Zum 1. Juli 2023 ist die neue FuE-GVO in Kraft getreten. Sie löst die zuletzt in ihrer Geltungsdauer bis zum 30. Juni 2023 verlängerte Verordnung (EG) Nr. 1217/2010 ab.
Inhaltlich regelt die FuE-GVO die Anforderungen, die Unternehmen bei der Durchführung von FuE-Kooperationen sowie Auftragsentwicklung und -forschung in kartellrechtlicher Hinsicht einzuhalten haben, um von der Freistellungswirkung der FuE-GVO zu profitieren.
Wir werfen einen kurzen Blick darauf, ob und was sich geändert hat.
Um negative Auswirkungen auf den Wettbewerb zu vermeiden, müssen auch FuE-Kooperationen den Anforderungen des Kartellrechts genügen
Unternehmen arbeiten in einer globalen und arbeitsteiligen Welt auf verschiedene Art und Weise zusammen. Intensive Kooperationen sind dabei oft unverzichtbar und werden für viele Unternehmen zunehmend überlebensnotwendig. Beispiele hierfür sind internationale Liefernetzwerke, vielfältige Vertriebsmodelle oder Kooperationen im Beschaffungsbereich und nicht zuletzt auch gemeinsame Projekte im Bereich Forschung und Entwicklung (FuE).
Unternehmen haben dabei vielfältige Motive für FuE-Kooperationen. Dies kann beispielsweise die Auslagerung eigener FuE-Aufgaben aus Gründen der Kosteneffizienz oder fehlender Expertise auf einem bestimmten technischen Gebiet sein, die gemeinsame Verbesserung bestehender Technologien und Produkte oder die Erforschung, Entwicklung und Vermarktung völlig neuer Produkte, um innovative Märkte zu erschaffen. Allerdings bergen FuE-Kooperationen auch potenzielle Risiken. Sie können zwar Innovation und Wachstum fördern, aber gleichzeitig auch den freien Wettbewerb einschränken.
Wozu dient die FuE-GVO?
Die Europäische Kommission kann Verordnungen erlassen, die unter bestimmten Bedingungen Ausnahmen vom Kartellverbot gemäß Artikel 101 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) für bestimmte Arten von Vereinbarungen zwischen Unternehmen ermöglichen. Diese Verordnungen werden als Gruppenfreistellungsverordnungen (GVO) bezeichnet. Die GVOs legen fest, unter welchen Bedingungen Unternehmen in bestimmten Situationen mit anderen Marktteilnehmern zusammenarbeiten dürfen, ohne kartellrechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen. Sie stellen daher eine Art „sicherer Hafen“ (safe harbour) für die beteiligten Unternehmen in kartellrechtlicher Hinsicht dar.
Die FuE-GVO gewährt dabei konkret eine Gruppenfreistellung für Vereinbarungen zwischen zwei oder mehr Parteien (dies können sowohl Unternehmen als auch Forschungsinstitute oder Hochschulen, die sich für gewöhnlich nicht mit der Verwertung von FuE-Ergebnissen befassen, sein), die gemeinsame Forschung und Entwicklung (FuE) oder Auftragsforschung und -entwicklung von Vertragsprodukten oder Vertragstechnologien oder die gemeinsame Verwertung der daraus hervorgegangenen Ergebnisse zum Gegenstand haben, sofern sie die in der FuE-GVO festgelegten Kriterien erfüllen.
Falls eine FuE-Vereinbarung nicht den Kriterien der FuE-GVO entspricht, jedoch den Wettbewerb einschränkt, bleibt nur der Weg über eine Einzelfreistellung nach Maßgabe des Artikel 101 Absatz 3 AEUV, die jedoch regelmäßig komplex und aufwändig ist. Eine Freistellung über die FuE-GVO bringt daher für die Praxis erhebliche Erleichterungen mit sich.
Die wichtigsten Änderungen in der Neufassung der FuE-GVO
Die neue FuE-GVO wurde zunächst umstrukturiert, wobei die Bedingungen für den Zugang zu gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsergebnissen, bereits vorhandenem Know-how und die gemeinsame Verwertung nunmehr in separaten Artikeln geregelt sind. Die Befugnisse der EU-Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden zur Entziehung der Vorteile der FuE-GVO sind nun ausdrücklich in den Artikeln 10 und 11 verankert, anstatt – wie bisher – nur in den Erwägungsgründen.
In Artikel 1 (1) der neuen FuE-GVO wurden ferner neue Definitionen und Klarstellungen eingeführt. Neu sind Definitionen für die Begriffe „aktive Verkäufe“ und „passive Verkäufe“. Die Definition des Begriffs „potenzieller Wettbewerber“ zeigt sich leicht geändert, da der Verweis auf einen geringen, aber dauerhaften Anstieg der relativen Preise, der sogenannte SSNIP-Test, entfernt wurde.
Die neugefasste FuE-GVO geht zwar weiterhin davon aus, dass Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die keine direkten Wettbewerber in Bezug auf Produkte, Technologien oder Verfahren sind, die durch FuE-Ergebnisse beeinflusst werden können, unter normalen Umständen den Innovationswettbewerb nicht erheblich beeinträchtigen. Jedoch kann die Kommission gemäß Artikel 10 Absatz 2 lit. e der neuen FuE-GVO die Vorteile der FuE-GVO entziehen, wenn das Bestehen einer FuE-Vereinbarung den Innovationswettbewerb in einem speziellen Bereich in erheblichem Maße beeinträchtigen würde.
Die neue FuE-GVO klärt nunmehr auch ausdrücklich die Frage nach den rechtlichen Konsequenzen der Aufnahme von nicht freigestellten Beschränkungen (sog. „graue Klauseln“) in eine FuE-Vereinbarung. Die Freistellung bleibt in diesem Fall weiterhin für den verbleibenden Teil der FuE-Vereinbarung bestehen, vorausgesetzt, die nicht freigestellte Beschränkung lässt sich vom verbleibenden Teil trennen und die übrigen Freistellungsvoraussetzungen der FuE-GVO sind erfüllt. Demgegenüber ist es dabeigeblieben, dass die Aufnahme von nunmehr in Artikel 8 der FuE-GVO enthaltenen Kernbeschränkungen (sog. “schwarze Klauseln“) zum vollständigen Verlust der Freistellungswirkung führt.
Dauer der Freistellung
Eine Erleichterung in der praktischen Handhabung hat sich zudem hinsichtlich der Dauer der Freistellungswirkung ergeben. Für die Dauer der Gruppenfreistellung war auch bereits bisher unter anderem entscheidend, ob die beteiligten Parteien Wettbewerber sind. Ist dies der Fall, wird die Befreiung für die Dauer der FuE nur gewährt, sofern der gemeinsame Marktanteil der Parteien zum Zeitpunkt des Abschlusses der FuE-Vereinbarung auf den relevanten Produkt- und Technologiemärkten 25 % nicht übersteigt. Bei der Berechnung des gemeinsamen Marktanteils für entgeltliche FuE-Aufträge sind alle FuE-Vereinbarungen zu berücksichtigen, die die finanzierende Partei mit Dritten für dieselben Vertragsprodukte oder Vertragstechnologien abgeschlossen hat.
Wenn die Ergebnisse gemeinsam verwertet werden, wozu auch die gemeinsame Verwertung im Wege der sog. Spezialisierung gehört, bleibt die Befreiung grundsätzlich auch noch sieben weitere Jahre nach dem ersten Inverkehrbringen der Vertragsprodukte oder -technologien auf dem Binnenmarkt bestehen. Nach Ablauf der 7-Jahres-Frist gilt die Befreiung weiter, solange der gemeinsame Marktanteil auf den relevanten Produkt- und Technologiemärkten 25 % nicht übersteigt. Wenn der gemeinsame Marktanteil der Parteien auf den relevanten Märkten, zu denen die Vertragsprodukte oder -technologien gehören, am Ende eines siebenjährigen Zeitraums nicht mehr als 25 % beträgt, aber danach 25 % übersteigt, war nach der bisherigen FuE-GVO danach zu differenzieren, ob auch eine Schwelle von 30 % überschritten wurde oder nicht. War dies der Fall, galt die Freistellung nur für ein weiteres Jahr, andernfalls für zwei weitere Jahre. Nunmehr gilt die Freistellung einheitlich für einen Zeitraum von zwei aufeinander folgenden Kalenderjahren nach dem Jahr, in dem der Schwellenwert von 25 % erstmals überschritten wurde. Die weitere Schwelle von 30 % ist ersatzlos entfallen.
Klarstellungen zur Berechnung der Marktanteile
Und schließlich enthält die neue FuE-GVO Klarstellungen in Bezug auf die Berechnung von Marktanteilen. Sind keine Daten zu Umsätzen (Absatzwerten) verfügbar, erfolgt die Berechnung auf Grundlage der Verkaufsmengen (Absatzmengen). Fehlen selbst Daten zu Absatzmengen, können Schätzungen auf Grundlage anderer verlässlicher Marktdaten wie etwa Ausgaben für Forschung und Entwicklung oder den Kapazitäten im Bereich der Forschung und Entwicklung erfolgen.
Grundsätzlich basiert die Berechnung der Marktanteile – wie bisher – auf den Daten des vorherigen Kalenderjahres. Die neue FuE-GVO stellt aber nunmehr klar, dass, falls diese Daten für die Marktstellung der beteiligten Unternehmen nicht repräsentativ sind, die Marktanteile auf Basis des Durchschnitts der Marktanteile der beteiligten Unternehmen in den drei vorherigen Kalenderjahren berechnet werden sollen.
Zusammenspiel mit neuen horizontal Leitlinien
Die Horizontalleitlinien wurden neben der FuE-GVO ebenfalls überarbeitet und sind seit ihrer Verabschiedung und Veröffentlichung im Amtsblatt der EU am 21. Juli 2023 in Kraft. Das zweite Kapitel der aktualisierten Horizontalleitlinien legt dabei die Bewertung von FuE-Vereinbarungen und damit die Anwendung der FuE-GVO fest.
Fazit: Wenig Verbesserung, dafür aber auch keine der befürchteten Zusatzvoraussetzungen aus dem ersten Kommissionsvorschlag enthalten
Insgesamt fallen die Änderungen in der neugefassten FuE-GVO und dem zweiten Kapitel der neuen Horizontalleitlinien deutlich weniger umfangreich aus als erwartet. Dass die augenscheinlichste Neuerung die überarbeitete Struktur der FuE-GVO darstellt, ist bezeichnend. Erfreulich ist es jedoch, dass die Kommission ihren zwischenzeitlichen Vorschlag, dass Unternehmen, die im Innovationswettbewerb stehen, drei oder mehr zusätzliche konkurrierende und vergleichbare FuE-Anstrengungen belegen müssen, damit die FuE-GVO Anwendung findet, nicht umgesetzt hat. Eine solche Änderung hätte die Anwendbarkeit und Praxisrelevanz der FuE-GVO erheblich beschränkt.
Vor dem Hintergrund der überschaubaren Änderungen wird jedoch abzuwarten sein, inwieweit die überarbeitete FuE-GVO in Zukunft zu mehr Rechtssicherheit führen wird.
Sie gilt für die nächsten zwölf Jahre, bis zum 30. Juni 2035. Die FuE-GVO sieht eine Übergangsfrist bis zum 30. Juni 2025 für Vereinbarungen vor, die bis zum 30. Juni 2023 abgeschlossen werden und nicht den Anforderungen der neuen FuE-GVO entsprechen, aber mit den bisher geltenden kartellrechtlichen Regelungen für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen in Einklang standen. Für alle ab dem 1. Juli 2023 abzuschließenden Kooperationsvereinbarungen im Bereich Forschung und Entwicklung gilt ausschließlich das neue Recht.