22. Mai 2023
Mindestlohnrichtlinie Tarifbindung
Arbeitsrecht

Flächendeckende Tarifbindung durch die Hintertür? 

Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sollen einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen erarbeiten, um die Tarifbindung auf 80 % der Arbeitnehmer auszudehnen.

Die europäische Mindestlohnrichtlinie (EU) 2022/2041 ist bis zum 15. November 2024 in nationales Recht umzusetzen. Neben den Vorgaben zum Mindestlohn enthält die Richtlinie auch Vorgaben zur „Förderung von Tarifverhandlungen“, wenn weniger als 80 % der Arbeitnehmer* einem Tarifvertrag unterliegen. Die EU-Kommission und das EU-Parlament gehen davon aus, dass eine hohe Tarifbindung zu einem hohen Mindestlohn und einer geringen Anzahl an Niedriglohnarbeitern führt. 

Zu einer solchen Förderung hat sich die Bundesregierung bereits im Koalitionsvertrag bekannt, indem sie betonte, „die Tarifeinheit, -bindung und -treue“ stärken zu wollen. Nun stellt sich die Frage, wie eine Förderung in Deutschland umgesetzt werden kann. Nachfolgend fassen wir dies kurz zusammen und gehen zunächst auch auf den Umsetzungsbedarf zum Mindestlohn ein. 

Regelungen zum Mindestlohn ziehen keinen Handlungsbedarf nach sich

Vordergründig sollen mit der Richtlinie einheitliche Mindestanforderungen für Mitgliedsstaaten mit einem gesetzlichen Mindestlohn etabliert werden. Zu diesem Zweck sieht die Richtlinie ein Verfahren für die Festlegung und Anpassung der Mindestlöhne in denjenigen Ländern vor, in denen der Mindestlohn nicht bereits ausschließlich in Tarifverträgen verhandelt wird (wie u.a. in den skandinavischen Ländern). In 21 der 27 Mitgliedsstaaten, hierunter auch Deutschland, sollen die Sozialpartner gemeinsam auf Basis von 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns eine entsprechende Regelungsdynamik vereinbaren. 

In diesen Belangen ist das MiLoG bereits mustergültig und erfüllt mit einem Monatslohn von EUR 2.080 sowie der Mindestlohnkommission die Vorgaben der EU. Eine politische Anhebung durch den Gesetzgeber (wie in Polen, Slowenien und im Oktober 2022 in Deutschland) ist hingegen nicht gewollt. Auch Mitgliedsstaaten wie Frankreich, Belgien und Luxemburg, die ihren gesetzlichen Mindestlohn unter Berücksichtigung der Inflationsrate indexiert erhöhen, haben an dieser Stelle zunächst Nachholbedarf. Ungeachtet der tatsächlichen wirtschaftlichen Kaufkraft können Gewerkschaften schon im Vorfeld etwaiger Tarifverhandlungen durch diesen Hebel maßgeblich auf die Lohngestaltung Einfluss nehmen, indem sie die Lohntabelle mithilfe der Stellschraube „Mindestlohn“ in eine Erhöhungslogik zwingen. 

Umsetzungsbedarf in Hinblick auf die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung

In diesem Kontext mind. gleich bedeutsam, aber bisher weitgehend unbekannt, sind die Regelungen zur verpflichtenden Förderung der Tarifbindung, durch die sich die EU sozusagen als zweites Standbein ergänzend zum Mindestlohn eine Anhebung des Lohnniveaus verspricht. Dass aus einer hohen Tarifbindung eine geringe Anzahl an Niedriglohnarbeitern folgt, zeigt sich an den nordischen Mitgliedsstaaten wie Schweden, Dänemark und Finnland. In diesen Staaten sind die Tarifbindung und das Lohnniveau im europäischen Vergleich sehr hoch. Demgegenüber sind die Tarifbindung und das Lohnniveau in den „neuen Mitgliedsstaaten“, wie etwa Ungarn und Bulgarien, verhältnismäßig gering. 

Um die tarifvertragliche Abdeckung zu erhöhen und die Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung zu erleichtern, sollen alle Mitgliedsstaaten verschiedenste Maßnahmen ergreifen, hierbei aber die nationalen Besonderheiten beachten. Die Richtlinie benennt in Art. 4 Abs. 1a–d vier mögliche Maßnahmen, die sich zuvorderst der Stärkung der Sozialpartner widmen. 

Darüber hinaus sollen die Mitgliedsstaaten mit einer tariflichen Abdeckung von weniger als 80 % gemeinsam mit den Sozialpartnern einen Aktionsplan mit Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen erstellen und diesen veröffentlichen sowie der Kommission mitteilen, vgl. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie.

Europäische Realität vs. 80 % Tarifabdeckung

Dass dies eine sehr ambitionierte Vorgabe ist, lässt sich bereits daran erkennen, dass sie derzeit nur acht Mitgliedsstaaten (Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Spanien und Schweden) erfüllen. Der EU-weite Durchschnitt liegt derzeit bei 58,8 % (OECD 2020), wobei die Mitgliedsstaaten nahezu über die gesamte Bandbreite verteilt sind. In diesem Zusammenhang kann vor allem nicht außer Acht gelassen werden, dass der Organisationsgrad EU-weit bei 25,2 % (OECD 2020) liegt, seit Jahrzehnten rückläufig ist und sich damit diametral zu der angestrebten Tarifabdeckung entwickelt. 

In Deutschland liegt die Tarifbindung unter Berücksichtigung von Bezugnahmeklauseln in Arbeitsverträgen aktuell etwa bei 43 %, der Organisationsgrad sogar nur bei 16,3 %.

Mögliche Maßnahmen und Gesetzesänderungen für einen höheren Grad der Tarifbindung

Maßnahmen zur Förderung der Tarifbindung werden in Deutschland bereits seit Jahren diskutiert. In Deutschland sind etwaige Maßnahmen an der im Grundgesetz verbürgten Koalitionsfreiheit zu messen, die von einem staatsfernen Tarifvertragssystem ausgeht und daher hohe Anforderungen an staatliche Eingriffe stellt (sog. Tarifautonomie). Es ist abzuwarten, inwieweit der deutsche Gesetzgeber Maßnahmen ergreift. Im Grunde stehen sich zwei Ansätze gegenüber: der einer strengeren Regulierung und der einer Stärkung des tarifdispositiven Rechts.

Zuletzt wurde eine strengere Regulierung kurz vor Ende der letzten Legislaturperiode im Sommer 2021 im Bundestag debattiert, nachdem die Linke und die Grünen im Bundestag entsprechende Anträge gestellt hatten. Die Anträge wurden zwar alle abgelehnt, sie zeigen aber, welche Maßnahmen für einen zukünftigen Aktionsplan in Betracht kommen könnten:

  • die „Abschaffung“ der Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung (sog. OT-Mitgliedschaft)
  • die Erleichterung des Verfahrens zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung geltender Tarifverträge unter Erweiterung des erforderlichen „öffentlichen Interesses“ zu einer sozialpolitischen Generalklausel
  • eine längere Nachwirkung von Tarifverträgen bei Betriebsübergängen gem. § 613a BGB

Während die Abschaffung der OT-Mitgliedschaft aufgrund der höchstrichterlich verschärften Anforderungen eher unwahrscheinlich scheint, dürfte zur Erreichung der 80%igen Tarifabdeckung das Mittel der Wahl die Vereinfachung der Voraussetzungen einer Allgemeinverbindlicherklärung sein. Zudem hat sich die Bundesregierung bereits im Koalitionsvertrag ausdrücklich für die strengere Nachwirkung von Tarifverträgen bei Betriebsübergängen zum Zwecke der Tarifflucht“ innerhalb einer Unternehmensgruppe ausgesprochen, sodass mit einer entsprechenden Regulierung zu rechnen ist.

Darüber hinaus ist mit einem Ausbau des tarifdispositiven Rechts durch sog. Tariföffnungsklauseln zu rechnen. Bei solchen Klauseln regelt der Gesetzgeber Ausnahmen von einer gesetzlichen Pflicht nicht im Gesetz selbst, sondern überlässt dies den Tarifvertragsparteien. Solche Klauseln existieren u.a. bereits im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und Teilzeitbefristungsgesetz. Ein weiteres aktuelles Beispiel ist der Referentenentwurf des BMAS zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes vom 18. April 2022. Hiernach können die Tarifparteien durch Tarifverträge von den Vorgaben zur Arbeitszeiterfassung abweichen und bestimmte Arbeitnehmergruppen sogar vollständig ausnehmen. 

Tariftreueregelung für Vergabeverfahren des Bundes

Die Vorgaben zum Mindestlohn, die Maßnahmen zum Ausbau der Tarifbindung sowie der Aktionsplan werden von einer Vorgabe für die Vergabe öffentlicher Aufträge flankiert, vgl. Art. 9 der Richtlinie. 

Die Mitgliedsstaaten sollen dafür sorgen, dass bei Vergabeverfahren nur solche Unternehmen berücksichtigt werden, die die geltenden Tarifverträge einhalten. In Deutschland bestehen solche Vorgaben bereits seit einigen Jahren (sog. Tariftreueregelungen), insbesondere für Bau-, Liefer- und Dienstleistungen in allen (Bundes-)Ländern bis auf Sachsen und Bayern. 

Das Saarland hat Ende 2021 eine neue Variante der Tariftreueregelungen eingeführt, die nun auch für das Bundesgesetz als Vorlage dienen soll, für das derzeit das Konsultationsverfahren läuft. Die Landesregierung schreibt die Mindestlöhne des jeweils geltenden Branchentarifvertrags in einer Rechtsverordnung fest und macht deren Einhaltung so zu einer Bedingung des Vergabeverfahrens, die alle teilnehmenden Unternehmen einhalten müssen. Darüber hinaus verlangt das Saarland mit dieser Rechtsverordnung auch die Einhaltung der maßgeblichen Kernarbeitsbedingungen der jeweiligen Branchentarifverträge. Umfasst sind also auch Arbeitszeitregelungen, Zuschläge, Sonderzahlungen oder Urlaubsregelungen. 

Kompetenzüberschreitung des EU-Parlaments? Richtungsweisende Entscheidung des EuGH

Ob der europäische Gesetzgeber mit der Richtlinie seine Gesetzgebungskompetenzen überschritten hat, dürfte zeitnah der EuGH klären: Dänemark hat bereits eine Nichtigkeitsklage gegen die Vorgaben zur Förderung der Tarifverhandlung erhoben. Hinter dem Feigenblatt der Harmonisierung der Arbeitsbedingungen, für welche die EU durchaus Richtlinienkompetenz besitzt, lassen sich bei besonders kritischem Blick sicherlich auch Regelungen zum Arbeitsentgelt und dem Koalitionsrecht erkennen, die gerade nicht in den Einflussbereich der EU fallen, vgl. Art. 153 Abs. 5 AEUV. In der Vergangenheit – so viel sei vorweggenommen – hat der EuGH europäische Harmonisierungsvorhaben häufig nicht allzu streng bewertet. In jedem Fall dürfte die Entscheidung richtungsweisend für die Zukunft des europäischen Arbeitsrechts und für dessen Harmonisierung durch den europäischen Gesetzgeber sein.

Für diejenigen deutschen Arbeitgeber, die bisher zur nicht tarifgebundenen Mehrheit gehören, ist mit diversen Änderungen zu rechnen, die inmitten des Fachkräftemangels, einer verhältnismäßig hohen Inflationsrate und historisch niedriger Arbeitslosigkeit die Kräfteverhältnisse noch einmal verschieben dürften.

*Gemeint sind Personen jeder GeschlechtsidentitätUm der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Arbeitsrecht Mindestlohnrichtlinie Tarifbindung