Eine Entscheidung des LAG Baden-Württemberg sorgt gegenwärtig für Aufregung. Danach soll die verlängerte Überlassungshöchstdauer des TV LeiZ nur gelten, wenn der überlassene Zeitarbeitnehmer Mitglied in der IG Metall ist.
Die gesetzliche Überlassungsdauer von 18 Monaten ist tarifdisponibel, d.h. diese kann durch einen Tarifvertrag der Einsatzbranche verlängert oder aber auch verkürzt werden (§ 1 Abs. 1b S. 3 AÜG). Nicht tarifgebundene Unternehmen können die tariflichen Regelungen durch eine Betriebsvereinbarung übernehmen, sprich abschreiben (§ 1 Abs. 1b S. 4 AÜG).
In § 1 Abs. 1b S. 5, 6 AÜG sind weitere gesetzliche Bestimmungen vorgesehen, die eine abweichende Überlassungshöchstdauer durch eine Betriebsvereinbarung zulassen, wenn und soweit dies durch einen Tarifvertrag zugelassen worden ist. In der Metall- und Elektrobranche ist in den verschiedenen Tarifgebieten der sog. TV LeiZ abgeschlossen worden, der die Überlassungshöchstdauer von 18 auf 48 Monate verlängert.
LAG Baden-Württemberg: Zeitarbeitnehmer muss Mitglied der IG Metall sein, damit die in TV LeiZ verlängerte Überlassungshöchstdauer gilt
Mit der durch den TV LeiZ verlängerten Überlassungshöchstdauer musste sich jüngst das LAG Baden-Württemberg befassen: Die Abweichung in TV LeiZ könne nur Geltung beanspruchen, wenn der in dem Kundenbetrieb eingesetzte Zeitarbeitnehmer* Mitglied der IG Metall ist und damit zwischen diesem und dem Einsatzunternehmen eine kongruente Tarifbindung besteht, die sich auch auf den TV LeiZ erstreckt (vgl. Urteil v. 2. Dezember 2020 – 4 Sa 16/20; vorgehend und eine abweichende Ansicht vertretend: ArbG Stuttgart, Urteil v. 20. Februar 2020 – 22 Ca 4567/19).
Dies war in dem konkreten Sachverhalt jedoch nicht der Fall. Mangels wirksamer (tariflicher) Verlängerung der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer sei – so das Gericht – ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Kunden und dem Zeitarbeitnehmer fingiert worden.
Leiharbeitnehmer klagte erfolgreich gegen Überschreitung der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer
Der klagende Mitarbeiter wurde im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung durchgehend und ununterbrochen von 31. März 2014 bis 31. Mai 2019 als Zeitarbeitnehmer an die Beklagte überlassen, die Mitglied im Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg (Südwestmetall) ist. Der Kläger ist nicht Mitglied der IG Metall.
Auf Grundlage des TV LeiZ schloss die Beklagte mit deren Gesamtbetriebsrat am 20.09.2017 eine Gesamtbetriebsvereinbarung, in der es u.a. heißt:
Höchstdauer der Einsätze von Zeitarbeitnehmern
Der Einsatz von Zeitarbeitnehmern im direkten Bereich (Produktion) darf eine Höchstdauer von 36 Monaten nicht überschreiten. Für Zeitarbeitnehmer, die am 01.04.2017 bereits beschäftigt waren, zählen für die Überlassungshöchstdauer von 36 Monaten Einsatzzeiten ab dem 01.04.2017. […].
Der Kläger vertrat die Auffassung, wegen Überschreitens der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten sei zwischen ihm und der Beklagten ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen.
Dem stimmte das LAG Baden-Württemberg zu. Der Arbeitsvertrag zwischen dem Kläger und dem Personaldienstleister, der über eine Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis verfüge, sei nach Ablauf des 30. September 2018 unwirksam geworden; gem. § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG sei ein Arbeitsverhältnis zu der Beklagten zustande gekommen.
Die Leitsätze des Urteils der 4. Kammer des LAG Baden-Württemberg lauten wie folgt:
§ 1 Abs. 1b AÜG eröffnet den Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche, durch Tarifvertrag abweichende Regelungen zur Überlassungshöchstdauer gem. § 1 Abs. 1b S. 1, 1. Halbs. AÜG zu treffen sowie Abweichungen zur Einsatzdauer gem. § 1 Abs. 1b S. 1, 2. Halbs. AÜG.
Machen die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche von der Möglichkeit des § 1 Abs. 1b S. 3 AÜG vollumfänglich Gebrauch, sind die Regelungen zur Einsatzdauer im Einsatzbetrieb des Entleihers bloße Betriebsnormen. Die Regelungen zur Überlassungshöchstdauer sind jedoch Inhaltsnormen.
Durch bloße Betriebsnormen für die Betriebe der Einsatzbranche wird ohne ergänzende Regelung zur Überlassungshöchstdauer im Verleihverhältnis kein bloßer Reflex mit mittelbarer Wirkung für das Verleihverhältnis geschaffen.
Nr. 2.3 des von Südwestmetall und der IG Metall, Bezirk Baden-Württemberg abgeschlossenen Tarifvertrags Leih-/Zeitarbeit (TV LeiZ), mit welcher die Höchstdauer eines Einsatzes von Leiharbeitnehmern auf 48 Monate angehoben wurde, vermag deshalb für Nichtmitglieder der IG Metall eine Abweichung von der Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten gem. § 1 Abs. 1b S. 1, 1. Halbs. AÜG nicht zu bewirken.
Urteil des LAG Baden-Württemberg überzeugt nicht: Gesetzgeber wollte tarifliche Überlassungshöchstdauer auch für Leiharbeitnehmer gelten lassen
Richtig ist zwar, dass in § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG zwei Pflichten gesetzlich adressiert werden, nämlich zum einen an den Personaldienstleister, einen Zeitarbeitnehmer nicht länger als 18 Monate zu überlassen, und zum anderen an den Kunden, einen Zeitarbeitnehmer nicht länger als 18 Monate tätig werden zu lassen. In der Folge geht der Gesetzgeber aber von einer einheitlichen Überlassungsdauer aus.
In § 1 Abs. 1b S. 3 AÜG ist ausdrücklich geregelt, dass in einem Tarifvertrag der Einsatzbranche eine von § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG abweichende Überlassungshöchstdauer festgelegt werden kann. Der Gesetzgeber differenziert nicht zwischen den in § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG geregelten Pflichten und bringt damit zum Ausdruck, dass die (tarifliche) Überlassungshöchstdauer uneingeschränkt für den Kunden, den dort eingesetzten Zeitarbeitnehmer und den Personaldienstleister Geltung beanspruchen soll, ohne dass es auf die Tarifbindung des Zeitarbeitnehmers ankommt. Dafür spricht der Sinn und Zweck des Gesetzes, der Eingang in den Gesetzesbegründung gefunden hat, nämlich dass durch eine (tarifliche) Überlassungshöchstdauer einer dauerhaften Substitution von Stammbeschäftigten entgegengewirkt werden soll; zudem sollen Zeitarbeitnehmer durch einen klar abgegrenzten Zeitrahmen bei einer möglichen Überlassung geschützt werden. Diese Konzeption würde aber konterkariert, wenn und soweit die Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche zwar eine tarifliche Überlassungshöchstdauer regeln können, diese aber zusätzlich noch auf eine entsprechende Tarifbindung des Zeitarbeitnehmers abstellen würde, um diese (wirksam) zur Anwendung bringen zu können.
Die von der 4. Kammer des LAG Baden-Württemberg entwickelte Argumentation wirkt vor diesem Hintergrund juristisch „vergeistig″ und von den tatsächlichen Gegebenheiten und Erfordernissen entkoppelt. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass dem Gesetzgeber bei der Schaffung von § 1 Abs. 1b AÜG sehr wohl bekannt gewesen ist, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad von Zeitarbeitnehmern gering ist. Es ist aber zu unterstellen, dass der Gesetzgeber keine gesetzliche Regelung schaffen wollte, die de facto leerläuft, weil ein in der Einsatzbranche geschlossener Tarifvertrag mit einer verlängerten Überlassungshöchstdauer gem. § 1 Abs. 1 S. 3 AÜG auf den weit überwiegenden Teil der überlassenen Zeitarbeitnehmer nicht anwendbar wäre.
Fehlende Tarifbindung des Kunden würde zu einer Besserstellung führen
Darüber hinaus führt die Auslegung der 4. Kammer des LAG Baden-Württemberg zu Friktionen mit der gesetzlichen Bestimmung in § 1 Abs. 1b S. 4 AÜG. Dort ist vorgesehen, dass ein (persönlich, räumlich, sachlich und inhaltlich) einschlägiger Tarifvertrag (bei einer unterstellten Tarifbindung) durch eine Betriebsvereinbarung beim Kunden übernommen, sprich abgeschrieben werden kann. Dieser muss allerdings selbst nicht tarifgebunden sein; ausreichend ist, dass eine Überlassung in einen Betrieb der M+E-Branchen erfolgt. Über § 1 Abs. 1b S. 4 AÜG wäre eine Überlassungshöchstdauer von bis zu 48 Monaten folglich möglich, wenn eine entsprechende Betriebsvereinbarung abgeschlossen wird.
Da eine Tarifbindung des Kunden nicht maßgeblich ist, darf es folglich nicht drauf ankommen, ob der Zeitarbeitnehmer Mitglied der IG Metall ist. Dies hätte zur Folge, dass eine fehlende Tarifbindung des Kunden zu einer Besserstellung führt, da die per Betriebsvereinbarung (nur auf Grundlage des TV LeiZ) vorgesehene Überlassungshöchstdauer nunmehr auch auf nicht tarifgebundene Zeitarbeitnehmer erstreckt werden kann. Dass der Gesetzgeber aber Unternehmen wegen der Tarifbindung benachteiligen wollte, ist tatsächlich nur schwerlich vorstellbar und dürfte mit verfassungsrechtlichen Erwägungen (Art. 9 Abs. 3 GG: Koalitionsfreiheit) nicht in Einklang stehen.
Bei § 1 Abs. 1 S. 3 AÜG handelt es sich um eine Betriebsnorm
Es können folglich überzeugende Gründe dafür angeführt werden, dass eine in der Einsatzbranche tariflich geltende Überlassungsdauer einheitlich für den Kunden, für den Personaldienstleister und für den Zeitarbeitnehmer zur Anwendung kommt, ohne dass dafür eine Mitgliedschaft des Letztgenannten in der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft entscheidend ist. Bei § 1 Abs. 1 S. 3 AÜG handelt es sich folglich um – wie von der herrschenden Meinung vertreten – eine Betriebs- und nicht um eine Inhaltsnorm.
Abgesehen davon ist darauf hinzuweisen, dass die von der 4. Kammer vertretene Ansicht von der in Zusammenhang mit der Auslegung und Anwendung des TV LeiZ in einem vergleichbaren Fall entwickelten Auffassung der 21. Kammer des LAG Baden-Württemberg abweicht (Urteil v. 18. November 2020 – 21 Sa 12/20), nach der es sich bei der tariflich angeordneten Überlassungshöchstdauer des TV LeiZ um eine Betriebsnorm handelt. Auf die Gewerkschaftszugehörigkeit des Zeitarbeitnehmers und die dadurch im Zweifel vermittelte, mit dem Kunden übereinstimmende Tarifbindung an den TV LeiZ, kommt es demnach nicht an.
Praxis muss sich auf erhöhte individualvertragliche Gefahrenlage einstellen
Aufgrund der hohen praktischen Relevanz des TV LeiZ und der in diesem vorgesehenen Verlängerung der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer dürfte von der Entscheidung der 4. Kammer des LAG Baden-Württemberg eine erhöhte individualvertragliche Gefahrenlage ausgehen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf den geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad bei Zeitarbeitnehmern, so dass die nach dem TV LeiZ verlängerte Überlassungshöchstdauer – zumindest nach Ansicht des LAG Baden-Württemberg – mangels Anwendbarkeit oftmals ins Leere läuft und entsprechende Verstöße zu einem fingierten Arbeitsverhältnis zum Kunden führen dürften.
Darüber hinaus kann der Verstoß gegen die (gesetzliche) Überlassungshöchstdauer für den Personaldienstleister eine Ordnungswidrigkeit mit einem Bußgeldrahmen von bis zu EUR 30.000,00 darstellen (vgl. § 16 Abs. 1 Ziff. 1e, 1f, Abs. 2 AÜG); dieser riskiert darüber hinaus dessen Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis bei entsprechenden Pflichtverletzungen (§ 5 AÜG).
Bedauerlicherweise wird die Praxis (zumindest bis auf weiteres) mit den divergierenden Entscheidungen aus Baden-Württemberg leben müssen. Dies ist die Folge der verfassungsrechtlich geschützten richterlichen Unabhängigkeit. Es gibt keine Pflicht, sich bei einem Landesarbeitsgericht mit anderen Spruchkörpern über eine Rechtsfrage zu verständigen und diese einheitlich zu beantworten, bevor eine Entscheidung gefällt wird, selbst wenn dies wünschenswert ist und in der Praxis regelmäßig erfolgt. Rechtssicherheit wird folglich erst durch eine höchstrichterliche Entscheidung des BAG geschaffen werden können.
*Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.