15. Dezember 2021
Erschließungsbeitrag Erhebung Straßenbau
Real Estate

Keine unbefristete Erhebung von Erschließungsbeiträgen

Erschließungsbeiträge für Infrastruktur können nur zeitlich begrenzt erhoben werden. Das BVerfG verwarf eine Norm in Rheinland-Pfalz als verfassungswidrig.

Die zeitlich unbegrenzte Belastung von Grundstückseigentümern* mit Erschließungsbeiträgen nach Eintritt der sog. Vorteilslage – hier die Fertigstellung einer Straße betreffend – hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschluss vom 3. November 2021 – BvL 1/19) als verfassungswidrig qualifiziert.

Der 1. Senat beanstandete eine entsprechende Vorschrift im Landesrecht von Rheinland-Pfalz, da diese gegen die Grundsätze der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit gem. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verstoße. Der Gesetzgeber muss bis Ende Juli 2022 eine verfassungskonforme Neuregelung treffen. 

Grundstückseigentümer sollte nach über 25 Jahren Erschließungsbeiträge für Straßenbau zahlen

Ein Grundstückeigentümer aus Rheinland-Pfalz wurde von der Stadt nach über 25 Jahren per Bescheid aufgefordert, Erschließungsbeiträge i.H.v. mehr als EUR 70.000 zu zahlen. Erschließungsbeiträge entstehen immer dann, wenn neue Baugebiete an die öffentliche Infrastruktur angeschlossen werden oder bei bestehenden Gebieten die vorhandene Infrastruktur nachgebessert wird. Dazu zählt der Anschluss an die Leitungen für Wasser, Abwasser, Gas, Strom, ggf. Fernwärme, Telekommunikation und das öffentliche Straßennetz samt Beleuchtung. Die Kosten für diese sog. Erschließung werden durch die Kommunen durch entsprechende Beiträge auf die Grundstückseigentümer umgelegt. Rechtsgrundlage sind die §§ 127 ff. BauGB.

Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist Eigentümer mehrerer Grundstücke in einem Gewerbegebiet in Rheinland-Pfalz. Er wendete sich gegen die Erhebung von Erschließungsbeiträgen für die Herstellung einer Straße, an die seine Grundstücke schon im Jahre 1986 angebunden worden sind. In voller Länge hergestellt und öffentlich als Gemeindestraße gewidmet wurde die Straße jedoch erst im Jahre 2007. Nach der Widmung setzte die Stadt die Erschließungsbeiträge fest. Die durch den Eigentümer angefochtenen finalen Bescheide, nach denen er zur Zahlung der Erschließung i.H.v. über EUR 70.000 verpflichtet sein soll, stammen aus dem Jahr 2011. 

Rechtslage in Rheinland-Pfalz: Tatsächliche Vorteilslage des Eigentümers und die Beitragserhebung können zeitlich weit auseinanderfallen

Die Entstehung der Erschließungsbeitragspflicht richtet sich nach § 127 ff. BauGB, die Verjährung dagegen nach landesrechtlichen Bestimmungen. Die Landesvorschrift des § 3 Abs. 1 Nr. 4 Kommunalabgabengesetz des Landes Rheinland-Pfalz (kurz: KAG RP) bestimmt, dass der Anspruch auf Erhebung von Erschließungsbeiträgen nicht an den Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage anknüpft. Die Vorteilslage entsteht immer dann, wenn die technische Fertigstellung der Erschließungsanlage erfolgt und dies für den betroffenen Grundstückseigentümer auch erkennbar ist. Die landesrechtlichen Vorschriften lassen den Anspruch auf den Erschließungsbeitrag dagegen erst dann entstehen, wenn die Erschließungsanlage – hier die Straße – fertiggestellt und zudem ihrem öffentlich-rechtlichen Zweck gewidmet wurde. Ab diesem Zeitpunkt besteht der Festsetzungsanspruch, der einer Verjährungsfrist von vier Jahren unterliegt. 

Demzufolge kann der Erschließungsbeitrag bis zu vier Jahre nach Fertigstellung und Widmung der Erschließungsanlage erhoben werden. Dies führt in Rheinland-Pfalz und anderen Bundesländern mit vergleichbaren landesrechtlichen Regelungen dazu, dass die tatsächliche Vorteilslage des Eigentümers und die Beitragserhebung zeitlich weit auseinanderfallen können. 

Das Bundesverwaltungsgericht ruft das Bundesverfassungsgericht an

Auf die Revision des Klägers setzte das BVerwG das Verfahren aus und legte dem BVerfG die Frage zur Entscheidung im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens vor, ob die entscheidungsrelevanten Normen des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP i.V.m. § 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und § 170 Abs. 1 der Abgabenordnung (kurz: AO) verfassungskonform seien. 

BVerfG: Verstoß gegen das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit

Den Karlsruher Richtern zufolge verstößt die landesrechtliche Vorschrift gegen das Rechtsstaatprinzip in Gestalt des Grundsatzes der Rechtssicherheit und des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit aus Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG

Grundstückseigentümer dürfen nach der Fertigstellung einer Straße oder einer anderen Anlage nur für begrenzte Zeit an den Baukosten für die Erschließung beteiligt werden. Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit soll die betroffenen Grundstückseigentümer davor schützen, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können. Die Beitragspflichtigen sollen nicht dauerhaft darüber im Unklaren gelassen werden, ob sie noch mit Belastungen rechnen müssen oder frei von Forderungen sind. Daher muss der Zeitpunkt, in dem der abzugeltende Vorteil für den jeweiligen Grundstückseigentümer entsteht, für den Betroffenen objektiv erkennbar sein. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn der Begriff der Vorteilslage an rein tatsächliche und nicht an rechtliche Entstehungsvoraussetzungen für die Beitragsschuld geknüpft wird. 

Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit erstreckt sich auf alle Abgaben zum Vorteilsausgleich. Ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG liegt in allen Fällen vor, in denen die abzugeltende tatsächliche Vorteilslage in der Sache schon eingetreten ist, die daran anknüpfenden Beitragsansprüche aber wegen des Fehlens sonstiger rechtlicher Voraussetzungen – wie vorliegend der Widmung – nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren können. § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP gestattet entgegen diesen Grundsätzen in allen Fällen, in denen die mit Erschließungsbeiträgen abzugeltende tatsächliche Vorteilslage bereits eingetreten ist, aber noch nicht alle übrigen Voraussetzungen für das Entstehen der Beitragspflicht kumulativ vorliegen, die Festsetzung von Erschließungsbeiträgen ohne zeitliche Begrenzung. Denn der Beginn der Festsetzungsfrist hängt von der Entstehung der sachlichen Beitragspflicht ab. Ihr Beginn ist somit zeitlich unabhängig von dem tatsächlichen Eintritt der Vorteilslage, der zeitlich sehr weit zurückliegen kann. Die Regelung des KAG RP verschiebt auf diese Weise den Verjährungsbeginn ohne zeitliche Obergrenze nach hinten und ermöglicht die zeitlich unbegrenzte Festsetzung von Erschließungsbeiträgen. Dies wird den Anforderungen an das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit dem BVerfG zufolge nicht gerecht.

Aus anderen landesrechtlichen oder bundesrechtlichen Vorschriften lasse sich dem BVerfG zufolge ebenfalls keine zeitliche Begrenzung herleiten und auch der Grundsatz von Treu und Glauben sei nicht geeignet, um den Beitragspflichtigen Klarheit über Beginn und Dauer der Festsetzungsverjährung bei Erschließungsbeiträgen zu verschaffen. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, vorliegend für Klarheit zu sorgen und die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und der Betroffenen an Rechtssicherheit durch die entsprechende Gestaltung von landesrechtlichen Verjährungsbestimmungen zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP werde diesen Maßstäben nicht gerecht und sei daher mit dem Grundgesetz unvereinbar.

Keine konkrete zeitliche Höchstgrenze genannt

Der erste Senat des BVerfG gab jedoch keine zeitliche Höchstgrenze vor, sondern betonte, dass der Gesetzgeber diesbezüglich einen weiten Gestaltungsspielraum habe. 

Eine Frist von 30 Jahren sei aber eindeutig zu lang. Das Gericht nahm in seiner Entscheidung Bezug auf die Vorschriften anderer Bundesländer, insbesondere Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, die sich überwiegend für Fristlängen von 10 bis 20 Jahren entschieden haben. In anderen Bundesländern bestehen dagegen keine vergleichbaren Regelungen.

Anwendungssperre des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP 

Die Entscheidung des BVerfG hat eine Anwendungssperre des § 3 Abs. 1 Nr. 4 KAG RP zur Folge. Gerichte und Verwaltungsbehörden dürfen die Norm im Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit nicht mehr anwenden, laufende Verfahren sind auszusetzen. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine auf den gesamten von der Unvereinbarkeitserklärung betroffenen Zeitraum rückwirkende, verfassungsgemäße Rechtslage herzustellen. Diese Regelung muss alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen erfassen, die auf der für verfassungswidrig erklärten Regelung beruhen. 

Verstärkte Beachtung des Zeitraums zwischen Vorteilserlangung und Beitragsfestsetzung empfehlenswert

Von der Änderung profitieren alle Grundstückseigentümer in Rheinland-Pfalz, deren Bescheide über Erschließungsbeiträge noch nicht bestandskräftig sind und bei denen der Eintritt der Vorteilslage einen erheblichen Zeitraum zurückliegt. Denn je weiter der Zeitpunkt der Vorteilserlangung im Rahmen der Beitragserhebung zurückliegt, desto mehr schwindet die Legitimation zur Erhebung des Erschließungsbeitrags.

Daher gilt es in der Praxis bei Erschließungsbeiträgen nun noch verstärkter auf den Zeitpunkt der Festsetzung zu achten und diesen in Relation zum Zeitpunkt des Eintritts der tatsächlichen Nutzbarkeit des Vorteils zu setzen. Hier sollten die Anforderungen an das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit besonders zur gestellten Forderung ins Verhältnis gesetzt werden.

Da der § 3 Abs. 1 Nr. 4 des Kommunalabgabengesetzes Rheinland-Pfalz nicht mehr angewendet werden darf und die laufenden Verfahren auszusetzen sind, ist bei Adressaten eines Erschließungsbeitragsbescheids aus Rheinland-Pfalz darauf zu achten, ob der Bescheid auf dieser Grundlage ergangen ist oder aber auch in Zukunft noch ergeht, was zur Anfechtbarkeit der jeweiligen Beitragsforderung führt. Inwieweit das Urteil möglicherweise auf andere Bundesländer übertragbar ist, hängt von den jeweils geltenden landesrechtlichen Bestimmungen ab, die hier durchaus erheblich voneinander abweichen. 

*Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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