Der EuGH schafft mehr Rechtssicherheit im Bereich "Telemedizin". Er präzisiert den Begriff und stärkt das Herkunftslandprinzip.
Im Verfahren C-115/24 hat der EuGH am 11. September 2025 ein wegweisendes Urteil zur rechtlichen Einordnung von Telemedizin im europäischen Binnenmarkt gefällt.
Damit bringt er mehr Klarheit in die Regulierung grenzüberschreitender digitaler Behandlungen: Insbesondere stellt er erstmals klar, was unter „Gesundheitsversorgung im Fall der Telemedizin“ im Sinne der EU-Patientenmobilitätsrichtlinie (2011/24/EU) zu verstehen ist und welche Rechtsordnung für digitale Gesundheitsleistungen gilt.
Hintergrund: Zahnärztliche Kooperation als Prüfstein für Telemedizin
Der Fall betraf eine Kooperation zwischen einer österreichischen Zahnärztin und einer deutschen Zahnklinik, die gemeinsam Zahnkorrekturen mittels Alignern (Zahnschienen) durchführten.
Die Behandlung erfolgte dabei teils digital, teils vor Ort: Die Zahnärztin führte in Österreich in ihrer Praxis Voruntersuchungen und Scans durch; die deutsche Klinik entwickelte auf dieser Basis digitale Behandlungspläne und lieferte die Aligner-Schienen an die Patienten.
Der Behandlungsvertrag wurde ausschließlich zwischen den Patienten und der Zahnklinik geschlossen und umfasste sämtliche Leistungen im Zusammenhang mit der Zahnkorrektur. Die Zahnklinik stand wiederum in einem Vertragsverhältnis mit der österreichischen Partnerzahnärztin und vergütete ihr die im Rahmen der jeweiligen Behandlung erbrachten Leistungen.
Die österreichische Zahnärztekammer sah in diesem grenzüberschreitenden Kooperationsmodell einen Verstoß gegen nationales Berufsrecht. Sie argumentierte, dass Zahnärztinnen und Zahnärzte in Österreich nicht an zahnärztlichen Tätigkeiten mitwirken dürften, die in Österreich durch ausländische Gesellschaften erbracht werden, welche nicht über die nach österreichischem Recht erforderlichen Genehmigungen verfügen. Der Streitfall gelangte schließlich vor den EuGH.
Telemedizin: vollständig digitale Leistung ohne physische Präsenz
Kern der ersten Vorlagefrage war die Definition von „Gesundheitsversorgung im Fall der Telemedizin“ im Sinne des Art. 3 Buchst. d der Patientenmobilitätsrichtlinie. Der Oberste Gerichtshof (Österreich) wollte wissen, ob die Zahnärztin überhaupt an zahnärztlichen Tätigkeiten mitwirkt, die in Österreich durch ausländische Gesellschaften erbracht werden. Es stellte sich also die Frage, ob auch komplexe medizinische Behandlungen, bei denen neben digitalen Elementen physische Behandlungsschritte im Heimatland des Patienten erfolgen, als telemedizinische Gesundheitsversorgung gelten.
Der EuGH verneint dies und gibt erstmals eine Definition von Telemedizin:
[…] unter den Begriff der im Fall der Telemedizin erbrachten Gesundheitsversorgung im Sinne dieser Bestimmung [fallen] nur Gesundheitsdienstleistungen […], die gegenüber einem Patienten durch einen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Versicherungsmitgliedstaat dieses Patienten ansässigen Gesundheitsdienstleister im Fernabsatz und somit ohne gleichzeitige physische Anwesenheit des Patienten und dieses Dienstleisters am selben Ort ausschließlich mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien erbracht werden.
Dahinter steht insbesondere die Erwägung, dass Art. 3 Buchst. d der Patientenmobilitätsrichtlinie den Behandlungsmitgliedstaat ausdrücklich als den Staat definiert, in dem die Gesundheitsversorgung tatsächlich erbracht wird. Bei Telemedizin gilt die Leistung als in dem Staat erbracht, in dem der Dienstleister ansässig ist.
Telemedizin liegt also nur vor, wenn der Gesundheitsdienstleister seine Leistung ausschließlich aus der Ferne erbringt, ohne persönliches Aufeinandertreffen mit dem Patienten. Teilweise physische Untersuchungen oder Beratungen vor Ort führen dazu, dass die Gesamtbehandlung nicht als Telemedizin eingestuft wird.
Der Gerichtshof stellt damit nicht auf die technische Unterstützung einer Leistung ab, sondern auf ihre vollständige Virtualität.
Der EuGH betont weiter, dass diese Definition nicht auf Kostenerstattungsfragen im Sinne von Art. 7 der Patientenmobilitätsrichtlinie beschränkt ist, sondern für sämtliche Anwendungsbereiche der Richtlinie gilt.
Damit schafft das Urteil eine einheitliche Auslegung im gesamten europäischen Rechtsraum.
Anwendbares Recht: Stärkung des Herkunftslandprinzips
Zur Frage des anwendbaren Rechts urteilt der EuGH:
Für echte Telemedizin – also rein digitale Leistungen – gilt das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Anbieter niedergelassen ist.
Grenzüberschreitende telemedizinische Leistungen unterliegen demnach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem der Gesundheitsdienstleister ansässig ist und nicht denen des Patientenwohnorts. Ein klares Bekenntnis zum Herkunftslandprinzip.
Umgang mit hybriden Modellen
In Bezug auf gemischte, hybride Behandlungskonzepte stellt der Gerichtshof klar, dass es nicht auf ein Überwiegen der einen oder anderen Komponente ankommt.
Vielmehr können einzelne Leistungsbestandteile getrennt betrachtet werden, sofern sie sich inhaltlich abgrenzen lassen. In solchen hybriden Modellen kann etwa die physische Vor-Ort-Tätigkeit, also beispielsweise die Untersuchung durch den lokalen Arzt, dem Recht des betreffenden Behandlungsstaates unterfallen, während die digital erbrachte Fernbehandlung durch den ausländischen Anbieter dem Recht seines Herkunftsstaates unterliegt. Diese getrennte Betrachtung ist auch dann möglich, wenn ein einheitlicher Behandlungsvertrag vorliegt.
Praktisch bedeutet das: Im zugrundeliegenden Fall war die Zahnkorrektur nach Auffassung des EuGH als Behandlung komplexer Art anzusehen, weil sie mehrere Gesundheitsdienstleistungen umfasste, die zwar denselben therapeutischen Zweck hatten, aber nicht so weit integriert waren, dass sie eine einheitliche Gesamtdienstleistung bildeten.
Deshalb musste die österreichische Zahnärztin österreichisches Berufsrecht einhalten, während die digitale Planerstellung und Betreuung durch den deutschen Anbieter nach deutschem Recht beurteilt wurde. Eine telemedizinische Leistung im Sinne des EU-Rechts lag insoweit nur in Bezug auf den vollständig digitalen Teil der Behandlung vor.
Keine Anwendung der Berufsqualifikationsrichtlinie
Eng mit dem Herkunftslandprinzip verknüpft ist die Frage nach der Anwendbarkeit der Berufsqualifikationsrichtlinie (2005/36/EG). Grundsätzlich gilt: Begibt sich ein Angehöriger* eines reglementierten Berufs zur vorübergehenden Berufsausübung in einen anderen EU-Mitgliedstaat, unterliegt er dort den einschlägigen Berufsregeln des Aufnahmestaats, Art. 5 der Berufsqualifikationsrichtlinie. Diese Vorschriften dienen dem Patientenschutz.
Der EuGH stellt nun klar, dass Art. 5 Abs. 2 der Berufsqualifikationsrichtlinie nur dann Anwendung findet, wenn sich der Dienstleister tatsächlich physisch in den Aufnahmemitgliedstaat begibt, um dort seinen Beruf vorübergehend und gelegentlich auszuüben.
Rein virtuelle Leistungsangebote erfüllen dieses Kriterium nicht: Ein Dienstleister „begibt“ sich nicht in einen anderen Mitgliedstaat, wenn ausschließlich die Dienstleistung, nicht aber die Person des Leistungserbringers die Grenze überschreitet.
Ebenso wenig „begibt“ sich ein Gesundheitsdienstleister in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, wenn er dort, auf Grundlage eines Vertrags, „über“ einen lokalen Partner, der im unmittelbaren Kontakt mit dem Patienten steht, medizinische Leistungen erbringt. Eine solche Auslegung wäre „lebensfremd“, so der EuGH.
Mit dieser Auslegung stellt der Gerichtshof klar, dass Mitgliedstaaten nicht über das Berufsrecht indirekt Schranken für grenzüberschreitende Telemedizin errichten dürfen.
Auswirkungen auf Praxis und Markt
Mit dem vorliegenden Urteil schafft der EuGH ein Mehr an Rechtssicherheit für digitale Gesundheitsleistungen im Binnenmarkt. Durch das Bekenntnis zum Herkunftslandprinzip können Anbieter von Telemedizin ihre Services nun deutlich freier grenzüberschreitend anbieten, ohne befürchten zu müssen, unerwartet dem fremden nationalen Berufsrecht zu unterliegen.
Insbesondere innovative Kooperationen zwischen ausländischen Telemedizin-Anbietern und lokalen Partnerärzten lassen sich damit leichter ausgestalten.
Für die Healthcare-Branche liefert das Urteil einen spürbaren Impuls: Digitale Versorgungsangebote können innerhalb der EU einfacher skaliert werden. Patienten erleichtert das den Zugang zu spezialisierten Leistungen im Ausland.
Gleichzeitig bleiben aber die nationalen Spielregeln zu beachten. So unterliegen inländische Anbieter weiterhin den jeweils geltenden Beschränkungen ihres Heimatmarkts, etwa den deutschen Regelungen zur Telemedizin, die nach wie vor relativ strikt sind. Deshalb könnten Mitgliedstaaten mit liberaleren Telemedizin-Regeln für Digital-Health-Unternehmen jetzt noch attraktiver werden.
* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.