SE-Gründung durch Umwandlung: „Rechtlich gebotener Soll-Zustand“ in der ursprünglichen Aktiengesellschaft und nicht tatsächliche Verhältnisse maßgebend.
Das OLG Frankfurt hat sich in einem Beschluss (v. 27. August 2018 – 21 W 29/18) gegen die bisher zu der Thematik einer SE-Gründung durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft ergangenen Entscheidungen des LG Frankfurt (Beschluss v. 23. November 2017 – 3-05 O 63/17; eingehend hierzu: DB 2018, 2487) und des LG München I (Beschluss v. 26. Juni 2018 -, 38 O 15760/17, eingehend hierzu: DB 2018, 2487) gestellt.
Ausmaß an Mitbestimmung darf auch bei Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft nicht unterschritten werden
Die Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft (AG) ist eine der häufigsten Anwendungsfälle für die SE-Gründung. Bei der SE-Gründung muss ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren durchgeführt werden. In diesem soll die Mitbestimmung in der zukünftigen SE nach dem Leitbild des europäischen und nationalen Normgebers durch ein Gremium der Arbeitnehmer (Besonderes Verhandlungsgremium) und die Leitung des Unternehmens ausgehandelt werden.
Beide Parteien sind weitgehend frei von inhaltlichen Vorgaben. Die wichtigste Ausnahme davon ist § 21 Abs. 6 SEBG, wonach die Parteien in der Beteiligungsvereinbarung bei der SE-Gründung durch Umwandlung das zuvor bestehende Ausmaß an Mitbestimmung nicht unterschreiten dürfen. Für den Fall, dass die Verhandlungen über eine Beteiligungsvereinbarung scheitern, bleiben die zuvor geltenden Regelungen in der AG zur Unternehmensmitbestimmung erhalten (§ 35 Abs. 1 SEBG).
In der Praxis weichen die tatsächlichen Verhältnisse über die Mitbestimmung im Aufsichtsrat häufiger von der objektiven Rechtslage ab. Solche Diskrepanzen können durch schlichtes Verkennen des Vorliegens der Schwellenwerte von DrittelbG und MitbestG oder durch bewusstes Unterlassen der entsprechenden Maßnahmen durch die Unternehmensleitung und (bewusste oder unbewusste) ausbleibende Durchsetzung seitens der Arbeitnehmer entstehen. Die Frage ist nun, ob es für die Mitbestimmung in der neu gegründeten SE auf die tatsächlich praktizierte Mitbestimmung (Ist-Zustand) oder auf die objektive Rechtslage zur Mitbestimmung (Soll-Zustand) in der vorherigen AG ankommt.
In der Literatur wird überwiegend vertreten, dass es auf die objektive Rechtslage ankomme (Kienast in Jannott/Frodermann Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft 2. Aufl. 2015 Kap. 13 Rn. 485-486 m.w.N.; Forst in Gaul/Ludwig/Forst Europäisches Mitbestimmungsrecht 2015 § 2 Rn. 464; Grambow, BB 2012, 902 jeweils m.w.N., Behme, EWiR 2018, 333, 334, a.A. Oetker in: Lutter/Hommelhoff/Teichmann, SE-Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 34 Rn. 15).
LG München I und LG Frankfurt nicht mit der SE-Richtlinie vereinbar
Die bisher ersten mit der Frage befassten Gerichte waren der Meinung, es sei auf die praktizierten Verhältnisse abzustellen. Dies folge aus § 96 Abs. 4 AktG, wonach der Aufsichtsrat nach anderen als den zuletzt angewandten Vorschriften nur bei Durchführung des Statusverfahrens gemäß §§ 97, 98 AktG zusammengesetzt werden könne. So lange gelte er also als rechtmäßig konstituiert. Dieses der Rechtssicherheit dienende Kontinuitätsprinzip sei auf die vorliegende Konstellation zu übertragen. Es liege an den Arbeitnehmern, rechtzeitig vor dem Formwechsel ein Statusverfahren einzuleiten.
Diese Auffassung ist abzulehnen, da diese den Rechtsgrundsätzen der SE-Richtlinie und dem SEBG nicht gerecht werden (eingehend: DB 2018, 2487). Grundlage der maßgeblichen Regelungen im SEBG ist das sog. „Vorher–Nachher–Prinzip“ in der SE-Richtlinie. Der 18. Erwägungsgrund der SE-Richtlinie erklärt ausdrücklich die Sicherung erworbener Rechte der Arbeitnehmer über ihre Beteiligung an Unternehmensentscheidungen zum fundamentalen Grundsatz und erklärten Ziel der Richtlinie. Der bei den Gründungsgesellschaften vorhandene Bestand an Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer soll sich grundsätzlich auch in der SE wiederfinden (Kienast in Jannott/Frodermann Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft 2. Aufl. 2015 Kap. 13 Rn. 23 m.w.N.). Das war bei der Einführung der europäischen Rechtsform SE der Kompromiss und der Ausgleich dafür, dass die SE kein eigenes Mitbestimmungsstatut erhielt (vgl. zum Kompromiss von Nizza im Jahre 2000 Kienast in Jannott/Frodermann aaO. 13 Rn. 6 m.w.N).
Insbesondere im Falle der Gründung einer SE durch Umwandlung sind die Arbeitnehmer als besonders schutzwürdig anzusehen. Hier ist die Gefahr einer Einschränkung oder eines Verlustes der bestehenden Mitbestimmungsrechte größer, als bei Gründung einer SE im Rahmen der sonstigen Gründungsvarianten. Daher spielt hier der Schutz der Arbeitnehmer vor dem Verlust bereits bestehender Rechte eine besondere Rolle. Dieser Schutz wird durch das „Vorher–Nachher–Prinzip″ als eines der wichtigsten Grundprinzipien der Arbeitnehmerbeteiligung bei der Gründung einer SE gewährleistet.
Die von den LG München I und LG Frankfurt vertretene Auffassung berücksichtigt das „Vorher-Nachher-Prinzip“ bei der Gründung einer SE nicht ausreichend. Wenn die Arbeitnehmer das Recht haben, eine Mitbestimmung im Aufsichtsrat durchzusetzen (so ist die Lage bei der Aktiengesellschaft), dann werden sie in ihren Rechten beschränkt, wenn nach der Umwandlung in der SE keine Mitbestimmung im Aufsichtsrat mehr ausgeübt werden kann. Dem steht die Möglichkeit des Statusverfahrens nicht entgegen. Das Statusverfahren ermöglicht es, den mitbestimmungsrechtlichen Status einer Gesellschaft rechtskräftig festzustellen. Wenn aber bei der bisherigen Aktiengesellschaft von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht wurde, kann das nicht bedeuten, dass Arbeitnehmerbeteiligungsrechte bei der Umwandlung in eine SE entfallen können. Das Statusverfahren dient nur der Rechtssicherheit; die Mitbestimmungsrechte bestehen aber materiell auch ohne ihre Feststellung. Sie stehen den Arbeitnehmern zu und würden beseitigt, wenn man – wie es die Landgerichte tun – allein auf die praktizierte Mitbestimmung abstellte. Die Arbeitnehmer würden Rechte verlieren, die ihnen vor der Umwandlung in die SE zustanden, auch wenn sie noch nicht ausgeübt wurden. Genau dieser Rechtsverlust soll aber durch das „Vorher–Nachher–Prinzip″ als Vergleich von Arbeitnehmerrechten verhindert werden.
Auch das SEBG muss für die Frage der Mitbestimmung bei Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft beachtet werden
Der Wortlaut der gesetzlichen Regelungen in den §§ 34 Abs. 1 Nr. 1, § 35 SEBG und § 20 Abs. 6 SEBG sprechen ebenfalls gegen die Auffassung der Landgerichte.
Danach bleibt in der SE bei einer Umwandlung die Mitbestimmung erhalten, die in der Gesellschaft vor der Umwandlung „bestanden hat″ (§ 35 Abs. 1 SEBG) bzw. deren „Bestimmungen galten″ (§ 34 Abs. 1 Nr. 1 SEBG). Bei Abschluss einer Beteiligungsvereinbarung kommt es nach § 21 Abs. 6 SEBG auf die Mitbestimmung an, die vor der Umwandlung in der umzuwandelnden Gesellschaft „besteht″. Auch ohne Statusverfahren bestanden bei der AG vor der Umwandlung in die SE die Mitbestimmungsrechte; sie hätten lediglich umgesetzt werden müssen. Das wäre bei Zugrundelegung der Auffassung der Landgerichte in der späteren SE nicht mehr möglich.
Die Entscheidung des OLG Frankfurt: Bei der SE-Gründung durch Umwandlung muss die Mitbestimmung im Unternehmen mindestens so umfangreich sein wie zuvor
Zunächst führt das OLG Frankfurt aus, dass schon der Wortlaut im SEGB für dessen Rechtsansicht spreche. Die §§ 34 Abs. 1 und 35 SEBG ordnen die Fortgeltung der „Regelungen“, die „bestanden“ haben beziehungsweise der zuvor „geltenden Bestimmungen“ an. Damit seien die jeweils geltenden Rechtsnormen gemeint.
Insbesondere spreche für diese Position aber der Sinn und Zweck der Vorschrift. Denn bei der SE-Gründung durch Umwandlung sollen die von den Arbeitnehmern erworbenen Rechte auch nach dem Rechtsformwechsel erhalten bleiben (§ 1 Abs. 1 S. 2 SEBG sowie Erwägungsgrund Nr. 18 der SE-RL). Als „erworbene Rechte“ seien alle Rechte anzusehen, die den Arbeitnehmern zustehen und zwar auch dann, wenn sie diese noch nicht tatsächlich geltend gemacht haben, so also auch die Einrichtung eines mitbestimmten beziehungsweise paritätisch besetzten Aufsichtsrats bei Überschreitung der Grenzwerte.
Außerdem sei auch bereits die Möglichkeit, die vom rechtlichen Soll-Zustand abweichende Praxis im Unternehmen mittels eines Statusverfahrens zu korrigieren, als „erworbenes Recht“ anzusehen, was den Arbeitnehmern bei Zementierung der tatsächlichen Handhabung verloren ginge.
Praxis kann sich an Beschluss des OLG Frankfurt bei Fragen zur Mitbestimmung orientieren
Der Entscheidung des OLG Frankfurt ist zuzustimmen. Wie dargestellt, verlangt der Erwägungsgrund Nr. 18 der SE-RL, dass Rechte der Arbeitnehmer bei der SE-Gründung nicht verloren gehen dürfen. Darauf stellt das OLG zutreffend ab. Die Begründung des OLG ist sorgfältig und umfassend; das Ergebnis ist zutreffend. Die Praxis hat sich an diesem Beschluss bis auf Weiteres zu orientieren.