25. April 2023
Stimmrechtszurechnung
Corporate / M&A

BGH „Postbank-Urteile“: Stimmrechtszurechnung nach WpÜG

In zwei Musterverfahren befasste sich der BGH jüngst mit den Voraussetzungen der Zurechnung von Stimmrechten aus Aktien bei öffentlichen Übernahmen.

Gegenstand von zwei parallel geführten Verfahren beim Bundesgerichtshof (BGH, Urteile v. 13. Dezember 2022 – II ZR 9/21 und II ZR 14/21) war die Übernahme der Postbank durch die Deutsche Bank. 

Im September 2008 hatte die Deutsche Bank mit der damaligen Mehrheitsaktionärin der Postbank, der Deutschen Post, den Erwerb von 29,75 % der Postbank-Aktien zum Preis von EUR 57,25 je Aktie vereinbart. Die Vereinbarung enthielt eine sog. Interessenschutzklausel. Danach verpflichtete sich die Deutsche Post, keine Satzungsänderungen, umwandlungsrechtlichen Maßnahmen, Dividendenausschüttungen oder anderweitigen Maßnahmen, die dem Vollzug der Vereinbarung entgegenstehen könnten, zu beschließen oder zu billigen. 

Der Vollzug der Vereinbarung war für das erste Quartal 2009 und damit noch vor der nächsten ordentlichen Hauptversammlung der Postbank im zweiten Quartal 2009 geplant. Tatsächlich kam es zu Verzögerungen, sodass der Vollzug der Vereinbarung verschoben wurde. Auf Grundlage mehrerer Änderungsvereinbarungen erwarb die Deutsche Bank Anfang 2009 knapp 23 % der Postbank-Aktien zu je EUR 23,92 und zeichnete eine Anleihe mit Fälligkeit im Februar 2012, die sie zum Erwerb von weiteren 27,4 % der Postbank-Aktien zu je EUR 45,45 verpflichtete. Im Oktober 2010 veröffentlichte die Deutsche Bank ein öffentliches Übernahmeangebot zum Erwerb der übrigen Postbank-Aktien. Der Angebotspreis betrug EUR 25,00 je Aktie. Die klagenden Aktionäre* verlangten von der Deutschen Bank in erster Linie die Differenz zwischen dem Angebotspreis des Übernahmeangebots (EUR 25,00) und dem in der Vereinbarung mit der Deutschen Post festgelegten Kaufpreis (EUR 57,25). 

Qualifizierung der Vereinbarung in 2008 als „Vorerwerb“ 

Nach den Urteilen des BGH hätten die Aktionäre einen Anspruch auf den geltend gemachten Differenzbetrag i.H.v. EUR 32,25 je Aktie, sofern die Deutsche Bank bereits aufgrund der 2008 geschlossenen Vereinbarung zur Abgabe eines öffentlichen Übernahmeangebots verpflichtet gewesen wäre. Im Rahmen eines Übernahmeangebots muss nach den einschlägigen Vorschriften des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG) nämlich mind. der Preis geboten werden, den der Bieter – hier: die Deutsche Bank – innerhalb der letzten sechs Monate vor Veröffentlichung des Angebots für den Erwerb von Aktien der Zielgesellschaft – hier: der Postbank – gewährt oder vereinbart hat (sog. „Vorerwerbe“). Hat der Bieter die Abgabe des Übernahmeangebots pflichtwidrig unterlassen, so verlängert sich die Sechs-Monats-Frist bis zu dem Zeitpunkt, in dem erstmals die Pflicht zur Veröffentlichung des Angebots bestand. Wäre die Deutsche Bank also schon 2008 zur Abgabe eines Übernahmeangebots verpflichtet gewesen, wäre der Erwerb zu EUR 57,25 je Aktie als Vorerwerb i.S.d. WpÜG anzusehen. Dieser Kaufpreis würde die Untergrenze der Gegenleistung des öffentlichen Übernahmeangebots bilden. 

Pflicht zur Abgabe eines Übernahmeangebots 

Ein öffentliches Übernahmeangebot hat abzugeben, wer unmittelbar oder mittelbar die Kontrolle über eine börsennotierte Gesellschaft erlangt. Die Kontrolle erlangt, wer mind. 30 % der Stimmrechte hält. Für das Erreichen der Kontrollschwelle ist unerheblich, ob die in den Aktien verkörperten Stimmrechte selbst gehalten oder nach den Vorschriften des WpÜG zugerechnet werden. Sowohl mit dem ursprünglich vereinbarten Erwerb von 29,75 % als auch mit dem tatsächlich erfolgten Erwerb von 23 % der Postbank-Aktien blieb die Deutsche Bank unterhalb der Kontrollschwelle von 30 %. Die klagenden Aktionäre argumentieren jedoch, die Deutsche Bank habe die Kontrollschwelle schon vor Oktober 2010 überschritten, weil ihr aufgrund der mit der Deutschen Post 2008 geschlossenen Vereinbarung oder einer daran anschließenden Änderungsvereinbarung auch die Stimmrechte aus den weiteren von der Deutschen Post gehaltenen Postbank-Aktien zuzurechnen waren. Dann wäre die Deutsche Bank bereits in diesem Zeitpunkt zur Abgabe eines Übernahmeangebots verpflichtet gewesen.

Acting in Concert 

Nach dem WpÜG erfolgt eine Zurechnung von Stimmrechten aus Aktien u.a., wenn der Bieter und Dritte ihr Verhalten in Bezug auf die Zielgesellschaft aufgrund einer Vereinbarung oder in sonstiger Weise über den Einzelfall hinaus abstimmen (sog. „Acting in Concert“). Ein abgestimmtes Verhalten setzt voraus, dass sie sich über die Ausübung von Stimmrechten verständigen oder in sonstiger Weise mit dem Ziel einer dauerhaften und erheblichen Änderung der unternehmerischen Ausrichtung der Zielgesellschaft zusammenwirken.

Der BGH hat in den Postbank-Urteilen einige praxisrelevante Klarstellungen vorgenommen, wann ein solches Acting in Concert vorliegt. So stellte der Senat zunächst fest, dass ein Acting in Concert nicht voraussetzt, dass auch der Bieter – hier: die Deutsche Bank – selbst stimmberechtigte Aktien hält. Schon nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift müsse es für die Verständigung über die Stimmrechtsausübung ausreichen, dass nur eine Partei – hier: die Deutsche Post – Stimmrechte innehat. Das Acting in Concert sei also nicht auf Fälle der wechselseitigen Zurechnung durch Bündelung von Stimmrechten mehrerer Parteien beschränkt.

Ein Acting in Concert sei auch nicht deshalb von vornherein zu verneinen, weil die Verpflichtung zur Stimmrechtsausübung in einer bestimmten Weise schon aus der allgemeinen Leistungstreuepflicht nach § 242 BGB folgt; danach haben die Parteien alles zu tun, was den Leistungserfolg herbeiführt. Denn eine Verständigung über die Ausübung von Stimmrechten i.S.d. des § 30 WpÜG könne nicht nur durch die konkrete Vereinbarung einer entsprechenden Leistungspflicht, sondern auch in sonstiger Weise erfolgen, ohne dass es hierfür einer ausdrücklichen Abrede bedarf. Die allgemeine Leistungstreuepflicht sei zur Bestimmung eines Acting in Concert ungeeignet, weil die konkrete Reichweite einer daraus resultierenden Stimmbindung vom konkreten Vertragsgegenstand und dessen Regelungen abhängig sei. 

Für die Annahme eines Acting in Concert sei es zudem ausreichend, wenn durch die Verständigung über die Ausübung der Stimmrechte nur der Status quo bewahrt werden soll. Teilweise wurde nämlich die Auffassung vertreten, dass zwingend eine tatsächliche Änderung der unternehmerischen Ausrichtung erfolgen muss. Dies wurde vom BGH somit abgelehnt. 

Letztendlich ist nach Ansicht des BGH für die Stimmrechtszurechnung allein maßgeblich, ob die Verständigung über die Stimmrechtsausübung auf eine tatsächliche und konkrete Einflussnahme bei der Zielgesellschaft gerichtet ist. Entscheidend sei, ob die Parteien bei Abschluss der Vereinbarungen davon ausgingen, dass es tatsächlich zu einer Stimmrechtsausübung unter Berücksichtigung der vereinbarten Bindung kommt. Die nur vorsorgliche Abstimmung über die Stimmrechtsausübung begründe dagegen noch keine Zurechnung, wenn die Beteiligten davon ausgehen, dass es gar nicht zu einer Einflussnahme auf die Zielgesellschaft kommen wird.

Eine tatsächliche und konkrete Einflussnahme auf die Postbank verneinte der BGH insbesondere im Hinblick auf die Interessenschutzklausel in der ursprünglichen Vereinbarung aus dem Jahr 2008. Denn die Deutsche Bank und die Deutsche Post hatten beabsichtigt, dass die Stimmrechtsbindung schon vor der nächsten Hauptversammlung der Postbank wieder entfällt. Damit war die Interessenschutzklausel aus Sicht des BGH nur auf eine vorsorgliche Abstimmung über die Stimmrechtsausübung gerichtet. 

Allerdings stellte der BGH fest, dass sich die Verständigung über die tatsächliche und konkrete Einflussnahme aus einer Gesamtschau aller Vereinbarungen und der jeweiligen Interessenschutzklauseln ergeben könne. Die Vorinstanz habe hierzu noch Feststellungen zu treffen. Aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen konnte der BGH nämlich nicht abschließend beurteilen, ob nach den Vorstellungen der Parteien durch die Hauptversammlung der Postbank Entscheidungen während der voraussichtlichen Laufzeit der Vereinbarungen getroffen werden sollten und ob die jeweiligen Interessenschutzklauseln der Deutschen Post ein bestimmtes Abstimmungsverhalten abverlangt haben. 

Für Rechnung gehaltene Aktien

Nach dem WpÜG werden dem Bieter auch Stimmrechte aus Aktien zugerechnet, die einem Dritten gehören und von diesem für Rechnung des Angebotspflichtigen gehalten werden. Zu klären war also auch, ob die Deutsche Post die Stimmrechte aus ihren eigenen Postbank-Aktien für Rechnung der Deutschen Bank hält.

Das Merkmal „für Rechnung“ ist nach Auffassung des BGH erfüllt, wenn der Bieter aus den betroffenen Aktien die wesentlichen Chancen und Risiken, wie etwa die Veränderung des Börsenkurses, die Chancen einer Dividendenzahlung und das Insolvenzrisiko der Zielgesellschaft, tragen muss. Die wirtschaftliche Zuordnung der Chancen und Risiken kann auch nur auf tatsächlichen Umständen beruhen. Eine Zurechnung findet aber nur statt, wenn der Bieter Einfluss auf die Stimmrechtsausübung des Dritten nehmen kann. Dabei genügt es, wenn der Dritte bei seiner Stimmrechtsausübung das Interesse des Bieters hinsichtlich der übernommenen wirtschaftlichen Chancen und Risiken wahren muss. Die rein tatsächliche Möglichkeit einer Einflussnahme auf die Stimmrechtsausübung rechtfertigt die Zurechnung noch nicht. Die Vorinstanz hat hierzu noch Feststellungen zu treffen.

Praktische Bedeutung der Urteile

Die Urteile des BGH wirken sich auf die übernahmerechtliche Praxis, insbesondere auf den Erwerb von Aktienpaketen, aus. So hat der BGH die Zurechnung von Stimmrechten aufgrund eines Acting in Concert deutlich präzisiert. Bei der Gestaltung von Aktienkaufverträgen ist künftig noch stärker darauf zu achten, dass vor dem Vollzug der Aktienübertragung unter keinen Umständen eine Einflussnahme bzw. eine Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Ausübung der Stimmrechte aus den veräußerten Aktien angenommen werden kann. Um die berechtigten Interessen des Käufers zu wahren, müssen andersartige vertragliche Gestaltungen erwogen werden. 

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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