8. Februar 2011
Zeppelin über Ravensburg
Kanzleialltag

Deutschlands Arbeitsgerichte (6) – Ravensburg

Waren Sie schon einmal in Ravensburg?

Die Stadt Ravensburg hat rund 50.000 Einwohner, etwa 25 Taxen, einen bekannten Puzzle- und Spielehersteller und ein Arbeitsgericht. Eigentlich sind dies nur drei auswärtige Kammern des Arbeitsgerichts Ulm.

Hoch oben am Berg

Im Sommer hinter Bäumen verborgen

Ravensburg kann auf eine langjährige Geschichte zurückblicken. Die Stadt wurde Ende des 11. Jahrhunderts erstmals erwähnt, war seit 1276 Reichsstadt und wird auch als Stadt der Türme und Tore bezeichnet, die – nach Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler – für die Fernsicht ein bedeutendes Stadtbild ergeben. Dementsprechend ist es nur folgerichtig, wenn auch das Gericht in einem altehrwürdigen Gebäude untergebracht ist.

Das Arbeitsgericht befindet sich im oberen Teil der Stadt, nahe dem Obertor und unmittelbar neben einem der Wahrzeichen Ravensburgs, dem 51 Meter hohen, „Mehlsack“ genannten, weißen Turm – und ist daher auf Stadtansichten leicht zu finden.

Von hier aus geht es nur nach oben

Der Mehlsack

An dieser Stelle befand sich bereits seit dem 13. Jahrhundert eine „klösterliche Sammlung frommer Frauen“ und seit spätestens 1406 ein Franziskanerinnen-Kloster, das erst 1806 aufgelöst wurde. Die Schwestern waren fleißig und sparsam und dadurch in der Lage, die umliegenden Grundstücke und Häuser aufzukaufen, bis sie in den Jahren 1702-1718 und 1738/39 den heute bestehenden Gebäudekomplex mit drei abgestuften, aber zusammenhängenden Baukörpern errichteten.

Das Gebäude läuft in einen großen Giebel zur Markstraße aus. Es ist schlicht, mit glatter Fassade und einfachem Satteldach, das nur an der Giebelseite zum unteren Baukörper als Walmdach errichtet wurde – es wirkt aber durch seine Hanglage und die zahlreichen Geschosse wie eine Burg. Die glatt verputzte und hell-beige gestrichene Außenansicht wird durch die grau umrahmten, teilweise vergitterten Fenster geordnet. Hier finden sich passende weiße Holzsprossenfenster. Zum Haupteingang steigt man eine gerade Treppe über zahlreiche Ebenen hinauf. Die verschiedenen, sehr hell gebeizten Eingangstüren sind mit schlichten bis großzügigen Steinumrandungen versehen, die am Haupteingang in einen von Halbsäulen getragenen schmalen Vordach auslaufen.

Noch einige Stufen hinauf

Der Eingang - etwa 6. Stock

Die Säkularisation führt zur Auflösung des Klosters. Die Nonnen mussten 1811 ihr Haus verlassen, das 1825 von der Stadt Ravensburg für 2.000 Gulden gekauft wurde. Zunächst wurde das Gebäude zu einer Schule umgebaut. Hier waren Lyceum, Realschule und evangelische Volksschule untergebracht. Ab 1914 wechselten sich Handels-, Gewerbe- und Wirtschaftsoberschule, sowie höhere Handelsschule und kaufmännische Berufsschule ab. Später war hier die Humpisschule untergebracht, die 1975 auszog. Das Arbeitsgericht befindet sich mindestens seit dem Jahr 1978 hier, wie aus der Geschäftsstelle bestätigt wurde. So ist es also durchaus nicht selten, dass die ehrenamtlichen Richter und Besucher die Räume noch aus ihrer Schulzeit kennen.

Betritt man das Gericht durch den Haupteingang, so fühlt man sich unwillkürlich an die Schulgebäude der 60er Jahre erinnert. Hinter der Eingangstür befindet sich ein kleiner, von in goldfarbenen Metallrahmen eingefassten Glastüren begrenzter Windfang. Widmen Sie den Türen und Griffen ruhig einen zweiten Blick.

Hinterm Windfang warten die 60erDie Halle mit viel Raum

Von hieraus gelangt man in eine größere Eingangshalle. Links befindet sich das Treppenhaus, dem Eingang gegenüber Seminarräume der hier ebenfalls beheimateten Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Zum Arbeitsgericht geht es über die Treppe mit einem hier dreieckigen Grundriss eine Etage höher. Das mit einem schwarzen Handlauf versehene Geländer reicht von der untersten Etage bis ganz nach oben, es wird von Sprossen aus Flachstahl gehalten, die durch ein weiteres Laufband unterteilt werden.

TreppenhausIm Dreieck

Eine Etage höher begegnet dem Besucher ein reichhaltiges Sammelsurium. Hinter einer undurchsichtigen Glaswand mit weiß gestrichener Tür und großer Beschriftung befindet sich die Rechtsantragstelle. Davor steht ein schmaler Holztisch mit zwei Stühlen. Das Ganze sieht ein wenig provisorisch aus. Die Sitzungssäle erreicht man zur Linken. Der Flur ist mit klassischem Linoleum belegt.

Ein Fall für den Innenarchitekten?Was für ein Flur

Die Sitzungssäle wurden vor rund einem Jahr frisch renoviert. Auf dem Bogen liegt grauer Nadelfilzteppich, die Tische sind mit grau-braunen Holzplatten versehen, die Bestuhlung kommt in einem Farbton zwischen lila und petrol daher, wie man ihn in Abstufungen gerne auch in Bussen, Bahnen, Flugzeugen oder anderen Bereichen findet. Was mag durch die Köpfe der Designer solcher Stühle gehen?

Was stört hier?Und was stört hier?

Wer die Gelegenheit hat, sich in den Sitzungssälen umzusehen, dem werden die schmalen Stangen auffallen, die mitten im Raum von der Decke zum Boden gehen. Wir rätselten zunächst, ob es sich um Heizungs- oder Wasserrohre handelt, die nach einer Verlegung der Wand nunmehr mitten durch den Raum gehen. Ich wurde eines besseren belehrt. Denn es handelt sich nicht um Rohre, sondern um Zugstangen, mit denen die einzelnen Etagen am Dach des Hauses aufgehängt sind. Diese Zugstangen befinden sich folglich auch auf der anderen Gebäudeseite. Wo finden Sie schon solche Eigentümlichkeiten?

Halten die Decke - Zugstangen

Sollte einmal ein Fluchtweg von Nöten sein, dann geht es jedenfalls in Saal 18 geradewegs durchs Fenster. Die Aussicht über die Stadt ist famos und – zum Glück – findet sich an der Hauswand eine Feuerleiter.

Wenn's brennt, geht's hier langWer auf der Feuerleiter steht - Aussicht auf die Stadt

Werfen Sie einen Blick auf die Türen mit ihren großzügigen Blechbeschlägen, die wohl vor Beschädigung aus Schülerhand und -fuß schützten sollten. Auf dem Flur stehen, zu einer Wartegruppe versammelt, die früher in den Sitzungssälen genutzten Stühle mit Sitzflächen aus Holz auf schwarzen Metallgestellen.

SaaltürDie alten Stühle

Und am Ende des Flures finden Sie dann auch den Aufzug, der diejenigen befördert, die die vielen Treppen nicht steigen wollen oder können. Er endet irgendwo weiter unten.

Irgendwo ins Nirgendwo

Alles in Allem hat das Arbeitsgericht Ravensburg also einiges zu bieten. Es wäre natürlich auch ein besonderes Erlebnis, wenn dort in klösterlichen Räumen im Zustand des 18. Jahrhunderts verhandelt würde. Aber das ist in dem über die Jahre umgebauten und renovierten Gebäude natürlich nicht der Fall.

Die Serie widmet sich Deutschlands Arbeitsgerichten – den Gebäuden, ihrer Architektur und der Umgebung.

Hier geht es zu Teil 5 der Serie (München), die vorhergenden Teile finden Sie hier (Saarbrücken), (Köln), (Siegburg), (Frankfurt).

 

Nachtrag

Es ist Ende Juni und ich befinde mich wieder in Ravensburg, was einen kleinen Nachtrag wert sein soll. Diesmal nähere ich mich dem Arbeitsgericht von der Burgstraße. Hier führt ein Treppenaufgang den Berg zum Mehlsack hinauf und endet am Südgiebel des Gerichtsgebäudes. Von der anderen Seite

Dieser ist, was mir beim letzten Mal nicht aufgefallen war, reichlich mit Ornamenten verziert. Von der Rückseite erkennt man die fein säuberliche Abdeckung des Giebels mit roten Dachziegeln.

Der SüdgiebelSüdgiebel von der anderen Seite

Und diesmal nutze ich auch den Aufzug, den man von der sechsten Etage im Gebäude hinunter bis zum 2. Stockwerk befahren kann. Hier befinden sich in den Tiefen des Hauses noch echte Gewölbedecken. Hier ist auch das Ostdeutsche Heimatmuseum untergebracht, in dessen Eingangsbereich eine Plastik von Hermann Brachert aufgestellt ist.

Ausgang 2. StockGewölbe vorm Ostdeutschen HeimatmuseumPlastik von Hermann Brachert

Allerdings führt die Tür nach draußen nicht zur Straße sondern zu einer weiteren Treppe. Von barrierefreien Zugang kann daher trotz Aufzug nicht wirklich die Rede sein. Als ich kurz zum Obertor hoch gehe, schiebt sich ein Zeppelin ins Bild. Ravensburg at its best.

Zeppelin über Ravensburg

Hier geht es zu Teil 5, München. Die vorhergehenden Teile finden Sie hier: Saarbrücken, Köln, Siegburg, Frankfurt.

Tags: Arbeitsgericht Arbeitsgericht Ravensburg Architektur Serie