24. November 2016
Zeitarbeit Minusstunden
Arbeitsrecht

Zeitarbeit: Minusstunden im Arbeitszeitkonto bei einsatzfreier Zeit

Ist der Personaldienstleister berechtigt, einsatzfreie Zeiten als Minusstunden auf das Guthaben im Arbeitszeitkonto des Zeitarbeitnehmers anzurechnen?

Trotz zahlreicher Entscheidungen der Instanzgerichte (zustimmend: Hess. LAG v. 09.06.2015 – 15 Sa 766/14) und auch des BAG (Urt. v. 16.04.2014 – 5 AZR 483/12) besteht weiterhin Streit über die Frage, ob Personaldienstleister berechtigt sind, einsatzfreie Zeiten als Minusstunden im Arbeitszeitkonto des Zeitarbeitnehmers anzurechnen. Jüngst hat das Hess. LAG in zwei Entscheidungen zum MTV BAP/DGB (im Folgenden: MTV) festgestellt, dass der Personaldienstleister dazu nicht berechtigt sein soll (Urt. v. 28.04.2016 – 9 Sa 1287/15; 9 Sa 1288/15). Die eingestellten Minusstunden müssen dem Zeitarbeitnehmer wieder gutgeschrieben werden.

Arbeitsvertrag enthält keine einseitige Befugnis zum Abzug

Das Hessische LAG stützt sich dabei maßgeblich darauf, dass der Arbeitsvertrag dem beklagten Personaldienstleister nicht die Befugnis einräume, Nichteinsatzzeiten als Abzugsposition im Arbeitszeitkonto zu verbuchen. Dort sei lediglich festgelegt worden, dass ein solches zum Ausgleich zwischen der vereinbarten und der tatsächlichen Arbeitszeit eingerichtet werde. Einzelheiten regele nach der Vereinbarung der MTV.

Dieser ermächtige die Beklagte ebenfalls nicht, Nichteinsatzzeiten einseitig als Abzugsposition im Arbeitszeitkonto zu verbuchen. Diese könne auch nicht damit gehört werden, dass es der erklärte Wille der Tarifvertragsparteien bei der Schaffung der Regelungen zu Arbeitszeitkonten gewesen sei, dem beschäftigungssichernden Aspekt (Abfedern von Spitzenzeiten mit Überstunden und Flexibilisierung der Arbeitszeit) Rechnung zu tragen.

Arbeitszeit im Kundenbetrieb maßgeblich zur Berechnung

Plusstunden seien die über die individuelle regelmäßige monatliche Arbeitszeit hinaus entstandenen Arbeitsstunden. Minusstunden (§ 4.3 S. 2 MTV) seien die unter der individuellen regelmäßigen monatlichen Arbeitszeit liegenden Arbeitsstunden. Verleihfreie Zeiten seien damit keine Minusstunden i.S.d. § 4.3 S. 2 MTV BAP/DGB.

Der Zweck des Arbeitszeitkontos sei nach § 4.2 MTV nur der Ausgleich von der vereinbarten individuellen regelmäßigen und der tatsächlichen Arbeitszeit. In dieses Zeitkonto könnten Plus- und Minusstunden eingestellt werden. Die tatsächliche Arbeitszeit sei in § 4.1 als Arbeitszeit bei dem jeweiligen Kundenbetrieb genannt.

Damit bestimme der MTV BAP/DGB, dass während der Fremdfirmeneinsätze die Arbeitszeit des Zeitarbeitnehmers der Arbeitszeit im Kundenbetrieb anzugleichen sei. Sofern diese länger oder kürzer als die vereinbarte individuelle regelmäßige Arbeitszeit ist, könnten Plus- und Minusstunden entstehen. Dass in das Arbeitszeitkonto derartige Plus- und Minusstunden eingestellt werden könnten, führe allerdings nicht dazu, dass einsatzfreie Zeiten zu Minusstunden würden.

Nichteinsatzzeiten wurden nicht ausdrücklich geregelt

Zur (einseitigen) Entnahme von Stunden für überlassungsfreie Zeiten schweige der MTV. Eine seltenere Konstellation der Freizeitentnahme im Falle der Kündigung werde hingegen ausdrücklich in § 9.6 MTV erwähnt. Dies bedeute, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch eine Alleinentscheidung einseitig nur mit den in § 9.6 MTV erwähnten Einschränkungen nach Ausspruch einer Kündigung unter Verrechnung mit Plusstunden freistellen könne. Der andere Fall der Nichteinsatzzeiten zwischen zwei Fremdfirmeneinsätzen, fände hingegen im MTV keine Erwähnung.

Keine Vereinbarung durch schlichtes Hinnehmen der Minusstunden

Soweit in § 4.5 MTV Möglichkeiten der Freizeitentnahme zum Ausgleich des Zeitkontos benenne, erforderten diese allesamt eine Vereinbarung oder das Verlangen des Zeitarbeitnehmers. Der „Normalfall“ des Ausgleichs der Zeitkonten, also des Abbaus des Guthabens, seien damit Freistellungen auf Wunsch des Mitarbeiters (vgl. § 4.5 MTV).

Eine der Regelung in § 4.5 MTV entsprechende Vereinbarung oder ein Verlangen der Klägerin auf Freizeitentnahme lägen aber nicht vor. Weder habe diese für die entsprechenden Zeiten Freizeit verlangt noch hätten die Parteien eine derartige (ausdrückliche oder konkludente) Vereinbarung geschlossen. Eine solche könne nicht aus der schlichten Hinnahme des Einstellens der Minusstunden bzw. einem Schweigen des Zeitarbeitnehmers abgeleitet werden. Vielmehr habe sich die Beklagte ausschließlich darauf berufen, dass sie nach den Bestimmungen im Arbeitsvertrag bzw. im MTV BAP/DGB berechtigt sei, das Arbeitszeitkonto mit Minusstunden aufgrund überlassungsfreier Zeiten zu belasten.

Arbeitgeber trägt Risiko der Nichtbeschäftigung

Nachdem das Hessische LAG weder aus dem Arbeits- noch aus dem Tarifvertrag eine entsprechende Befugnis ableiten kann, stellt das Gericht – insoweit nicht entscheidungstragend – darüber hinaus noch fest, dass Regelungen, die der Beklagten die Berechtigung einräumten, einsatzfreie Zeiten ohne Wunsch der Klägerin vom Arbeitszeitkonto in Abzug zu bringen, gem. § 134 BGB i.V.m. § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG unwirksam seien. Das Einstellen von Nichteinsatzzeiten als Minusstunden im Arbeitszeitkonto sei nichts anderes als eine Freistellung des Arbeitnehmers unter Verrechnung mit angesparten Plusstunden oder zu erarbeitenden Stunden.

Grundsätzlich habe der Arbeitgeber die Nichteinsatzzeiten zu vergüten, weil er sich in Annahmeverzug befinde. Die ungenutzte Arbeitszeit sei zu bezahlen. Nach § 615 BGB trage nämlich der Arbeitgeber grundsätzlich das Risiko, den Mitarbeiter nicht beschäftigen zu können. Könne der Arbeitgeber den Arbeitnehmer z.B. wegen Auftragsmangels nicht einsetzen, werde er nicht von seiner Leistungspflicht befreit. Der Arbeitgeber bleibe vielmehr zur Entgeltzahlung verpflichtet. Dies gelte – so das Hess. LAG – erst Recht im Bereich der Zeitarbeit.

Freistellung von der Arbeitspflicht bleibt möglich

Bei der im Streitfall praktizierten Vorgehensweise müsse der Arbeitnehmer in der Nichteinsatzzeit durch den Arbeitgeber von seiner Arbeitspflicht freigestellt werden, so dass kein Annahmeverzug eintreten könne. Für diese Zeit zahle das Unternehmen dem Arbeitnehmer bereits von ihm erarbeitete (oder ggf. noch zu erarbeitende) Plusstunden aus dem Arbeitszeitskonto aus; der Lohn werde im Ergebnis weitergezahlt.

Verwende der Arbeitgeber stattdessen jedoch angesparte Zeitguthaben einseitig bzw. lasse dieser den Mitarbeiter im Fall des Unterschreitens der Null-Linie des Arbeitszeitkontos nacharbeiten, verlagere er einen Teil seines Beschäftigungs- und Wirtschaftsrisikos auf den Arbeitnehmer. Dies sei nach § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG nicht zulässig.

Ausschlussfristen sollten kontrolliert werden!

Die Entscheidungen des Hessischen LAG vom 28.04.2016 stellen einen weiteren „Mosaikstein″ in der gerichtlichen Aufarbeitung der in der Praxis weit verbreiteten Vorgehensweise dar, Minusstunden während einsatzfreier Zeiten auf im Arbeitszeitkonto angesparte Guthaben des Zeitarbeitnehmers anzurechnen.

Interessant sind insbesondere die Ausführungen des Hessischen LAG zur Anwendung von Ausschlussfristen. Zumindest die bloße Mitteilung des Standes des Arbeitszeitkontos, z.B. auf der Abrechnung, solle nicht ausreichen, um aufgrund der Fälligkeit des betreffenden Anspruchs die Verfallsfrist überhaupt „auszulösen″. Vielmehr bedürfe es dazu eines Auszugs aus dem Arbeitszeitkonto.

Ausschlussfrist beginnt mit Ende der Abrechnungsperiode zu laufen

Sodann stellt das Hessische LAG aber fest, dass jedenfalls bei einer geltenden zweistufigen tariflichen Ausschlussfrist diese erst mit Ende der Abrechnungsperiode zu laufen beginne. Dieses sei frühestens der Ausgleichszeitraum nach § 4.4 MTV. Unter Zugrundelegung des Ausgleichszeitraums von 12 Monaten und längstens drei weiterer Monate nach § 4.4 MTV habe die Klägerin mit der außergerichtlichen Geltendmachung der Gutschrift im Februar 2015 für die Ansprüche aus Oktober 2014 (d.h. Ausgleichszeitraum zum 31.03.2015) die Ausschlussfrist von drei Monaten gewahrt.

Sollte ein Personaldienstleister mit dem Begehren eines Zeitarbeitnehmers zur Berichtigung des Zeitkontos wegen einer vermeintlich tarifwidrigen Anrechnung von Minusstunden auf Guthaben konfrontiert werden, kann sich ein Blick auf die jeweils maßgebliche Ausschlussfrist durchaus lohnen. Dies gilt zumindest, wenn dem Zeitarbeitnehmer regelmäßig Auszüge über den Gesamtstand des Arbeitszeitkontos übergeben werden.

Keine Revision in diesen oder ähnlichen Verfahren

Gegen die beiden klagestattgebenden Entscheidungen des Hess. LAG wurde seitens des unterlegenen Personaldienstleisters zunächst Revision zum BAG eingelegt (Az. 5 AZR 567/16; 5 AZR 568/16). Diese sind inzwischen zurückgenommen worden, so dass die streitgegenständlichen Fragen zur Auslegung des MTV BAP/DGB keiner höchstrichterlichen Klärung (mehr) zugeführt werden.

Auch im Übrigen gibt es (prozessuale) Neuigkeiten aus Erfurt zum Arbeitszeitkonto: Für den 23. November 2016 waren beim BAG zwei Termine anberaumt, in denen sich der 5. Senat mit der Anrechnung von Minusstunden auf Guthaben im Arbeitszeitkonto für Zeiten der Nichteinsetzbarkeit hätte befassen müssen (Revision gegen LAG Berlin-Brandenburg v. 17.12.2014 – 15 Sa 982/14, Az. 5 AZR 109/15; Hess. LAG v. 09.06.2015 – 15 Sa 766/14; Az. 5 854/15).

Diese Termine sind inzwischen aufgehoben worden: Im erstgenannten Fall haben die Parteien einen Vergleich geschlossen; im zweitgenannten Fall wurde die Sache übereinstimmend für erledigt erklärt; die (erneute) höchstrichterliche Befassung des BAG mit der Berechtigung des Personaldienstleisters, bei Zeiten des Nichteinsatzes Minusstunden in das Arbeitszeitkonto einzustellen, ist bis auf weiteres vertagt – eingedenk der ausführlichen Begründung des Hess. LAG in den jüngeren Entscheidungen sicherlich ein Zustand, mit dem die Praxis sehr gut leben kann!

Die weiteren Einzelheiten der Entscheidung entnehmen Sie unserer November-Ausgabe des „Infobriefs Zeitarbeit“, in dem wir jeden Monat über aktuelle Entwicklungen in Zusammenhang mit dem Einsatz von Fremdpersonal informieren. Sollten Sie Interesse haben, diesen kostenfrei zu beziehen, schreiben Sie mir bitte eine kurze E-Mail.

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