BGH: Dem Vertragshändler im EWR-Ausland gebührt der gleiche Schutz wie dem in Deutschland tätigen Vertragshändler.
Hat ein Vertragshändler, dessen Vertragsgebiet nicht in Deutschland, aber in einem anderen Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) liegt, bei Vertragsende einen zwingenden Ausgleichsanspruch aus § 89b Abs. 1 HGB analog? Oder kann dieser Anspruch in derartigen Auslandsfällen – anders als in reinen Inlandsfällen – ohne weiteres vertraglich abbedungen werden?
Der BGH hat diese Streitfrage des Vertragshändlerrechts mit Urteil vom 25. Februar 2016 (Az. VII ZR 102/15; ZVertriebsR 2016, 120) zugunsten der Vertragshändler im EWR entschieden.
Unstreitiger Ausgangspunkt: Zwingender Ausgleichsanspruch für in Deutschland tätige Vertragshändler (unter zwei Grundvoraussetzungen)
Das zivile Vertragshändlerrecht ist, anders als das Kartellrecht, weder im europäischen noch im deutschen Recht kodifiziert. Zur Füllung dieser Lücke hat die deutsche Rechtsprechung seit Ende der 1950er Jahre ein umfangreiches Richterrecht in Analogie zum (seit längerem stark europarechtlich beeinflussten) Handelsvertreterrecht der §§ 84 ff. HGB entwickelt. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Richterrechts ist der zwingende, d. h. nicht vertraglich abdingbare, Ausgleichsanspruch des Vertragshändlers bei Vertragsende (in Analogie zum zwingenden Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters gemäß § 89b Abs. 1 und Abs. 4 HGB), wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
- Das Vertragsgebiet des Vertragshändlers liegt in Deutschland.
- Auf den Vertrag ist deutsches Recht anwendbar.
- Der Vertragshändler muss derart eng in die Absatzorganisation des Herstellers eingegliedert sein, dass sein Pflichtenprogramm mit dem eines Handelsvertreters vergleichbar ist. Die Rechtsprechung hat dafür zahlreiche, mehr oder weniger indizielle Kriterien entwickelt (z. B. die Gewährung von Gebietsschutz). Praxistypische Vertragshändlerverträge erfüllen diese Kriterien meistens zu Genüge.
- Der Vertragshändler muss zudem vertraglich dazu verpflichtet sein (sei es nur indirekt, etwa wegen organisatorischer Pflichten oder Berichtspflichten), dem Hersteller die Kundendaten zu übersenden. Praxistypische Vertragshändlerverträge versuchen oft (legitim), an dieser Schaltstelle den Ausgleichsanspruch zu vermeiden. Beispielsweise kann der Hersteller sich im Vertragshändlervertrag verpflichten, die ihm vom Händler zunächst überlassenen Kundendaten bei Beendigung des Vertrages für die eigene Nutzung zu sperren oder sogar zu löschen.
Sind diese Analogievoraussetzungen erfüllt, muss der Hersteller zwangsläufig Ausgleich zahlen, wenn er den Vertragshändlervertrag ordentlich kündigt. Das geht schlimmstenfalls bis zur Kappungsgrenze gemäß § 89b Abs. 2 HGB analog. Die Berechnung ist ein Thema für sich und hier kein Thema.
Strittig: Zwingender Ausgleichsanspruch auch für außerhalb Deutschlands, aber innerhalb des EWR tätige Vertragshändler?
Ob die soeben dargestellte Rechtsprechung auch für außerhalb Deutschlands, aber in anderen Ländern des EWR tätige Vertragshändlern gelten muss, ist umstritten und war bislang nicht höchstrichterlich geklärt.
Der EWR besteht aus den 27 EU-Staaten und den drei EFTA-Staaten Liechtenstein, Island und Norwegen (der vierte EFTA-Staat, die Schweiz, nimmt nicht am EWR teil). Im hier besprochenen BGH-Fall nutzte der in Deutschland ansässige Hersteller einen in Schweden ansässigen Vertragshändler. Dessen Vertragsgebiete waren die EU- und somit auch EWR-Staaten Schweden, Finnland, Litauen, Estland und Lettland sowie der reine EWR-Staat Norwegen. Der Vertragshändler war eindeutig in die Absatzorganisation des Herstellers ähnlich einem Handelsvertreter eingegliedert und musste dem Hersteller die Kundendaten übersenden. Der Ausgleichsanspruch war aber vertraglich abbedungen – wirksam oder nicht?
Diese Frage ist strittig. Nach einer in der Literatur vertretenen, bislang wohl herrschenden Meinung ist die vertragliche Abbedingung wirksam; der Vertragshändler genieße keinen Schutz, wenn sein Vertragsgebiet außerhalb Deutschlands liegt. Der deutsche Gesetzgeber wollte mutmaßlich (!) die zwingenden Vorgaben der europäischen Handelsvertreterrichtlinie wirklich nur für Handelsvertreter, nicht aber für Vertragshändler, auf Vertragsgebiete außerhalb von Deutschland erstrecken. Der Vertragshändler dürfe daher nur im Fall eines Vertragsgebietes innerhalb Deutschlands von der Analogie zu § 89b Abs. 1 und Abs. 4 HGB profitieren.
Nach der Gegenansicht in der Literatur, die auch vom OLG Düsseldorf (Kartellsenat, Urt. v. 28.02.2007, Az. VI-U (Kart) 22/06) vertreten wurde (dort allerdings ohne nähere Auseinandersetzung), ist die vertragliche Abbedingung hingegen unwirksam. Der BGH hat sich dieser Gegenansicht angeschlossen und damit den Streit für die Praxis erledigt.
BGH: Gesetzgebungshistorie und Wertung sprechen gegen Ungleichbehandlung
Für den Anschluss an die vertragshändlerfreundliche Meinung sah der BGH zwei Gründe:
- Der erste Grund liege in der historischen Auslegung (und daher zu bejahenden analogen Anwendung) des § 92c Abs. 1 HGB. Diese Norm lautet:
Hat der Handelsvertreter seine Tätigkeit […] nach dem Vertrag nicht innerhalb des Gebietes der [EU oder der anderen EWR-Vertragsstaaten] auszuüben, so kann hinsichtlich aller Vorschriften dieses Abschnittes etwas anderes vereinbart werden.
Andersherum formuliert: Das Handelsvertreterrecht der §§ 84 ff. HGB ist dann zwingend, wenn das Vertragsgebiet innerhalb von EU/EWR liegt.
Laut BGH (a.a.O., juris-Rn. 27 – 31, insbes. Rn. 30) zeige die historische Auslegung des § 92c Abs. 1 HGB, dass der Gesetzgeber (auch) diese Norm analog auf Vertragshändler angewendet wissen will. Denn wenn dem nicht so wäre, hätte der Gesetzgeber, dem die seit 1958 vom BGH stets bejahte Analogie des Handelsvertreterrechts für das Vertragshändlerrecht bekannt war, es bei einer der Neufassungen des § 92c HGB in den Jahren 1989 oder 1993 deutlich gesagt – das hat er aber nicht getan. Folglich gilt (auch) § 92c Abs. 1 HGB analog für Vertragshändler und statuiert somit für Vertragsgebiete innerhalb des EWR ein Abweichungsverbot vom Ausgleichsanspruch.
- Obwohl auslegungstechnisch zutreffend, erscheint es nicht unbedingt restlos überzeugend, dem Gesetzgeber beredtes Schweigen zu unterstellen. Doch der BGH hatte noch einen zweiten – überzeugenderen – Grund, sich der vertragshändlerfreundlichen Ansicht anzuschließen: Es sei kein durchgreifender Grund erkennbar, denjenigen Vertragshändler, der seine Tätigkeit in einem anderen EU-/EWR-Staat als Deutschland auszuüben hat, anders zu behandeln als denjenigen, der seine Tätigkeit nur in Deutschland auszuüben hat (BGH a.O., juris-Rn. 33). Die Gefahr, sich aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Hersteller auf nachteilige Vertragsregelungen über den Ausgleichsanspruch einzulassen, bestehe für beide Kategorien von Vertragshändlern in gleichem Maße (BGH a.a.O., juris-Rn. 33). Das überzeugt, denn die allgemeine Analogievoraussetzung einer „vergleichbaren Interessenlage″ (hier: zwischen Handelsvertreter und Vertragshändler) ist jenseits der deutschen Grenze genauso zu beurteilen wie diesseits. Die Gegenansicht sieht dies im Ergebnis anders und will dem deutschen Hersteller gerade die Vertragsfreiheit geben, den Vertragshändler im EWR-Ausland zu benachteiligen.
Keine EuGH-Vorlage erforderlich
Eine Vorlage vom BGH an den EuGH war nicht erforderlich:
Die Frage, ob und in welchem Umfang Vorschriften des deutschen Handelsvertreterrechts auf Vertragshändler entsprechend anzuwenden sind, […], ist mangels Vereinheitlichung des Vertragshändlerrechts unionsrechtlich nicht präformiert, sondern vom deutschen Recht autonom zu beantworten (BGH a.a.O., juris-Rn. 34).
Praktische Konsequenzen für Vertragshändler und Hersteller
Die praktische Konsequenz für zukünftige Vertragshändlerverträge mit Vertragsgebiet innerhalb des EWR kann die Wahl eines – auch innereuropäischen – Rechts sein, das keinen zwingenden Ausgleichsanspruch für Vertragshändler kennt.
Das oft als Fluchtpunkt aus dem deutschen AGB-Recht gehandelte Schweizer Recht eignet sich dafür übrigens nicht. Es kennt den zwingenden Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters bzw. Vertragshändlers unter sehr ähnlichen – wenn auch nicht abschließend geklärten – Voraussetzungen wie das deutsche Recht (Art. 418u Schweizer Obligationenrecht (analog) i.V.m. der einschlägigen Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts seit 2008; sog. Kundschaftsentschädigung).
Bei Bestandsverträgen besteht nun Gewissheit, dass sich ein Streit um den Ausgleichsanspruch zumindest dem Grunde nach für den Hersteller nicht lohnt.
Ausgleichsanspruch für Vertragshändler, wenn Vertragsgebiet teils innerhalb, teils außerhalb des EWR liegt?
Der BGH hatte keinen Anlass (weil der Fall sich komplett innerhalb des EWR abspielte), die andere Streitfrage des Handelsvertreterrechts (und analog des Vertragshändlerrechts) zu entscheiden, ob der Ausgleichsanspruch abbedungen werden darf, wenn das Vertragsgebiet teilweise innerhalb und teilweise außerhalb des EWR liegt.
Für die o. g. Literaturansicht, die dem Vertragshändler mit Vertragsgebiet außerhalb Deutschlands, aber innerhalb des EWR, keinen Ausgleichsanspruch gewähren will, stellt sich diese Streitfrage allerdings nicht: für sie endet der Ausgleichsanspruch des Vertragshändlers ohnehin an der deutschen Grenze.
Nach einer Ansicht „infiziert″ der innerhalb des EWR gelegene Teil des Vertragsgebiets den gesamten Vertrag. Diese Auffassung vertritt z.B. Baumbach/Hopt/Hopt, HGB, 36. Aufl. 2014, § 92c, Rn. 6, 11, m.w.N. auch für die Gegenansicht: § 92 Abs. 1 HGB – d.h. die ungebremste Vertragsfreiheit – gelte nicht, wenn das Vertragsgebiet teils innerhalb, teils außerhalb von EU/EWR liegt; es bleibe dann auch für die Tätigkeit außerhalb von EU/EWR beim zwingenden deutschen Recht. Nach der Gegenansicht ist zwischen den beiden Kategorien von Vertragsgebieten zu differenzieren, so dass es wirksam möglich sei, den Ausgleichsanspruch der Vertragshändler anteilig für das Nicht-EWR-Vertragsgebiet auszuschließen. Diese zweitgenannte Ansicht überzeugt; sie berücksichtigt die Interessen beider Parteien in ausgewogener Weise und ist gut mit § 92c Abs. 1 HGB (analog) vereinbar, wenn man diesen im Sinne von „soweit″ liest.
Bei der Vertragsgestaltung und insbesondere bei AGB-Verträgen mit deutscher Rechtswahl ist entsprechend sauber zu formulieren, inwieweit ein Ausgleichsanspruch bestehen soll. Auch eine nicht-deutsche Rechtswahl oder eine Trennung in mehrere Vertragshändlerverträge ist eine Gestaltungsmöglichkeit.