23. Juli 2020
Virtuelle Gerichtsverhandlung
Dispute Resolution Arbeitsrecht

Brave New Court? Virtuelle Verhandlungen in der Zivil- und Arbeitsgerichtsbarkeit

Trotz Corona-bedingtem Digitalisierungsschub: Virtuelle Gerichtsverhandlungen in der Zivil- und Arbeitsgerichtsbarkeit haben ihre Tücken.

Der bereits mit dem ZPO-Reformgesetz im Jahr 2002 in die ZPO aufgenommene § 128a ZPO, der Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung regelt, führte bis vor wenigen Wochen noch ein Schattendasein in deutschen Gerichten. Mündliche Verhandlungen per Videokonferenz stellen jedoch eine Möglichkeit dar, auch in Krisenzeiten die Funktionsfähigkeit der Justiz sicherzustellen.

Nach § 128a Abs. 1 ZPO darf ein Gericht auf Antrag der Parteien oder von Amts wegen den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort als dem Gerichtssaal aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. In diesem Fall erfolgt eine Übertragung der Verhandlung zeitgleich in Bild und Ton an den „anderen Ort″ sowie in das Sitzungszimmer; hierdurch wird insbesondere der Öffentlichkeitsgrundsatz gewahrt.

Von § 128a ZPO wurde während der Covid-19-Pandemie häufiger Gebrauch gemacht – es fehlt jedoch weiterhin an technischen Voraussetzungen und der Klärung rechtlicher Unsicherheiten

In der Vergangenheit haben viele Gerichte und Anwälte die Erfahrung gemacht, dass die technische Ausstattung der Gerichte dem in der Zivilprozessordnung vorgesehenen Instrumentarium nicht gewachsen ist. Virtuelle Gerichtsverhandlungen fanden daher selten statt. Infolge der Covid-19-Pandemie und den dadurch beschränkten Gerichtsbetrieb konnten technische Unzulänglichkeiten teilweise bereits behoben werden. Dennoch sorgen die Unsicherheit im Umgang mit neuen technischen Mitteln sowie die damit auftretenden Rechtsfragen weiterhin für eine anhaltende Zurückhaltung.

Umstritten ist etwa, ob der unmittelbare Anwendungsbereich des § 128a ZPO die der mündlichen Verhandlung vorgeschaltete Güteverhandlung erfasst. Auch stellen sich im Zusammenhang mit der verwendeten Konferenzsoftware datenschutzrechtliche Fragen. Beispielsweise hat die Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit in ihrer Bewertung gängiger Video-Konferenz-Tools in Frage gestellt, ob Anbieter von Videokonferenzsoftware wie Skype, Microsoft Teams und Zoom die geltenden datenschutzrechtlichen Anforderungen erfüllen.

In diesem Zusammenhang ist auch die Entscheidung des Kammergericht Berlin (Urteil vom 12. Mai 2020 – 21 U 125/19) zu erwähnen, wonach für die ordnungsgemäße Durchführung der mündlichen Verhandlung unerheblich sein soll, dass die verhandelnden Senatsmitglieder die genutzten Notebooks und die verwendete Webkonferenz-Software privat gestellt haben.

Ob eine vollständig virtuell durchgeführte Verhandlung, die auf die unmittelbare persönliche Wahrnehmung der Parteien und Zeugen verzichtet, den Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung gerecht werden kann, wird sich noch zeigen müssen. Dabei ist die Bedeutung der unmittelbaren persönlichen Wahrnehmung bei der Beurteilung einer Aussage zu hinterfragen. So ließe sich die Wahrnehmbarkeit von Partei- und Zeugenvernehmungen durch den Einsatz modernster technischer Mittel unter Umständen sogar verbessern, z.B. durch Ganzkörperaufnahmen und größere Bildschirme.

Ressourcenschonung dank voranschreitender Digitalisierung

Trotz mancher Hürden ist absehbar, dass die Gerichte auch künftig zunehmend von der Möglichkeit der Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung Gebrauch machen werden bzw. – angesichts weiterhin bestehender Ansteckungsgefahren – müssen. Durch den stärkeren Einsatz von Videokonferenzverhandlungen wird die Funktionsfähigkeit der Justiz gesichert und ein möglicher Verfahrensstau vermieden. Auch in Zeiten nach Corona führen virtuelle Verhandlungen zu Kosten- und Zeitersparnissen auf Seiten der der Justiz wie auch der Anwaltschaft und Prozessparteien. So bemerken wir in unserer Praxis bereits, dass Gerichte auch nach der Rückkehr zum Regelbetrieb bereits vermehrt dazu übergehen, virtuelle Verhandlungen durchzuführen.

Am 12. Mai 2020 hat die FDP-Fraktion eine Änderung des § 128a ZPO beantragt, die zu einer Ausweitung von virtuellen Verhandlungen führen soll. Der Antrag sieht unter anderem vor, dass die Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung auf Antrag einer Partei verpflichtend angeordnet werden muss. Zudem enthält der Änderungsvorschlag eine Regelung, wonach mit Zustimmung der Parteien der Öffentlichkeit ermöglicht werden soll, Verhandlungen im Wege eines Livestreams außerhalb des Sitzungssaals zu verfolgen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich die Politik die Ausweitung virtueller Verhandlungen auf die Fahne schreibt und hierfür die passenden Rahmenbedingungen schafft.

Arbeitsgerichtsbarkeit: Videoschalte zu Gerichtsverhandlungen

Weiter ist man hier schon im arbeitsgerichtlichen Verfahren: In diesem gelten im Grundsatz die Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechend, soweit das Arbeitsgerichtsgesetz nichts anderes bestimmt. Dies hat zur Folge, dass auch virtuelle Verhandlungen i.S.v. § 128a ZPO möglich sind. Aufgrund der hohen technischen Voraussetzungen hierfür und vor dem Hintergrund, dass die deutschen Arbeitsgerichte infolge der Corona-Pandemie eine hohe Arbeitsbelastung erwarteten, erschien dies unzulänglich.

Bereits Anfang April wurde deswegen der „Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der COVID 19-Epidemie″ von der Bundesregierung eingebracht. Dieser Entwurf sah sehr weitreichende Änderungen vor wie beispielsweise die Möglichkeit der Anordnung einer virtuellen Verhandlung durch den Vorsitzenden auch ohne Zustimmung der Parteien, einen Ausschluss der Öffentlichkeit, wenn der Gesundheitsschutz nicht anders zu gewährleisten ist, und den gänzlichen Verzicht auf die mündliche Verhandlung beim Bundesarbeits- sowie beim Bundessozialgericht.

Von diesen – teilweise stark kritisierten – Gesetzesvorschlägen ist nun nicht mehr allzu viel übrig: Ende Mai ist das „Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie″ – das „Sozialschutz-Paket II″ – in Kraft getreten. Anstelle der persönlichen Teilnahme an der Verhandlung können künftig auch Video- und Telefonkonferenzen zugelassen werden, wenn dies seitens der Parteien gewünscht wird. Zudem können ehrenamtliche Richter, wenn ihnen ein persönliches Erscheinen im Gerichtssaal im konkreten Fall unzumutbar ist, per Video zugeschaltet werden.

Im arbeitsgerichtlichen Verfahren sind also bereits ähnliche Voraussetzungen geschaffen worden wie von der FDP-Fraktion für die ordentliche Gerichtsbarkeit angeregt. Ob sich Zivil- und Arbeitsgerichtsbarkeit zu Brave New Courts entwickeln werden, wird sich zeigen.

Unsere Reihe „Brave New Court″ geht auf die Digitalisierung in gerichtlichen und behördlichen Verfahren ein. Es erschienen bisher die Beiträge zur virtuellen Verhandlung im Zivil- und Arbeitsgerichtsverfahren sowie zu virtuellen Verhandlungen im Schiedsverfahren.

Tags: Digitalisierung Gericht Virtuelle Gerichtsverhandlung § 128a ZPO

Isabel Meyer-Michaelis