszeitgesetz vorgesehenen Ausnahmen von der täglichen Höchstarbeitszeit für bestimmte Tätigkeiten nicht ausreichen, um die im dringenden öffentlichen Interesse zu erledigenden Arbeiten zu ermöglichen. 

Arbeitgeber, die dies lesen, könnten sich indes ein wenig „auf den Arm genommen“ fühlen. So gibt es zahlreiche andere Branchen, deren reibungsloses Funktionieren im dringenden öffentlichen Interesse liegt und die durch Fachkräftemangel, Krankheitswellen etc. an die Grenzen des Machbaren kommen.

Die Spielräume der EU-Arbeitszeitrichlinie sollten genutzt werden

Viele Unternehmer wären überglücklich, wenn Deutschland zumindest die Spielräume, die die EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG gewährt, ausnutzen würde – UEFA EURO 2024 hin oder her. Es wäre z.B. möglich, eine Wochenarbeitszeit von 48 Stunden vorzusehen und auf die bisher geltenden Tagehöchstarbeitszeiten zu verzichten. Nach der Arbeitszeitrichtlinie dürfen sich Arbeitnehmer sogar freiwillig zu längeren Wochenarbeitszeiten bereit erklären, sofern ihnen keine Nachteile entstehen, wenn sie dies ablehnen. Und die Arbeitszeitrichtlinie sieht vor, dass Abweichungen nicht nur für leitende Angestellte, sondern auch für sonstige Personen mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis möglich sind. Gute Ideen für die Flexibilisierung der Arbeitszeit gibt es also durchaus und zahlreiche EU-Staaten haben diese auch umgesetzt.

Unklarheiten der Ausnahmebewilligung

Neben der allgemeinen Verwunderung über das, was König Fußball alles möglich macht, besteht aber auch noch die ein oder andere kleine juristische Verwirrung:

  • Unter Ziff. I. der Allgemeinverfügung heißt es, dass die Ausnahmen vom Arbeitszeitgesetz ohne gesonderte Bewilligung der Aufsichtsbehörde gelten. Unter Ziff. II. der Verfügung heißt es dann aber: „Die genannten Ausnahmeregelungen dürfen ohne gesonderte Bewilligung der Aufsichtsbehörde in Ausnahmefällen (z.B. logistische Probleme, nicht abschätzbare Bedarfslage) in Anspruch genommen werden, soweit die Verlängerung nicht durch vorausschauende organisatorische Maßnahmen einschließlich notwendiger Arbeitszeitdisposition, durch befristete Einstellungen oder sonstige personalwirtschaftliche Maßnahmen vermieden werden kann.“ Was gilt denn nun? Brauche ich gar keine Genehmigung der Aufsichtsbehörde oder brauche ich sie nur in bestimmten Ausnahmefällen nicht? 
  • Die Allgemeinverfügung besagt, dass die wöchentliche Arbeitszeit auch unter Einbeziehung des Sonntags 48 Stunden im Durchschnitt von 6 Kalendermonaten oder 24 Wochen nicht überschreiten darf (§ 15 Abs. 4 ArbZG). Es müssen rechtzeitig entsprechende Ausgleichszeiten gewährt werden. Was geschieht aber mit den zahlreichen Mitarbeitern, die nur für die zehnwöchige heiße Phase der EM beschäftigt werden und deren Arbeitszeiten dementsprechend bei den „EM-Arbeitgebern“ gar nicht mehr ausgeglichen werden können?
  • Die gleiche Frage stellt sich bei den 15 Sonntagen im Jahr, die mindestens beschäftigungsfrei bleiben müssen. Eine ausschließlich im Rahmen der EM beschäftigte Arbeitskraft könnte also im Prinzip zehn Wochen lang an jedem Sonntag arbeiten?! Wer sorgt denn danach dafür, dass die jährliche „Sonntag-frei-Quote“ stimmt?

Mehr Arbeitszeitflexibiltät im Alltag wäre wünschenswert

Summa summarum wäre es wünschenswert, wenn solche flexiblen Lösungen auch in den „Alltag“ Eingang fänden. Nicht nur der Milliardenmarkt Fußball verdient solche Ansätze, sondern alle Unternehmen, die dazu beitragen, den Wirtschaftsstandort Deutschland aufrecht zu erhalten und insbesondere (wieder) nach vorn zu bringen.

Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet

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