25. November 2011
Aussetzung equal pay Rechtsstreit
Kartellrecht

Kein Illinois Brick im deutschen Kartelldeliktsrecht? Zur Entscheidung des BGH im Fall Selbstdurchschreibepapierkartell

Seit dem 24.11.2011 liegt die Begründung des Urteils des BGH vom 28.06.2011, KZR 75/10Selbstdurchschreibepapierkartell vor. Am Tag der Urteilsverkündung hatte der BGH bereits in einer Pressemitteilung berichtet. In der Branche war gespannt auf die schriftliche Urteilsbegründung gewartet worden. Nun ist es soweit:

Anspruchsberechtigung des indirekt Geschädigten (offensives pass-on)

Der BGH bejaht die Anspruchsberechtigung von mittelbar durch ein Kartell Geschädigten. Die Entscheidung erging zum Rechtszustand vor der 7. GWB-Novelle 2005. Durch die 7. GWB-Novelle war eine eigene kartelldeliktsrechtliche Anspruchsgrundlage bei Verstößen gegen das EU-Kartellverbot geschaffen worden. Für diese neue Anspruchsgrundlage (§ 33 GWB) dürfte sich jedoch nichts Abweichendes ergeben. Der BGH setzt sich in den Entscheidungsgründen mit den klassischen Einwänden gegen die Anspruchsberechtigung von Teilnehmern entfernterer Marktstufen auseinander, nämlich mit

  • der Gefahr der mehrfachen Inanspruchnahme des Schädigers,
  • den Schwierigkeiten beim Beweis des (weitergewälzten) Schadens,
  • den zu geringen Klageanreizen für den indirekt Geschädigten und damit
  • der Beeinträchtigung der Effektivität der Rechtsdurchsetzung.

Mit all diesen Argumenten war auch der U.S. Supreme Court im Jahr 1977 in der Sache Illinois Brick Co. v. Illinois (431 US.720, 97 S.Ct. 2061, 52L.Ed. 2d 707 (1977)) befasst. Der U.S. Supreme Court entschied angesichts dieser Einwände genau umgekehrt: Nach der direct purchaser-Regel sind Klagen indirekt Geschädigter im US-(Bundes-)Kartellrecht daher grundsätzlich ausgeschlossen. Der BGH kommt nun zum entgegengesetzten Ergebnis. Allerdings lässt er Gesichtspunkte der Effektivität der Rechtsdurchsetzung nicht außer Acht. Ihnen soll durch die Darlegungs- und Beweislastverteilung Rechnung getragen werden. Die Darlegungs- und Beweislast für die Weiterwälzung eines Schadens auf den indirekt Geschädigten trifft diesen als Anspruchsteller.

Kompensation v. Prävention

In der Frage der Beachtlichkeit der Schadensweiterwälzung (sog. pass-on) treten die unterschiedlichen Auffassungen zu Sinn und Zweck der privaten Kartellrechtsdurchsetzung recht offen zu Tage. Nach der einen, eher traditionellen Auffassung diente der Schadensersatzanspruch bei Kartellrechtsverstößen  dem Ausgleich erlittener Schäden. Die mit der Existenz des Schadensersatzanspruchs einhergehende Präventionswirkung ist nur (erwünschte) Nebenfolge. Nach der anderen, ökonomisch geprägten Auffassung besteht der kartellrechtliche Schadensersatzanspruch deswegen, um die Abschreckungswirkung zu erhöhen. Die Kompensation ist nur Mittel zum Zweck. Nach dieser Auffassung kommt es dann nicht so sehr darauf an, wer durch ein Kartell geschädigt wird, sondern wer der effizienteste Kläger ist. Der BGH neigt – wie an mehreren Stellen der Entscheidung deutlich wird – eher der traditionellen Auffassung zu, ohne die Wirksamkeit der Durchsetzung ganz außer Acht zu lassen.

Darlegungs- und Beweislastverteilung

Der indirekt durch ein Kartell geschädigte Anspruchsteller trägt nach Auffassung des BGH die volle Darlegungs- und Beweislast dafür, dass und ggf. in welcher Höhe ein kartellbedingter Preisaufschlag durch die direkte Marktgegenseite des Kartells auf ihn abgewälzt wurde. Nach Auffassung des BGH wird ihm diese Last nicht durch eine Vermutung erleichtert, dass eine in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Kartell auftretende Preiserhöhung auf den nachgelagerten Märkten kausal auf das Kartell zurückgeht. Maßgeblich dafür, ob eine Schadensweiterwälzung erfolgt ist, sind die Umstände auf dem nachgelagerten Markt. Der BGH nennt einige Faktoren. Eine Auseinandersetzung mit dem von der Europäischen Kommission veröffentlichten Entwurf eines Leitfadens zur Quantifizierung des Schadens in Schadensersatzklagen wegen Verletzung des Art. 101 oder 102 AEUV von Juni 2011 (wir berichteten) erfolgt bedauerlicherweise nicht. Im konkreten Fall bestätigte der BGH allerdings die Feststellung des OLG, dass die kartellbedingte Preiserhöhung in vollem Umfang abgewälzt worden sei.

Schadensabwälzungseinwand zulässig (pass-on-Einwand)

Der BGH bejaht konsequenterweise die sog. pass-on defence, also den Einwand des in Anspruch genommenen Kartellanten, dass der Anspruchsteller den Schaden ganz oder teilweise auf die eigenen Abnehmer weitergewälzt habe. Auch insoweit entscheidet sich der BGH anders als vor ihm im Jahre 1968 der Supreme Court (Hanover Shoe, Inc. v. United Shoe Machinery Corp. 392 U.S. 481, 88 S.Ct. 224, 20 L.Ed. 2d 1231 (1968)).

Zwar tritt der kartellbedingte Schaden nach Auffassung des BGH mit dem Erwerb der Ware in Höhe der Differenz aus dem Kartellpreis und dem hypothetischen Wettbewerbspreis ein. Eine Schadensweiterwälzung ist jedoch nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen. Die Darlegungs- und Beweislast für eine Schadensweiterwälzung trägt in diesem Fall der sich hierauf berufene in Anspruch genommene Kartellant. Der Maßstab ist – nach der ausdrücklichen Feststellung des BGH – danach der gleiche wie bei der Klage des indirekten Abnehmers.

Auch wenn die Vorschrift für den BGH in dem zu entscheidenden Fall keine Bedeutung hatte, weil sie noch nicht galt, äußert sich der BGH auch zu § 33 Abs. 3 Satz 2 GWB in der Fassung der 7. GWB-Novelle 2005. Die Vorschrift betrifft den pass-on-Einwand. Der BGH bestätigt das bisherige Verständnis, dass der Gesetzgeber die Entscheidung darüber, ob der pass-on-Einwand zu akzeptieren ist, an die Rechtsprechung delegiert hat. Diese Delegation hat der BGH jetzt angenommen.

Leicht wird es für die in Anspruch Genommenen nicht, sich auf den Schadensweiterwälzungseinwand zu berufen. Der BGH will ihnen nur in Ausnahmefällen mit einer sekundären Darlegungslast des Anspruchstellers helfen. Vorrangig soll sich der in Anspruch Genommene – soweit möglich – mit einer Streitverkündung an denjenigen behelfen, auf den der Schaden weitergewälzt worden sein könnte.

Hinweise zur Schadensschätzung

Der BGH gibt schließlich einige Hinweise zur Schätzung von kartellrechtsbedingten Schäden nach § 287 Abs. 1 ZPO. Der OLG solle bei seiner erneuten Entscheidung nach dem zeitlichen Vergleichsmarktkonzept vorgehen können und die Differenz zwischen den Preisen bei Beendigung des Kartells und dem niedrigsten in dem Zeitraum von einem Jahr nach Beendigung des Kartells festgestellten Preis als Ausgangspunkt für die Schätzung wählen.

Fazit

Die Praxis wird zeigen müssen, ob der BGH wirklich anders entschieden hat als der U.S. Supreme Court oder ob sich wegen der Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast faktisch nicht dasselbe Ergebnis einstellt.

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