18. Dezember 2020
Gesamtschutz Zeitarbeitnehmer Däubler Kampagne
Arbeitsrecht

Über Erfurt nach Luxemburg: Europarechtskonformität der gesetzlichen Bestimmungen zur Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz?!

Der EuGH wird darüber entscheiden, ob die gesetzlichen Regelungen, durch die von dem in der Zeitarbeit geltenden Gleichstellungsgrundsatz abgewichen werden kann, europarechtskonform sind.

In arbeitsrechtlicher Hinsicht könnte das Jahr 2020 aus Sicht der Zeitarbeitsbranche grundsätzlich als „unauffällig″ bezeichnet werden, wenn nicht am 16. Dezember 2020 beim BAG Urteile über die sog. Däubler-Kampagne angestanden hätten.

Bekanntermaßen ist gesetzlich geregelt, dass durch Tarifverträge der grundsätzlich ab dem ersten Einsatztag geltende Gleichstellungsgrundsatz abbedungen werden kann. Für equal pay gilt dies nur einschränkend: Eine abweichende Bezahlung der Zeitarbeitnehmer durch Tarifvertrag ist nur für die ersten neun Monate des Einsatzes bei einem Kunden zulässig; im Anschluss gilt zwingend die Gleichstellung hinsichtlich des Entgelts mit einem im Betrieb vergleichbaren Stammbeschäftigten. 

Däubler-Kampagne: Die gesetzlichen Bestimmungen zur Abweichung vom equal pay-Grundsatz sollen gegen Europarecht verstoßen

Eine Rückausnahme lässt der Gesetzgeber allerdings zu, wenn und soweit ein Branchenzuschlagstarifvertrag einschlägig ist (vgl. § 8 Abs. 2, 4 AÜG). Insbesondere durch eine von Herrn Prof. Däubler unterstützte Kampagne wird in Abrede gestellt, dass diese gesetzliche Konstruktion mit europarechtlichen Vorgaben aus der Zeitarbeitsrichtlinie in Einklang stehe, da die Tarifparteien nach den dortigen Bestimmungen lediglich ermächtigt würden, „unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern″ Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu vereinbaren, die vom Gleichbehandlungsgrundsatz abwichen. 

Dieser Gesamtschutz werde aber – so das wesentliche Argument der Däubler-Kampagne – nicht gewahrt, da die Tarifverträge der Zeitarbeit nur zu Lasten der überlassenen Arbeitnehmer von dem gesetzlichen Niveau abwichen. Das sei aber gerade nicht der von der Richtlinie verlangte „Gesamtschutz″. 

Gerichte halten Abweichung vom equal pay-Grundsatz für rechtmäßig

Die Arbeitsgerichte folgten dieser Argumentation nicht, sondern bestätigten vielmehr die Wirksamkeit und damit die Europarechtskonformität von § 8 Abs. 2, 4 AÜG (vgl. LAG Baden-Württemberg, Urteil v. 6. Dezember 2018 – 14 Sa 27/18; dazu: Bissels/Falter, jurisPR-ArbR 18/2019 Anm. 4; LAG Nürnberg, Urteil v.7. März 2019 – 5 Sa 230/18; LAG Nürnberg, Urteil v. 20. Februar 2019 – 2 Sa 402/18). 

Dass die Reise nach Erfurt gehen würde, war klar. Am 16. Dezember 2020 war es soweit. Der 5. Senat hat in einer Revision den EuGH im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV angerufen (Az. 5 AZR 143/19 (A); Vorinstanz: LAG Nürnberg, Urteil v. 7. März 2019 – 5 Sa 230/18). 

BAG ruft EuGH an, um Klärung hinsichtlich des „Gesamtschutzes″ von Zeitarbeitnehmern herbeizuführen

In der dazu vom BAG veröffentlichten Pressemitteilung wird zum Anlass der Vorlage ausgeführt, dass Art. 5 Abs. 1 der Zeitarbeitsrichtlinie vorsieht, dass die wesentlichen Arbeits- und Beschäf­tigungsbedingungen der Zeitarbeitnehmer während der Dauer ihrer Überlassung an ein ent­leihendes Unternehmen mindestens denjenigen entsprechen müssen, die für sie gelten wür­den, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären (Grundsatz der Gleichbehandlung). Allerdings gestattet Art. 5 Abs. 3 der genannten Richtlinie den Mitgliedsstaaten, den Sozialpartnern die Möglichkeit ein­zuräumen, Tarifverträge zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Zeitarbeit­nehmern beim Arbeitsentgelt und den sonstigen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen. 

Eine Definition des „Gesamtschutzes″ ent­hält die Richtlinie hingegen nicht, sein Inhalt und die Voraussetzungen für seine „Achtung″ sind im Schrifttum umstritten. Zur Klärung der im Zusammenhang mit der von Art. 5 Abs. 3 der Richt­linie 2008/104/EG verlangten Achtung des Gesamtschutzes von Zeitarbeitnehmern aufge­worfenen Fragen hat der 5. Senat den EuGH um eine Vorabentscheidung ersucht und den Rechtsstreit zunächst ausgesetzt. Diese sind umfangreich und befassen sich insbesondere damit, wie der Begriff des „Gesamtschutzes von Zeitarbeitnehmern″ definiert wird und ob die nationalen Gerichte Tarifverträge, durch die vom Grundsatz der Gleichbehandlung abgewichen werden kann, mit Blick auf die „Autonomie der Sozialpartner″ nur beschränkt überprüfen können.

Vorschau: Europarechtswidrigkeit der Abweichung vom equal pay-Grundsatz könnte zu Nachforderungen der Zeitarbeitnehmer und der DRV führen

Der von dem BAG beschrittene Weg war wegen der unzweifelhaft bestehenden europarechtlichen Bezüge und Fragen vorprogrammiert und absehbar, aber wie geht es nun weiter? Mit einer Entscheidung des EuGH dürfte ggf. noch im Jahr 2021, spätestens aber im ersten Halbjahr 2022 gerechnet werden. Inhaltlich ist es allerdings nahezu unmöglich, seriös vorherzusagen, wie der EuGH die Fragen des BAG inhaltlich beantworten wird. Sollten die Bestimmungen nach § 8 AÜG nicht europarechtskonform ausgelegt werden können oder diese sogar europarechtswidrig sein, wäre mangels einer wirksamen gesetzlichen Rechtsgrundlage der Gleichstellungsgrundsatz nicht wirksam ausschließbar. Damit stünde fest, dass das von der Überlassungsbranche flächendeckend gelebte Modell der Abbedingung des Gleichstellungsgrundsatzes durch die Anwendung der Tarifverträge der Zeitarbeit nicht belastbar ist. 

Dies bedeutet, dass Zeitarbeitnehmer die jeweiligen Personaldienstleister auf Grundlage der Entscheidung des BAG auf eine Gleichstellung (u.a. hinsichtlich des Entgelts) ab dem ersten Tag des Kundeneinsatzes (und nicht erst nach dem vollendeten 9. Einsatzmonat) in Anspruch nehmen können (auch für Zeiträume, die vor der Entscheidung des BAG liegen); freilich werden Nachzahlungsansprüche in diesem Fall durch Ausschlussfristen begrenzt, die in jedem Arbeitsvertrag – unabhängig von der Inbezugnahme von Tarifverträgen – konstitutiv vereinbart worden sein sollten. 

Die möglicherweise zu erwartende Entscheidung zeigt auf, wie wichtig die „richtige″ und „optimale″ Gestaltung der mit den Zeitarbeitnehmern geschlossenen Arbeitsverträge ist. Ein Blick auf diese lohnt sich folglich!

Weitaus problematischer ist, dass die DRV im Rahmen von Prüfungen – unabhängig von etwaig geltend gemachten einzelvertraglichen Ansprüchen auf die Gewährung von equal pay – auf dieser Grundlage errechnete Sozialversicherungsbeiträge nachverlangen kann. Die Nachforderung bezieht sich auf die gesamte betroffene Population für mindestens die letzten vier (bei einem bedingten Vorsatz sogar dreißig) zurückliegenden Kalenderjahre. Wie bei der CGZP wird sich bei einer Inanspruchnahme die Frage stellen, ob die Personaldienstleister Vertrauensschutz in Anspruch nehmen können – diesmal gerichtet auf eine vermeintlich wirksame gesetzliche Bestimmung. 

Fraglich ist allerdings, wie hoch der „Verfolgungswille″ sein wird. In der Zeitarbeitsbranche hat sich nämlich seit der CGZP-Entscheidung vor 10 Jahren – und zwar im positiven Sinne – viel getan. Dies gilt sowohl für die tarifvertraglichen als auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen, denen die Zeitarbeit unterworfen ist.

Kundenunternehmen werden sich auf mögliche Subsidiärhaftung vorbereiten

Darüber hinaus dürfte zu erwarten sein, dass die Kundenseite reagieren und Vorkehrungen treffen wird, um sich für das dargestellte (mögliche) Szenario zu rüsten. Sollten – analog zur CGZP – flächendeckende Sonderprüfungen der DRV durchgeführt werden oder sollte dies zumindest nicht als unwahrscheinlich anzusehen sein, dürfte dies die wirtschaftliche Existenz zahlreicher Personaldienstleister bedrohen. 

Um bei einer dann in Betracht kommenden Subsidiärhaftung (§ 28e Abs. 2 SGB IV) gewappnet zu sein, könnten Kundenunternehmen geneigt sein, die Zügel straffer zu ziehen – sei es, dass im Rahmen des Auswahlprozesses der zu beauftragenden Personaldienstleister wirtschaftlich weniger potente oder potent scheinende Zeitarbeitsunternehmen von vornherein „aussortiert″ werden, oder sei es, dass sich Kunden zumindest vertraglich gegen eine ggf. drohende Inanspruchnahme durch die Sozialversicherungsträger absichern, insbesondere durch ein vertraglich vereinbartes Zurückbehaltungsrecht bei der Überlassungsvergütung oder durch die Gewährung von für die Personaldienstleister teuren Bankbürgschaften.

Bei weiteren Verfahren im Zusammenhang mit der Däubler-Kampagne musste das BAG die Europarechtskonformität von § 8 Abs. 2, 4 AÜG nicht prüfen

Am Rande, aber gleichsam wichtig: In zwei weiteren Verfahren vor dem BAG in Zusammenhang mit der Däubler-Kampagne hat der 5. Senat am 16. Dezember 2020 hingegen durchentschieden. Eine Revision wurde zurückgewiesen (Az. 5 AZR 22/19; Vorinstanz: LAG Baden-Württemberg, Urteil v. 6. Dezember 2018 – 14 Sa 27/18; dazu: Bissels/Falter, jurisPR-ArbR 18/2019 Anm. 4). Dem geltend gemachten equal pay-Anspruch standen Ausschlussfristen entgegen, so dass es auf die Europarechtskonformität von § 8 Abs. 2, 4 AÜG nicht mehr ankam.

Einer Revision wurde teilweise stattgegeben (Az. 5 AZR 131/19; Vorinstanz: LAG Nürnberg, Urteil v. 20. Februar 2019 – 2 Sa 402/18). Auch hier spielten europarechtliche Erwägungen keine Rolle mehr, da der Gleichstellungsgrundsatz bereits aufgrund der vom BAG erst im Jahr 2019 entwickelten Rechtsprechung (BAG, Urteil v. 16. Oktober 2019 – 4 AZR 66/18; ausführlich dazu: Bissels, NZA 2020, 427 ff.) nicht wirksam abbedungen worden ist. Das einschlägige Tarifwerk für die Arbeitnehmerüberlassung wurde aufgrund arbeitsvertraglicher Modifikationen von tariflichen Arbeitsbedingungen bereits nicht vollständig angewendet. Dies ist nach Ansicht des BAG für den Ausschluss der Gleichstellung nicht ausreichend. Insbesondere die hier zuletzt genannte Entscheidung sollte im Zweifel einen hinreichenden Anlass bieten, die bislang von dem Personaldienstleister verwendeten Arbeitsverträge, selbst wenn diese im Nachgang zur Entscheidung des 4. Senats vom 16. Oktober 2019 überarbeitet und angepasst worden sind, einer ergänzenden Überprüfung zu unterziehen, um verbleibende Abweichungen von den Tarifverträgen der Zeitarbeit aus den Musterverträgen „herauszufiltern″. 

Dies gilt im Übrigen unabhängig davon, wie der EuGH die Vorlage des BAG entscheiden wird, da die Rechtsprechung des BAG vom 16. Oktober 2019 schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt zur Herleitung von equal pay-Ansprüchen herangezogen werden kann.

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