23. April 2020
Handlungspflicht Zeiterfassung
Arbeitsrecht

Unmittelbare Handlungspflicht für Unternehmen in Sachen Zeiterfassung

Arbeitsgericht Emden: Arbeitgeber sind bereits jetzt unmittelbar zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Zeiterfassungssystems verpflichtet.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat bereits am 14. Mai 2019 entschieden, dass die Mitgliedsstaaten der EU Arbeitgeber zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit der Mitarbeiter* verpflichten müssen. Doch was bedeutet dies für Unternehmen? Ist eine Umsetzung der unionsrechtlichen Entscheidung durch den Gesetzgeber abzuwarten oder müssen Arbeitgeber bereits jetzt tätig werden?

Das Arbeitsgericht Emden hat nunmehr als – soweit ersichtlich – erstes deutsches Gericht zu der Frage Stellung genommen. Mit Urteil vom 20. Februar 2020 (Az. 2 Ca 94/19) hat es entschieden, dass Arbeitgeber bereits jetzt unmittelbar zur Einrichtung eines entsprechenden Zeiterfassungssystems verpflichtet seien, ohne dass es dafür einer Umsetzung des EuGH-Urteils in deutsches Recht bedürfe.

Bisher keine allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung in Deutschland

Eine allgemeine Aufzeichnungspflicht von Arbeitsstunden findet sich im deutschen Recht bislang nicht. Gemäß § 16 Abs. 2 S. 1 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) sind Arbeitgeber lediglich verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit – also Überstunden, Mehrarbeit sowie Sonn- und Feiertagsarbeit – entsprechend zu erfassen.

Arbeitsgericht Emden: Arbeitgeber trifft unmittelbare Pflicht zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Zeiterfassungssystems

Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Emden ergibt sich die Verpflichtung zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit jedoch unmittelbar aus den unionsrechtlichen Vorschriften. Insbesondere Art. 31 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (GRCh) gewähre jedem Arbeitnehmer der EU das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten. Dieses Grundrecht werde nach der Rechtsprechung des EuGH durch die Regelungen der EU-Arbeitszeitrichtlinie (Art. 3, 5 und 6 der Richtlinie 2003/88/EG) konkretisiert. Gewährleistet werden könne die Einhaltung der Arbeitszeitregeln jedoch nur bei einer vollständigen Erfassung der täglichen und wöchentlichen Arbeitsstunden sowie deren Lage (vgl. EuGH, Urteil v. 14. Mai 2019 – C-55/18). Zudem – so die Begründung des Arbeitsgerichts – habe der EuGH auch hinsichtlich des ebenfalls in Art. 31 Abs. 2 GRCh normierten Rechts auf bezahlten Jahresurlaub einen unmittelbaren Anspruch des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber ausdrücklich bejaht (vgl. EuGH, Urteil v. 6. November 2018 – C-569/16, C-570/16).

Die Verpflichtung zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit treffe den Arbeitgeber daher ebenfalls unmittelbar. Dies bedeutet nach Ansicht des Arbeitsgerichts Emden, dass Arbeitnehmer bereits jetzt einen entsprechenden Anspruch gegen ihren Arbeitgeber haben, ohne dass es dafür einer richtlinienkonformen Auslegung des § 16 Abs. 2 ArbZG oder einer konkreten Umsetzung des EuGH-Urteils durch den deutschen Gesetzgeber bedürfe. Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Emden handelt es sich dabei vielmehr um eine vertragliche Nebenpflicht des Arbeitgebers aus § 241 Abs. 2 BGB, wonach die Arbeitsvertragsparteien zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des jeweils anderen Vertragsteils verpflichtet sind.

Das Arbeitsgericht Emden ist damit der Ansicht, dass Arbeitgeber bereits seit der Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019 zur Einrichtung eines entsprechenden Zeiterfassungssystems verpflichtet sind. Doch was hatte dies im konkret zu entscheidenden Fall für Folgen?

Hintergrund der Entscheidung: Vergütung eigens notierter Arbeitsstunden gefordert

In dem zugrunde liegenden Verfahren war der Kläger im Jahr 2018 mehrere Wochen lang als Bauhelfer für den Beklagten tätig. Nachdem das Arbeitsverhältnis geendet und der Beklagte bereits 183 Arbeitsstunden vergütet hatte, machte der Kläger u.a. weitere Vergütungsansprüche gerichtlich geltend. Dabei legte er eine eigens erstellte Übersicht und sog. „Stundenrapporte“ vor und behauptete, insgesamt 195,05 Arbeitsstunden für den Beklagten geleistet zu haben. Dem gegenüber legte der Beklagte zum Nachweis das Bautagebuch vor, welches stets Arbeitsbeginn und Arbeitsende dokumentiert habe und eine Arbeitsleistung von insgesamt lediglich 183 Stunden auswies.

Abgestufte Darlegungs- und Beweislast: Bautagebuch zur Zeiterfassung ungeeignet

Das Arbeitsgericht Emden hat der Klage hinsichtlich der geltend gemachten Vergütungsansprüche mit Bezug auf die Darlegungs- und Beweislast stattgegeben. Das Gericht stützt sich dabei auf die in Vergütungsprozessen bestehende sog. abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Danach müsse zunächst der Arbeitnehmer vortragen, an welchen Tagen und zu welchen Zeiten er für den Arbeitgeber tätig geworden sei. Sofern der Arbeitnehmer dies vortrage, obliege es sodann dem Arbeitgeber, sich substantiiert zu dem Vortrag des Arbeitnehmers zu äußern und darzulegen, welche Arbeiten dem Arbeitnehmer konkret zugewiesen worden seien und an welchen Tagen dieser den Weisungen (ggf. nicht) nachgekommen sei. Sofern der Arbeitgeber dieser Obliegenheit nicht nachkomme, gelte der Vortrag des Arbeitnehmers (unabhängig von dessen Richtigkeit) als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO).

Im vorliegenden Fall sei der Kläger seiner Darlegungslast auf der ersten Stufe durch die Vorlage von Eigenaufzeichnungen hinreichend nachgekommen. Nach Auffassung des Arbeitsgerichts sei der Beklagte dem Vortrag des Klägers auf der zweiten Stufe nicht ausreichend entgegengetreten. Dies beruhe darauf, dass das vorgelegte Bautagebuch kein objektiv verlässliches Zeiterfassungssystem darstelle. Die Einträge in das Bautagebuch seien insbesondere ungeeignet, zu belegen, welche Arbeiten der Beklagte dem Kläger zugewiesen habe und an welchen Tagen dieser den Weisungen konkret nachgekommen (nicht) sei. Der Beklagte habe daher gegen seine Verpflichtung aus Art. 31 Abs. 2 GRCh verstoßen.

Oder mit anderen Worten: Kommt der Arbeitgeber der Verpflichtung zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit im Sinne der EuGH-Rechtsprechung nicht nach, läuft er Gefahr, in Vergütungsprozessen in Beweisnot zu geraten.

Hinweis für die Praxis: Rechtsunsicherheit über konkrete Ausgestaltung der Zeiterfassung bleibt bestehen

Die Rechtsprechung hat sich damit erstmals zu Gunsten einer unmittelbaren Verpflichtung der Arbeitgeber in Sachen Zeiterfassung ausgesprochen, so dass für Unternehmen ein dringender Handlungsbedarf besteht.

Auch wenn es vorliegend „nur“ um einen durch den Arbeitnehmer geltend gemachten Vergütungsanspruch ging, ist damit zu rechnen, dass Arbeitnehmer sich auf diese Entscheidung und sie ggf. als „Druckmittel“ gegenüber ihren Arbeitgebern nutzen werden.

Offen gelassen hat das Arbeitsgericht Emden – ebenso wie der EuGH – die Frage wie das Zeiterfassungssystem konkret ausgestaltet sein muss. Unternehmen sind daher weiterhin im Unklaren darüber, wie sie sich bestmöglich auf die Umsetzung des EuGH Urteils vorbereiten und wie sie bestehende Systeme anpassen oder neue Systeme implementieren sollten.

Im Hinblick auf Vergütungsprozesse sind Unternehmen aber bereits gegenwärtig wohl gut beraten, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter möglichst konkret zu erfassen, um im Streitfall ihrer Darlegungs- und Beweislast nachkommen zu können. Hierbei stellen sich natürlich entsprechende „Konflikte“, wenn im Unternehmen gegenwärtig in etwa Vertrauensarbeit besteht. Diese Konflikte werden sich aber ohnehin stellen, wenn der nationale Gesetzgeber die Rechtsprechung des EuGH umsetzt. Insofern könnten Unternehmen die gegenwärtig oftmals bestehenden „Auftragslücken“ und die dadurch entstehenden Kapazitäten nutzen, um sich hier bestmöglich aufzustellen.

*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Arbeitszeit Arbeitszeiterfassung Handlungspflicht System Zeiterfassung

Isabel Meyer-Michaelis