19. November 2018
Haftung Betriebsübergang Insolvenz
Arbeitsrecht Restrukturierung und Insolvenz

Ist die Privilegierung der Erwerberhaftung bei einem Betriebsübergang aus der Insolvenz bedroht?

BAG befragt EuGH zur Haftungseinschränkung des Erwerbers im Bereich der betrieblichen Altersversorgung bei einem Betriebsübergang aus der Insolvenz.

Bislang entspricht es der Rechtsprechung des BAG und der herrschenden Meinung, dass bei der Veräußerung eines Betriebs in der Insolvenz des Veräußerers § 613a BGB uneingeschränkt anwendbar ist, soweit es um den Schutz der Arbeitsplätze und die Kontinuität des Betriebsrats geht. Dies bedeutet insbesondere, dass die dem übergehenden Betrieb zuzuordnenden Arbeitsverhältnisse kraft Gesetzes auf den Betriebserwerber übergehen.

Allerdings wird eine Einschränkung (sog. teleologische Reduktion) dahingehend vorgenommen, dass die gesetzliche Regelung insoweit unanwendbar ist, wie sie eine Haftung des Betriebserwerbers für bereits entstandene Ansprüche vorsieht. In diesem Fall gehen die Verteilungsgrundsätze des Insolvenzverfahrens vor. Im Klartext bedeutet dies, dass der Betriebserwerber nicht für Insolvenzforderungen haftet. Europarechtlich wird diese Rechtsprechung auf Art. 5 Abs. 2a) der Betriebsübergangs-Richtlinie (RL 2001/23/EG) gestützt, wonach es den Mitgliedstaaten grundsätzlich gestattet ist, eine Haftungsprivilegierung des Betriebserwerbers bei einem Betriebsübergang aus der Insolvenz vorzusehen.

Bislang: Eingeschränkte Haftung des Erwerbers bei Betriebsübergang aus der Insolvenz

Für den Bereich der betrieblichen Altersversorgung wirkt sich diese eingeschränkte Anwendung von § 613a BGB in „Insolvenzfällen″ bislang wie folgt aus: Der Betriebserwerber tritt zwar grundsätzlich in die gegenüber den übergehenden Arbeitnehmern erteilten Versorgungszusagen ein. Allerdings schuldet er im Versorgungsfall nur eine Versorgungsleistung, die sich aus den seit Eröffnung des Insolvenzverfahrens erdienten Versorgungsanwartschaften ergibt.

Für die beim Veräußerer bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens erdienten unverfallbaren Anwartschaften haftet grundsätzlich der Pensions-Sicherungs-Verein (PSV) als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung nach Maßgabe der entsprechenden gesetzlichen Vorschriften (§ 7 ff. BetrAVG).

Begrenzung der Haftung des PSV bei sog. endgehaltsbezogener Dynamik

Abhängig von der Ausgestaltung der konkreten Versorgungszusage kann diese Haftungsverteilung bei einem Betriebsübergang aus der Insolvenz dazu führen, dass für einen Teil der Versorgungsanwartschaften weder der Betriebserwerber noch der PSV haftet, sondern der Arbeitnehmer einen Teil seiner Ansprüche auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung als „einfache″ Insolvenzforderung zur Insolvenztabelle anmelden muss. Inwieweit eine solche Insolvenzforderung im Insolvenzverfahren befriedigt wird, ist ungewiss.

Diese, aus Arbeitnehmersicht bestehende „Haftungslücke″ besteht insbesondere bei Versorgungszusagen, die eine sog. endgehaltsbezogene Dynamik enthalten. Dies ist der Fall, wenn sich die zugesagte Versorgungsleistung ausgehend von dem Einkommen berechnet, das der Arbeitnehmer zu einem bestimmten Stichtag vor dem Eintritt in den Ruhestand bezieht (das sog. Endgehalt). In einem solchen Fall wird durch die sog. Veränderungssperre des § 7 Abs. 2 S. 6 BetrAVG i. V. m. § 2a Abs. 1 BetrAVG der vom PSV zu tragende Teil der Betriebsrente nicht ausgehend von einem hypothetischen „Endgehalt″ vor dem Eintritt in den Ruhestand berechnet (einschließlich hypothetischer künftiger Gehaltssteigerungen), sondern nur anhand des zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung tatsächlich bezogenen Entgelts, was im Regelfall geringer ist. Die Differenz, die hierdurch entsteht, kann der Arbeitnehmer bislang zur Insolvenztabelle anmelden. Der Betriebserwerber haftet für diese Differenz nicht, soweit sich diese Differenz auf den Zeitraum vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens bezieht.

Klage vor BAG: Höhere Betriebsrente verlangt

Ob es bei dieser Rechtslage auch in Zukunft bleiben wird, ist durch die nunmehrigen Vorlagen des BAG an den EuGH in Frage gestellt (Vorlagebeschlüsse vom 16. Oktober 2018 – 3 AZR 139/17 (A); 3 AZR 878/16 (A)).

Dabei liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Im März 2009 wurde ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des früheren Arbeitgebers eröffnet. Im April 2009 ging der Betrieb im Rahmen eines Betriebsübergangs auf einen neuen Arbeitgeber (den jetzigen Beklagten) über. Der alte Arbeitgeber hatte beiden Klägern eine Versorgungszusage auf der Grundlage der bei ihm geltenden Versorgungsordnung erteilt. Danach berechnet sich die von den Arbeitnehmern im Versorgungsfall zu beanspruchende Betriebsrente nach der Anzahl der Dienstjahre und einem – zu einem bestimmten Stichtag vor dem Ausscheiden – erzielten Gehalt. Die Versorgungszusage enthielt mithin eine endgehaltsbezogene Dynamik.

Einer der Kläger erhält seit August 2015 vom Betriebserwerber eine Betriebsrente in Höhe von ca. EUR 144 und vom PSV eine Rente in Höhe von EUR 817. Bei der Berechnung der Betriebsrente legte der PSV – wie im Betriebsrentengesetz vorgesehen – das zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens maßgebliche Gehalt des Klägers zugrunde. Die endgehaltsbezogene Dynamik bliebt aufgrund der gesetzlichen Veränderungssperre unberücksichtigt.

Der Kläger ist der Auffassung, dass der Betriebserwerber ihm eine höhere Betriebsrente gewähren müsse. Die Betriebsrente berechne sich nach der Versorgungsordnung auf Basis des vor dem Versorgungsfall bezogenen Gehalts. Insoweit hafte der Betriebserwerber nach Ansicht des Klägers grundsätzlich voll und könne lediglich den Betrag abziehen, den der Kläger vom PSV erhalte. Der zweite Kläger verfügte bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht über eine nach den Vorschriften des BetrAVG gesetzlich unverfallbare Anwartschaft. Daher steht ihm bei Eintritt des Versorgungsfalls kein Anspruch gegen den PSV zu. Er hält den Betriebserwerber für verpflichtet, ihm künftig eine Betriebsrente in voller Höhe zu gewähren.

Die spannende Frage: Muss überhaupt wer haften – und wenn ja: PSV oder Betriebserwerber?

Das BAG möchte vom EuGH wissen, ob die Einschränkung der Haftung des Erwerbers bei einem Betriebsübergang aus der Insolvenz, wonach der Erwerber nicht für Anwartschaften auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung hafte, die auf Beschäftigungszeiten vor der Insolvenzeröffnung beruhen, europarechtskonform ist.

Eine zentrale Frage an den EuGH ist dabei, ob es mit Europarecht vereinbar ist, dass weder der Erwerber noch der PSV für die Steigerung der Versorgungsanwartschaften haften, die durch zwar nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens stattfindende Entgelterhöhungen, aber für vor diesem Zeitpunkt erbrachte Zeiten der Betriebszugehörigkeit erfolgen.

Im Fall der Europarechtswidrigkeit stellt sich die Anschlussfrage, ob der Betriebserwerber oder der PSV für diese „Haftungslücke″ aufkommen muss. Insoweit besteht derzeit erstens das Risiko, dass eine Ausweitung der Haftung des Erwerbers im Bereich der betrieblichen Altersversorgung begründet werden könnte. Die zweite mögliche Folge einer Europarechtswidrigkeit der bisherigen Haftungsbeschränkung ist, dass statt der Haftung des Erwerbers die Haftung des PSV ausgedehnt würde.

Vor diesem Hintergrund erkundigt sich das BAG in den weiteren Vorlagefragen, ob die bisherige Rechtsprechung und die gesetzliche Insolvenzsicherung von Betriebsrentenansprüchen und -anwartschaften über den PSV europarechtskonform sind. Dabei geht es zentral um die gesetzlich vorgesehene Veränderungssperre der Bemessungsgrundlagen. Die Frage ist, ob es gegen europarechtliche Vorgaben verstößt, wenn der PSV nicht für die endgehaltsbezogene Dynamik haftet. Für den Fall, dass diese Haftungsbeschränkung zugunsten des PSV europarechtswidrig sein sollte, möchte das BAG wissen, ob Art. 8 der Zahlungsunfähigkeits-Richtlinie (RL 2008/094/EG) unmittelbare Wirkung entfaltet und Arbeitnehmer gegenüber dem PSV unter Berufung auf diese Richtlinie die sog. entgeltbezogene Dynamik verlangen können.

EuGH wird die Haftung für Betriebsrentenansprüche und -anwartschaften bei Betriebsübergängen aus der Insolvenz klären müssen

Abhängig von der Entscheidung des EuGH bleibt entweder alles „beim Alten″ oder die Haftung für Betriebsrentenansprüche und -anwartschaften bei Betriebsübergängen aus der Insolvenz wird modifiziert. Offen ist, wen eine etwaige Erweiterung der Haftung treffen würde: den PSV oder den Betriebserwerber.

Tags: Betriebsübergang Haftung Insolvenz